Antisemitische Zündstoffe der Orthodoxie

Internationale Konferenz in Hermannstadt hält Mehrheitskirche Rumäniens Spiegel vor

„Orthodoxe Geistliche saßen als politische Häftlinge in kommunistischen Gefängnissen Rumäniens ein, doch werden ihre Haftgründe nicht gerne preisgegeben. Im Falle des griechisch-katholischen Bischofs Iuliu Hossu jedoch ist das Motiv bekannt: der Glaube!“, so Geschichtsforscher Dr. Ionut-Florin Biliuta (links) in Hermannstadt. Marian Patru (Mitte) und Dr. Alina Gabriela Patru (rechts) hören aufmerksam zu. Foto: der Verfasser

Friede, Freude, Eierkuchen – eine Losung, deren soziale Erdung im Europa des 21. Jahrhunderts erste Rostschäden zeitigt. Letztere sind oftmals unter der Oberfläche des Reliefs verborgen und erlauben Kirchenmännern noch etwas Schlichtungsspielraum. Die Christenheit hat das Lächeln nicht verlernt, steht jedoch unter Beschuss hauseigener Ideenströme. Migration ist ein konfliktgeladenes Wort. Zwar wird der Wille nach Bewältigung der Flüchtlings-Anstürme regelmäßig bekräftigt, doch scheinen die Hindernisse sperriger Kommunikation unüberwindbar. Die Achse Deutschland-Italien spricht Bände. Hier auf dem Mittelmeer die Hilfsbereitschaft von Schiffskapitänen, dort die Fremdenfeindlichkeit des stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini im Küstenstaat Italien.

Im geschundenen Miteinander von Nord und Süd läuft ordentlich viel schief. Ein delikater Nährboden auch für Rumänien, Urheimat kapriziöser Doppelbödigkeit und mehrheitlich orthodoxer Christenstaat in der Pufferzone Europas zwischen Abendland und Orient. Wie schlägt sich Kirche in Westeuropa? Was kann Orthodoxie im Osten ausrichten? Nach anfänglichem Vorankommen auf dem Weg der Ökumene muss man gegenwärtig Stagnation am klerikalen Rundtisch von Katholizismus, Orthodoxie und Protestantismus erdulden. Und feststellen, dass die Orthodoxe Kirche Rumäniens (BOR) Mitschuld an besagter Funkstille trägt und nicht weiß, ob sie den Weg in die säkulare Moderne als kompromissbereite Sozialbehörde oder doch lieber als harsch kritisierender Zaungast begleiten möchte.

Mutprobe Selbstkritik

Antisemitismus ist ein heißes Eisen. Seine Handhabung erfordert Vorsicht im Nachfolgestaat von General Antonescu und angesichts der Nostalgie nach dem zur Zwischenkriegszeit gescheiterten Projekt Großrumänien. Dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs scheint die BOR einen Kurs der Meinungsvorsicht fahren zu wollen. Als die renovierte Synagoge Deva, Kreis Hunedoara, am Sonntag, dem 31. März 2019, unter breiter Beteiligung der Öffentlichkeit eingeweiht wurde und illustre, von Obmann Aurel Vainer und Oberrabbiner Raffael Shaffer angeführte, Persönlichkeiten jüdischen Lebens in Rumänien das Ereignis mit ihrer Anwesenheit beehrten, waren auch Lokalpolitiker, Regierungsbeauftragte, Diplomaten und ein Priester der BOR zugegen. Einzig und allein der orthodoxe Geistliche trat nicht ans Rednerpult.
Sein Name ist irrelevant, spricht doch der Verzicht auf eine Äußerung anlässlich der Synagogen-Einweihung aller Wahrscheinlichkeit nach klar für die Marschroute der BOR unter Patriarch Daniel Ciobotea, dessen Rhetorik nicht-orthodoxen und selbst orthodoxen Christen bisweilen Gängelung aufdrängen will.

Wortmeldungen bezüglich des Judenbegriffs in der byzantinischen Liturgie einschließlich ideologischer Untertöne wurden vom 9. bis 11. Juli 2019 in Hermannstadt/Sibiu gezielt herausgefordert. Versierte Theologen aus dem In- und weltweiten Ausland waren vom Institut für Ökumenische Forschung Hermannstadt (IÖFH) als Referenten der Konferenz „The Byzantine Liturgy and the Jews“ eingeladen worden. Zwei Jahre zurück liegt der Beginn eines vom IÖFH betriebenen Forschungsprojektes zur einschlägigen Thematik, das finanzielle Unterstützung der Exekutiven Einrichtung für die Finanzierung von höherer Bildung, Forschung, Entwicklung und Innovation (Unitatea Executivă pentru Finanțarea Învățământului Superior, al Cercetării, Dezvoltării și Inovării, UEFISCDI), einer Zweigstelle des rumänischen Bildungsministeriums, genießt. Das IÖFH ist Kooperationsinstitut des Departements für Protestantische Geschichte, Kultur und Theologie und der Fakultät für Orthodoxe Theologie „Andrei Șaguna“ an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt (ULBS).

