Als es Nacht wurde in der Maramuresch

Erinnerungen an die fast vergessene jüdische Gemeinschaft im Norden Rumäniens

Gäste aus Israel und Maramurescher in Tracht auf dem Gedenkmarsch für Elie Wiesel

Das Museums-Cafe „Elefant“ im Bahnhof der Wassertalbahn erinnert an die Juden von Oberwischau

Plan des jüdischen Ghettos in Sighet (Elie-Wiesel-Museum)

Romantisch und ziemlich verlassen: Synagoge in Baia Mare

Prachtvolles jüdisches Kulturerbe: der Tempel „Vijniţer Klaus“ in Sighetul Marmaţiei (1885)
Fotos: George Dumitriu

Vor dem ersten Weltkrieg gehörte die Maramuresch zu Österreich-Ungarn, danach wurde sie zwischen Rumänien und der Tschechoslowakei aufgeteilt, 1940, im Zweiten Weltkrieg, war sie von Ungarn besetzt - es war ein großes Gezerre um diesen Landstrich, schreibt Rudolph Tessler in seinem Buch „Letter to My Children“ (Brief an meine Kinder). „Meine Familie war Teil einer blühenden, spirituell reichen jüdischen Kultur“, fährt der 1926 geborene Oberwischauer fort. Fast zwei Jahrhunderte lang hatte man berühmte Rabbis in den lokalen Synagogen, viele gingen in die Welt hinaus, wurden bedeutende spirituelle Führer.

Weil die meisten Juden in der Maramuresch des 18. Jahrhunderts arm und ungebildet waren, von Subsistenzwirtschaft lebten und das religiöse Leben vernachlässigten, hatte der Gründer der streng orthodoxen chassidischen Strömung, Baal Shem Tov, um 1750 drei Berater entsandt, die das Leben in Oberwischau/Vişeu de Sus und Umgebung spirituell auf Vordermann bringen sollten. Man nannte sie Fruchter, Stern und Adler. Die maramurescher Juden wurden infolgedessen fromme Chassidim, von denen die Lehre verlangte, Gott zu preisen und nichts zu hinterfragen. Auf den Dörfern wuchsen hölzerne Synagogen und religiöse Schulen (Jeschiwas) empor, weltliche Erziehung hingegen wurde als nutzlos erachtet. Eine besondere Ehre war, wenn mindestens einer der Söhne einer Familie den Talmud studierte. Dann musste die Frau des Gelehrten für den Lebensunterhalt sorgen. „Ich bin ein Nachfahre von Fruchter“, bekennt Tessler, dessen Buch viel über die Lebensweise der Juden in der Maramuresch verrät. Auch wenn es einem ganz anderen Zweck dienen sollte: Seinen Kindern das Unfassbare nahezubringen - das, worüber er nie sprechen konnte.

„Mein Großvater starb im Mai 1944. Mit 82 wurde er nach Auschwitz deportiert und in der Gaskammer ermordet. Am selben Tag meine Mutter, sie war 43, und sechs meiner jüngeren Geschwister, vier bis 14 Jahre alt.“ Rudolph, der damals noch Naftali hieß, war einer der geschätzten 10.000 Überlebenden der insgesamt 130.000 aus der Maramuresch, Sathmar und dem nördlichen Kreischgebiet (alle damals zu Ungarn gehörig) in die Vernichtungslager deportierten Juden.

Multikulturelles Oberwischau

„In meiner Stadt, Oberwischau, gab es ein Drittel Rumänen, ein Drittel Deutsche (Anm.: Zipser), ein Drittel Juden und wenige Ungarn“, berichtet Tessler weiter. „An staatlichen Feiertagen erschienen der katholische Pfarrer und der Rabbi gemeinsam in der Öffentlichkeit.“ Die Volkszählung von 1930 ergab, dass in Oberwischau damals 3734 Juden lebten, 1948 waren es nur noch 387, 1992 ganze zwei. Heute gibt es keinen einzigen Juden mehr im ganzen Wassertal.

