Antisemitismus als kollektive Psychose

Über Ursachen und Relevanz des Phänomens in Rumänien – Ansätze zur Früherkennung und Korrektur

Die Konferenz fand in der Synagoge „Unirea Sfântă“ statt.
Fotos: George Dumitriu

Ana Bărbulescu (INSHR) präsentiert eine Studie über Antisemitismus auf Social Media.

Es ist müßig, heute darüber nachzusinnen, ob Juden oder Römer am Tod von Jesus schuld waren. Geradezu aberwitzig mutet es an, diese Schuld pauschal auf ein Volk zu übertragen und dessen Nachfahren zwei Jahrtausende lang dafür zu ächten. Dennoch bezichtigt einer der Mythen, auf dem Antisemitismus fußt, die Juden des Mordes an Jesus. Ein anderer ist die Ritualmordlegende, die im 12. Jahrhundert in England aufkam: Sie basiert auf dem Verschwinden eines christlichen Kindes zur Zeit des Pessachfestes, wobei es hieß, Juden hätten es entführt und wie Jesus ans Kreuz geschlagen. Ein weiterer Mythos aus dem 13. Jahrhundert behauptet, Juden würden rituelle Menschenopfer darbringen und deren Blut als Heilmittel oder Zauberelixier in ihre Brotfladen zum Pessachfest einbacken....

Krasser Aberglaube aus düsterer Vergangenheit, mag man wegwerfend denken. Und doch waren solche und ähnliche Legenden immer wieder Auslöser von Progromen, Triebfeder für jahrhundertelangen Antisemitismus und sind bis heute nicht totzukriegen, erklärt Dr. Carol Iancu, Professor an der Universität Paul Valery in Montpellier, Autor des Buches „Les mythes fondateurs de l’antisemitisme“ (Ursprungsmythen des Antisemitismus), das zum Anlass der Konferenz „Antisemitismus – Antizionismus in der Gegenwart“ am 26. März in der Bukarester Synagoge „Sfânta Unirea“ vorgestellt wurde. An den anschließenden Diskussionen, die das Phänomen Antisemitismus von allen Seiten beleuchteten, nahmen unter anderem Prof. Dr. Andrei Marga (Uni Babeș-Bolyai, Klausenburg/Cluj-Napoca), Prof. Dr. Vasile Morar und Dr. Felicia Waldman (Uni Bukarest), Dr. Andrei Niculescu und Prof. Dr. Mihail Ionescu (Nationale Schule für Politische Studien, SNSPA), Ana Bărbulescu (Nationales Institut für Holocaust Studien „Elie Wiesel“, INSHR) und der Holocaust-Überlebende Dr. Liviu Beriș (AERVH) teil. Die Moderation übernahm der Vorsitzende der Föderation der jüdischen Gemeinschaften (FCER), Dr. Aurel Vainer.

Was das einleitende Beispiel verdeutlicht: Mit Logik kommt man bei der Erklärung von Antisemitismus nicht weiter. Statt dessen führten wilde Verschwörungstheorien zu Anfeindung, Verfolgung und der teilweisen Vernichtung des jüdischen Volks. Tiefstes Mittelalter? Mitnichten. Das Phänomen, das es in einer Logik-basierten Gesellschaft längst nicht mehr geben dürfte, ist selbst nach dem grausamsten Lehrstück der Geschichte, dem Holocaust, erschreckend real. Was uns der Zweite Weltkrieg sonst noch lehren sollte, resümiert der Überlebende der Transnistrien-Deportation, Liviu Beriș: „Was mit Antisemitismus beginnt, endet nicht mit Antisemitismus.“ An der Bekämpfung müssten daher nicht nur Semiten interessiert sein.

Antisemitismus – eine Psychose?

Nicht nur im Israel-feindlichen, arabisch-islamischen Orient ist die Idee, kapitalistische Juden würden die Welt mit ihrem Geld beherrschen, verbreitet. Nicht nur in ungebildeten Bevölkerungsschichten, sondern auch in Kreisen der Bildungselite und den Medien hört man immer wieder von der sogenannten „Auschwitz-Lüge“: Die Juden hätten den Holocaust nur erfunden. Iancu zitiert eine Schlagzeile aus der aktuellen palästinensischen Presse: „Fünf Palästinenser tot aufgefunden“. Die Zeitung schreibt suggestiv weiter: „ohne Blut“. Subtil klingt der eingangs erwähnte Mythos an, mehr muss man gar nicht erklären, der geneigte Leser kennt sich schon aus... Aber auch an deutlich formulierten Aberrationen und Dummheiten über Juden mangelt es nicht an arabischen Bücher-Verkaufsständen, ergänzt Marga. In Rumänien hielte sich das Gerücht, die Juden hätten den Kommunismus gebracht, fährt dieser fort und stellt richtig: „Kein Jude war jemals Führer einer kommunistischen Partei und keine solche hatte je eine jüdische Mehrheit.“ Mangelnde Aufklärung, selbst in der gebildeten Gesellschaftsschicht, seien Ursache für solche Behauptungen. Doch woher kommt der hartnäckige Vorbehalt gegenüber der jüdischen Volksgruppe?