Stefan Tobler, Professor für Systematische Theologie an der Lucian-Blaga-Universität, und der orthodoxe Priester Dr. Aurel Pavel, stellvertretender Dekan und hauptamtlicher Professor an der Orthodoxen Fakultät der ULBS, zeichnen für die inhaltliche Aktivität des IÖFH verantwortlich. Da die Konferenz mehrere Erdteile, Konfessionen und somit unterschiedliche Kulturprägungen vereinte, sah Dr. Pavel sich am eröffnenden Dienstagvormittag, dem 9. Juli, zur Erklärung genötigt, Fakultäten für orthodoxe Theologie in Rumänien unterstünden sowohl der betreffenden Universität als auch dem Kanon der BOR. Eine hierarchische Struktur also, die folglich den in Hermannstadt amtierenden Metropoliten Laurențiu Streza ermächtigt, persönlichen Argwohn im Einzelfall in ein Veto umzuwandeln, welches wiederum Vorhaben der orthodoxen Fakultät an der ULBS einen Riegel vorschieben darf. Hingegen übermittelte Dr. Pavel, der Metropolit habe nichts gegen die Beteiligung orthodoxer Vertreterstimmen an der Konferenz zum Thema des Judenbegriffs im byzantinischen Ritus einzuwenden und wünsche der Begegnung Gottes Segen.

Ideologie im Scheinwerferlicht

Sandrine Caneri, Forscherin für die Exegese der Bibelinterpretationen von Kirchenvätern, die mündliche Überlieferung der Thora und für Schriften des Talmuds (Sammlung der Gesetze und religiösen Überlieferungen des Judentums nach der Babylonischen Gefangenschaft) und Gastdozentin am Institut de Théologie Orthodoxe Saint-Serge Paris, läutete mit der Erörterung „La prière liturgique au regard de l´Évangile: comment les juifs sontils présentés?“ den zweiten Konferenztag ein. Kanonisch vorgegebene Wortlaute haben in zwei Jahrtausenden nicht an Tiefgang eingebüßt und ehren die Orthodoxie. Doch ist es nötig, uralte Patentgedanken vor aktuell geändertem Kontext zu überdenken und Schnittmengen der Begriffe „die Juden“, „die Anderen“ und des „Wir“ fortschreitend auszuloten. Dass junge Christen besonders in Westeuropa häufig in Kontakt mit Juden treten und Respekt für Nachbartraditionen als unabdingbare Kondition friedfertigen Zusammenlebens praktizieren, ist keine abwegige These. Sandrine Caneri zufolge wäre die Orthodoxie gut beraten, vermehrt antisemitische Selbsthinterfragung zu üben.

„Antisemitismus ist älter als das Christentum. Antijüdische Zitate des Neuen Testaments sind nicht primär als antisemitisch, wohl aber als problematische und demzufolge streitbare Passagen einzustufen“, so Dr. Vadim Wittkowsky, Vertreter des Instituts für Klassische Philologie an der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Denselben Fingerzeig artikuliert auch Alexandru Mihăilă, Dozent für das Alte Testament an der Fakultät für Orthodoxe Theologie der Universität Bukarest: „Der Antisemitismus der Bibel und jener unserer Gegenwart sind nicht deckungsgleich.“

Dr. Peter Ebenbauer, Leiter des Instituts für Liturgiewissenschaft, Christliche Kunst und Hymnologie an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Graz, erläuterte die latente Judenfeindlichkeit der Karfreitags-Improperien gegenwärtiger Ordnungen im römisch-katholischen Ritus. Improperien sind durch biblische Motive ausgeschmückte Mahnreden Gottes, die der erhöhte Christus am Kreuz spricht. „Mein Volk, was habe ich Dir getan, womit nur habe ich dich betrübt? Antworte mir! Aus der Knechtschaft Ägyptens habe ich dich herausgeführt. Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser.“ Improperien steigern die emotionale Betrachtung des Leidens Jesu Christi. Sie wirken sich auf die Gefühle der Mitfeiernden aus, illustrieren frevlerische Versammlungen der Juden, des angesprochenen „Gottes-Volkes“, und verleiten leicht zu Ressentiments und abgrenzender Missdeutung „der Anderen“.