Doch die Erinnerung lebt weiter, wenn auch bruchstückhaft: Im Bahnhof der Wassertalbahn informiert ein kleines „Museum“ - ein Ausstellungsraum im Touristencafe „Elefant“ – über die ehemalige jüdische Gemeinschaft. Es ist ein Projekt des Schweizer Fotografen Michael Schneeberger, der sich in den 90er Jahren im Aufbau der touristischen dampflokbetriebenen Schmalspurbahn mit engangiert hatte. Bei seinen sporadischen Aufenthalten lernte dieser den letzten Juden in Oberwischau kennen, Mendel Friedmann, und erkannte - hier ist eine Kultur am Verschwinden, erzählt Daniel Andreica von der Wassertal-bahn. Mit Friedmanns Hilfe gelingt es, ein Stück verlorene  Geschichte zu rekonstruieren. 2007 entschloss sich Schneeberger, ein Museum für die Juden von Oberwischau einzurichten und kaufte ein altes Holzhaus, das Alexander Elefant gehört hatte, einem ausgewanderten Überlebenden des Holocaust. Er war der erste im Wassertal gewesen, der in der Stadt eine Fabrik zur Holzbearbeitung gegründet hatte, erklärt Andreica.

Nachforschungen führten Schneeberger bis nach Israel. Doch auch die Zipser, deren Dialekt dem Jiddischen sehr nahe kommt, konnten noch einiges ezählen. Schmunzelnd erinnert sich Andreica an einen Besucher aus dem heiligen Land, der einen Zipser erstaunt fragte, woher er Jiddisch könne. Als sich der Schweizer  schließlich anderen Projekten zuwandte, führte Andreica die Nachforschungen weiter, korrespondierte mit ausgewanderten Oberwischauer Juden, studierte das Archiv von Friedmann, das ihm dieser hinterlassen hatte. Im   Internet entdeckte er das Büchlein von Rudolph Tessler und empfiehlt uns schließlich, nach Sighet zu fahren, wollten wir mehr über die Geschichte der Juden in der Maramuresch erfahren... 

Stockdunkle Nacht in Sighetul Marmaţiei

An der Tür der Synagoge lädt ein Plakat zum nächtlichen Gedenkmarsch für Elie Wiesel ein. Der wohl berühmteste Jude Rumäniens, Friedensnobelpreisträger 1986, stammt aus dieser Stadt, in der 1930 noch 10.154 Juden lebten; 34.053 waren es in der ganzen Maramuresch. Im Rathaus wird an jenem 30. September eine hochrangige Delegation aus Israel empfangen. Abwechselnd lesen sie in verschiedenen Sprachen aus dem Buch, auf dem das Lebenswerk Wiesels aufbaut: „Nacht“. Sein Manuskript, zuerst unter dem Titel „Und die Welt schwieg“ verfasst, auf Jiddisch, dann in Französisch und Englisch übersetzt, fand anfangs trotz der Empfehlung des Schriftstellers Francois Mauriac lange keinen Verleger. Wer würde so etwas Schreckliches lesen, lauteten die Bedenken. In der Tat verkaufte es sich anfangs schlecht. Die Welt wollte vergessen - allen voran die Überlebenden und jene, die Opfer zu beklagen hatten. So mancher Rabbi kritisierte, es sei sinnlos, den Kindern die Tragödie der jüdischen Vergangenheit aufzubürden. Doch „Schweigen ermutigt den Quäler, niemals den den Gequälten“, sagt Wiesel in seiner Rede 1986 in Stockholm.

Heute ist „Nacht“ Pflichtlektüre an allen amerikanischen Schulen. Hautnah schildert der Autor von über 50 weiteren Büchern seine Erfahrungen als 15-Jähriger in den Vernichtungslagern von Auschwitz und Birkenau, wo er Eltern und Schwester verlor.