Angst mag eines der Motive sein. Angst trennt, schafft Gegner, versetzt in Alarmbereitschaft, fordert Schutzmechanismen. Flucht oder Angriff? Angst auslösend könnte der weltweite Zusammenhalt der Juden sein, der Verschwörungstheorien Vorschub leistet. „Andererseits haben sie sich im Vergleich zu anderen Diasporas stets am meisten integriert“, gibt Marga zu bedenken. Erfolg kann Ängste schüren: Israel, ein zu 95 Prozent trockenes, landwirtschaftlich unattraktives Land, floriert. Die wissenschaftlich-technischen Kapazitäten sind hoch, 5000 Entdeckungen pro Jahr werden in Industrie und Militär umgesetzt. So nimmt es nicht wunder, wenn Antisemitismus oft mit Antizionismus einhergeht.
„Der Holocaust war der Gipfel der entgleisten zwischenmenschlichen Beziehungen“, resümiert Beriș, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Jugendliche darüber aufzuklären. „Was mit Antisemitismus begann, bedeutete für viele Völker großes Leid: An die sechs Millionen Juden wurden im Zweiten Weltkrieg getötet, aber 50 Millionen Menschen starben insgesamt, die größten Verluste erlitten Deutschland, Japan, Russland“ illustriert er. Der Verlust des Gleichgewichts mache sich bis heute bemerkbar: Frauenüberschuss in Russland, und Deutschland habe eine „völlig andere genetische Struktur“.

Wie absurd Rassenhass ist, ist ihm auf einer Konferenz in Tiflis aufgefallen, wo sich Juden aus aller Welt trafen: „Es gibt Juden in Aserbaidschan, in Indien und Äthiopien – sie sind grundverschieden! Wo ist da die Rasse?“ Die Wissenschaft hat außerdem bewiesen, dass es gar keine menschlichen Rassen gibt. Beriș diagnostiziert: „Antisemitismus ist eine kollektive Psychose.“

Früherkennung und Korrektur

Antisemitismus als Krankheit – ein interessanter Ansatz. Aber ist es eine gute Nachricht? Kann man einem Depressiven sagen: „Es gibt keinen Grund für deine schlechte Stimmung, also sei fröhlich“? Und wie könnte ein Heilungsansatz aussehen? Vainer setzt auf gegenseitiges Kennenlernen: Begegnungen, Aufklärung, Erinnerung. Eine „Nacht der Synagogen“ wurde ins Leben gerufen. Auf Holocaust-Gedenkmärschen in 16 Orten in Nord-Siebenbürgen wurden Vertreter der orthodoxen Kirche oder Politiker als Redner eingeladen. Manch-mal auch solche, die bisher nicht unbedingt als „Judenfreunde“ galten.

Als Ansatz zur Früherkennung lässt sich ein 2016 begonnenes, bis heute andauerndes Kooperationsprojekt des INSHR mit der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) verstehen. Durch Analyse von Social Media soll das Ausmaß potenzieller antisemitischer und anti-Roma Tendenzen erfasst und dann korrigierend eingegriffen werden, z. B. durch Apps für Schulen. „In Rumänien haben 9,7 Millionen Menschen Konten auf Facebook, sieben Millionen nutzen Youtube“, erklärt Ana Bărbulescu die Wahl dieser Plattformen. Auf der Suche nach systematisch propagiertem antisemitischem und anti-Roma Inhalt wurden im ersten Jahr 540 Facebook-Konten und 168 Diskussionsgruppen mit je rund 1200 Mitgliedern identifiziert. 26 davon bekannten sich als Neo-Legionäre, einige waren als Ultra-Orthodoxe oder „Dakopathen“ (die den dakischen Ursprung für ideologische Zwecke instrumentalisieren) erkennbar. 73 Prozent jener, die Hassbotschaften verbreiteten, waren Männer. 59 Prozent der Aussagen richteten sich gegen Juden und Roma, 41 Prozent nur gegen Roma. Sinngemäß lauten die Vorwürfe: Juden hätten Jesus getötet, der Talmud sei ein xenophober Text, Juden seien das Volk Satans, hätten den Kommunismus gebracht, seien Parasiten, hätten den islamischen Terrorismus erfunden, würden die Weltherrschaft oder den dritten Weltkrieg anstreben, beherrschten Wirtschaft und Presse, agierten durch die Stiftungen von George Soros, Israel sei ein krimineller Staat. Bezeichnend: Nur drei Prozent der antisemitischen Botschaften bezogen sich auf Religion, nur zwei Prozent auf die „jüdische Rasse“ (im Fall der Roma 27 Prozent).

