Abdrift der Demokratie

Die „Demokratie im Nahen und Mittleren Osten“ sei „weit davon entfernt, ein Allheilmittel zur Rettung einer volatilen Region vor ihr selber“ zu sein, schrieb der israelische Politologe Yoav Fromer jüngst in der „Washington Post“, sie habe dort „unerwünschte Wirkungen mit zerstörerischen Folgen“ gezeitigt. Fromer zählt zu den Ländern mit „unerwünschten Wirkungen“ der Demokratie den Iran, den Gaza-Streifen (Achtung: er spricht von ihm als „Land“!), die Türkei, den Libanon, den Irak und ... Israel, letzteres mit dem (grundsätzlich zustimmungswürdigen) Vermerk, dass Israel, trotz aller gültigen Gegenargumente, die einzige funktionierende liberale Demokratie im Nahen Osten sei.

Die Feststellung Fromers gilt auch für Osteuropa, speziell für Rumänien, Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei. Oder glaubt jemand, dass Rumäniens straffälliger, seine Konturen absteckender Diktator Daddy Dragnea sich rein zufällig am innenpolitischen Agieren des Illiberalen Recep T. Erdogan orientiert? Oder dass sich Viktor Orbán zufällig Putin und Netanyahu zu Alliierten erkor? À propos Dragnea: Der Autor dieser Zeilen wäre heilfroh, wenn er sich öfter – wie vergangene Woche – in der Prognose des Reagierens von Behörden in heiklen Fragen irren würde. Dragnea ist, entgegen meinem Tipp auf Freispruch, in erster Instanz zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden – trotzdem glaube ich nicht, dass er die absitzen wird... Denn (s)eine feste Burg sind diese PSD und ihre ignorante, manipulierbare Anhängerschaft! Illiberalität ist auch Missbrauch von Mehrheiten, um Demokratie zu untergraben.

Einen primitiven illiberalen Manipulationsversuch starteten mehrere PSD-Kreisfilialen durch die dümmliche Umdeutung der Buhrufe und Pfiffe für die Bukarester Oberbürgermeisterin Gabi Firea, die kitschprotzig und rudimentär versuchte, den Abglanz des Ruhms der frisch gekrönten Roland-Garros-Siegerin Simona Halep auf sich zu fokussieren. Im Kontext der „Charlie Hebdo“-Karikatur der Halep war das die Gelegenheit zur illiberalen Deutung: „Rumäne“ wird im europäischen Westen mit „Roma“, „Zigeuner“, „Underdog“, oder „Alteisensammler“ assoziiert. Schon das grundsätzliche Aufbäumen aller Frustrierten gegen eine Karikatur war eine Reaktion, die illiberal ist. Der PSD-Versuch, mit (erfreulicherweise gefloppten) Fake-news-Methoden das Beugen des Vorfalls in „Pfiffe für Halep“ – oder gar in illiberale Pfiffe für den liberalen Westen Macron`scher Prägung zu verwandeln, misslang.

Illiberalismus ist in geringerem Maß eine ideologische Entgleisung als ein reaktiver Geisteszustand einer Führungsclique, der zur Normalität erklärt wird. Das inkludiert jede Menge Stereotypen und Vorurteile. Je absurder, umso genehmer, je simpler, umso breitenwirksamer. In einer wirklichen Demokratie haben wir in diesem Land nie leben dürfen. Jetzt müssen wir uns von ihren zaghaften Anfängen verabschieden – wenn wir weiter zu den Vorgängen in diesem Land schweigen. Fehlende Realdemokratie lässt ihr Gegenteil wuchern, die Illiberalität. Diktaturen unqualifizierter Mehrheiten. Wie in Goyas „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“.

Rumänien hatte nie die Chance, Realdemokratie zu leben. Über die vielgepriesene Zwischenkriegszeit schreibt der rumänisch-französische Politologe Mattei Dogan (1920-2010) bereits 1946: „Man kann nicht behaupten und argumentieren, dass es zwischen den zwei Weltkriegen in Rumänien ein authentisches demokratisches Regime gab.“ Heute erleben wir den Missbrauch der parlamentarischen Demokratie durch demokratisch gewählte Mehrheiten, mittels derer die Verfassung, die Gesetzgebung und die geltenden Gesetze vergewaltigt werden. Wen wundert so etwas noch, nach vier Generationen, die ausschließlich Diktaturen erleben konnten?
Schon deshalb bleibt als Alternative: sich wehren!