Vergangenheitsbewältigung gewinnt auch in Rumänien zunehmend an Bedeutung: Im Gedenkhaus Elie Wiesel  kann man sich  über das Leben des 1928 geborenen Nobelpreisträgers, über die lokale jüdische Gemeinschaft von einst und die 1940 von der ungarischen Horthy-Administration durchgeführten Ghetto-Bildung und Deportationen informieren. „Vor allem Schülergruppen besuchen uns“, erzählt die Museumsführerin. Spielerisch erfahren die Kleinen anhand erdachter Figuren – „das Schlomole oder das Sarahle“ - vom einstigen jüdischen Alltag, bis hin zur Konfrontation ihrer liebgewordenen Phantasiefreunde mit den Schrecken des Holocaust.

Parade der Geister

Rudolph Tessler findet eine ungewöhnliche Erklärung dafür, dass Rumänien als einziges Nazi-besetztes Land Ost-europas seine Juden nicht in Vernichtungslager sandte, denn die Maramuresch, Sathmar und das nördliche Kreischgebiet, von wo aus die Deportationen stattfanden, waren von den Ungarn besetzt. „Ironischerweise war die durchgängige Korruption in Rumänien direkt mit dem Fehlen von Antisemitismus verknüpft“, schreibt er und erklärt, warum die Sicherheit eines Juden in einer Region proportional mit dem Ausmaß der dortigen Korruption stieg. „Rumänien war der Ort, wo jeder wusste, an wen und wieviel er zahlen musste.“

Tessler erzählt auch, wie begüterte Juden Verantwortung für die Gemeinschaft übernahmen, wobei seitens des Leiters – in Oberwischau war dies seinVater – streng darauf geachtet wurde, dass niemand erfuhr, wer wieviel zahlte und an wen unter den Bedürftigen das Geld ging. Üblich war auch das Einsammeln von Abgaben für die Bezahlung von Rabbis, Richter, Lehrern und rituellen Schlachtern von den Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft.

Eine Statistik im Elie Wiesel-Gedenkhaus informiert über die Verbreitung der Juden in der Maramuresch von 1910 bis 1992 über 59 Dörfer und Städte, die meisten in Sighet, Oberwischau und Borsa. Blütezeit was das Jahr 1930 mit 34.053 Juden, 1992 waren es nur noch 48. Von einst unzähligen Synagogen gibt es heute noch zwei, in Sighet und Baia Mare. Die Auswanderung nach Israel zur Zeit des Kommunismus fiel den Maramurescher Juden besonders schwer, erläutert Tessler weiter. Die stark religiös geprägten Chassidim identifizierten sich nicht mit den wenig spirituellen Zionisten.

Der Gedenkmarsch nähert sich dem Bahnhof, der für diesen Tag den Namen „Elie Wiesel“ trägt. Elektrische Kerzen tanzen durch die Nacht. Etwa tausend Menschen folgen dem Weg der einst zur Deportation Bestimmten . Lichter werden der Gleisstrecke entlang angezündet. Hier fuhren vom 16.-22. Mai 1944 in vier Zügen 12.745 Menschen ins Ungewisse, die meisten in den Tod. „Ich sehe Feuer, Juden, schaut, die Flammen!“ schrie eine verrückt Gewordene tagelang unterwegs, man musste sie fesseln und knebeln, schreibt Elie Wiesel in „Nacht“. Dann Stacheldraht, der Zug hält im Lager. „Diesmal sahen wir die Flammen, die sich aus einem riesigen Schlot in den schwarzen Himmel erhoben. In der Luft der Geruch von verbranntem Fleisch“.

Im Gedenkhaus wird er auf einer Tafel zitiert: „Ja, ich würde gerne für ein letztes Mal nach Sighet zurückkehren. Um hier meine letzten Seiten zu schreiben. Um dort zum letzten Male meine Nächte, die mit und die ohne Träume, in Erinnerung zu rufen, meine abendlichen Spaziergänge, meine Streifzüge, meine verbotenen Leidenschaften, meine kindischen Ambitionen, ich würde dort gerne meine vergessenen Gebete rezitieren. Ich möchte noch einmal bei mir zu Hause am Fenster stehen, stillschweigend die trübseligen Bauern, die ironischen Gelehrten vorüberziehen sehen, wie gerne würde ich diese stumme Parade der Geister verfolgen.“