Schockierend: 16 Prozent schlugen als Maßnahme Krieg, Mord oder Auslöschung vor, sechs Prozent Gewalt oder Folter! Je radikaler die Aussagen, umso eher gaben die Urheber persönliche Daten an. „Sie verstecken sich nicht und haben keine Angst vor Folgen“, schließt die Analystin. Ein angeblicher Armeeoffizier rief per Facebook zu einem Bombenattentat auf das Institut „Elie Wiesel“ auf, jetzt ermitteln die Behörden.

Bis Februar 2018 wurden 600 der aktivsten Facebook-Konten und 50 Facebook-Gruppen mit einschlägigem Inhalt genauer beobachtet. In der nächsten Phase des Projekts (1. März bis 31. September 2018) geht es darum, Gegendarstellungen zu entwerfen und im Netz zu präsentieren.

Die identifizierten Konten und Kanäle wurden auch Facebook und Youtube gemeldet. Doch nur in 10 Prozent der Fälle wurden seitens Facebook Maßnahmen ergriffen, nicht einmal konkrete Aufrufe zu Gewalt oder Verbrechen gegen ethnische Gruppen wurden vollständig entfernt. Youtube hat keinen einzigen der gemeldeten Filme gelöscht. „Dabei sind Hassfilme wegen der größeren Wirkung audiovisueller Botschaften noch viel schlimmer“, warnt B˛rbulescu. „Ein beliebter anti-jüdischer Film hatte über 60.000 Visualisierungen.“

Dinge richtigstellen

Das Ausmaß des Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts veranschaulichen Maria Mădălina Irimie und Dr. Lya Beniamin vom Zentrum für das Studium jüdischer Geschichte in Rumänien (CSIER). Der rumänisch-europäische Antisemitenkongress 1886 in Bukarest hatte die Bildung zahlreicher einschlägiger Zirkel und Zeitschriften zur Folge. Beispiele: „Veteranul“, im Untertitel als „nationale antisemitische Zeitung“ erkennbar, warnte vor „der großen jüdischen Gefahr“. Titel anderer Printmedien lauten: „Arhiva Antiisraelit˛“, „România jidănită“ (verjüdischtes Rumänien), „Antisemitul“, „Jos Jidani“ (nieder mit den Juden). Die Humorzeitschrift „HaHaHa“ wartet mit Judenwitzen auf. Der Antisemitismus beschränkte sich freilich nicht auf Rumänien, sondern war europaweit verbreitet. Auch in Deutschland hatte es 1882 und 1883 internationale antijüdische Kongresse gegeben.

Iancu zeigt auf, dass in heutigen rumänischen Schulbüchern noch „Mythen“ über Juden bedient würden, „in Westeuropa wurden solche Sachen längst raus genommen“. Er schlägt vor, einen Pädagogik-Koffer für Lehrer zu entwickeln, einschließlich Kopien von historischen Dokumenten. Dass Aufklärung dennoch nicht immer zum Ziel führt, gibt Prof. Vasile Morar zu bedenken, der seit 17 Jahren mit Studenten über das Thema diskutiert. Er warnt insbesondere vor versteckten Antisemitismus – Reaktionen aufgeklärter Studenten, die sich zwar verbal nicht äußern, „doch ich sehe ihnen die Ablehnung im Gesicht an“. Rationale Argumente änderten daran nichts, „die Mimik zeigt, dass man einige nicht überzeugen kann“.
Wichtig sei auch, nicht nur über den Schrecken des Holocaust zu berichten, betont Iancu, „sondern auch Beispiele für gute Beziehungen und positive Beiträge der Juden zu behandeln“. Vainer verweist auf die Philosemiten, die es vor allem in der Zwischenkriegszeit gab: „Es wäre gut, wenn wir mehr Pro-Semiten hätten, die manchmal die Dinge richtigstellen.“