Die abschließende Vortragsreihe der Konferenz am Donnerstagnachmittag, dem 11. Juli, war drei in der Blüte ihres Erwachsenenalters stehenden Referenten orthodoxer Konfessionszugehörigkeit vorbehalten. Von der ersten Behauptung des Teilnehmers Dr. Ionuț-Florin Biliuță an wurde deutlich, dass aller weitreichend bekannter Kritikwiderstand der BOR den Wunsch aufstrebender Intellektueller nach ideologischer Schürfung in wunden Punkten kirchlicher Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts nicht vollständig annullieren kann. Historiker Dr. Biliuță, Assistent am Institut für Geisteswissenschaftliche Forschungen der Rumänischen Akademie „Gheorghe Șincai“ Neumarkt/Târgu Mureș, prangert Spuren faschistischer Nostalgie im orthodoxen Staat an: „1990 war die Hälfte der Mitglieder der Synode der BOR von faschistischer Vergangenheit belastet. Träger einer Biografie mit direktem Bezug zur Legionärs-Bewegung wurden zu Hymnographen“.

Marian Pătru, Alumnus der orthodoxen Fakultät an der ULBS und Promotionsstudent am Institut für Orthodoxe Theologie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), erwähnt, die BOR habe die zur Zwischenkriegszeit erfolgte Brandmarkung der Juden in Rumänien unterstützt. Dennoch könne Schwarzweißmalerei den „dreifachen Faden von intellektueller Judenfeindlichkeit, völkischem Antisemitismus und traditioneller Fremdenfeindlichkeit“ nicht sauber entwirren.

Dr. Alina Pătru, Ehepartnerin von Marian Pătru und seit 2007 Gastprofessorin für Religionswissenschaft an der orthodoxen Fakultät der ULBS, ist die erste Frau in der Geschichte der Studieneinrichtung, der die Zulassung zum Unterrichten erteilt wurde. Bereits 1970 hatte die Synode der BOR die Beseitigung antisemitischer Parolen aus der Karfreitagsliturgie beschlossen, doch halten nicht alle Geistlichen der Mehrheitskirche Rumäniens das Verbot ein. Laut Dr. Pătru und Mitreferenten gibt es innerhalb der BOR tatsächlich eine kritikwürdige Subkultur, die Antisemitismus pflegt, daneben aber auch nicht wenige Priester, die auf Vollständigkeit und allein mystischer Rezeption bestehen und in pikanten Parolen kein geistiges Minenfeld erahnen. Dem gegenüber steht eine wachsende Gemeinschaft orthodoxer Christen, die sich Riten mit verstärkt analytischem Verständnis nähern möchte und diverse Zitate anstößig findet. „Wir Christen der rumänischen Orthodoxie sind zu reflektierenden Menschen der Moderne geworden. Sollte die BOR dies nicht berücksichtigen?“, so die finale Rhetorik im Vortrag von Dr. Alina Gabriela Pătru.

Endlosen Austausch suchen

Das IÖFH wurde 2005 gegründet und hat sich bis dato aufgrund der wenige Jahre später eröffneten Schriftreihe „Review of Ecumenical Studies (RES)“ die Anerkennung internationaler Fachkreise erarbeitet. Dienstagabend, am 9. Juli, trafen die Teilnehmer der Konferenz „The Byzantine Liturgy and the Jews“ zu einem Festabendessen zusammen, bei dem das zehnjährige Jubiläum der Herausgabe der Publikation RES gefeiert wurde. Professor Dr. Dorin Oancea, orthodoxer Geistlicher und ein Mann der ersten Stunde zur Gründungszeit des IÖFH, bedauerte die Abwesenheit der Vertreter der Evangelischen Kirche A.B. Rumäniens (EKR) D. Dr. Christoph Klein, Dr. Hans Klein und Dr. Hermann Pitters. Da die kopflastige BOR aktuell an einer stockenden Kommunikation von Gläubigen an der Basis mit den Klerikern an der Spitze krankt, besteht die Chance ihres öffentlichen Bedeutungserhalts mitunter mehr denn je in der Ökumene. Hierfür ist auch Unterstützung der protestantischen Kirche nötig. Am Jubiläumsfestabend der Publikation RES hat die EKR eine Chance interkonfessioneller Begegnung verstreichen lassen. Doch das Leben geht weiter, Christen Rumäniens geben viel auf Ökumene. Kirchenmänner stehen vor der Option, Kommunikation der Zukunft sichtbar mitzugestalten.