Antisemitismus und Verschwörungsideologien

Gerade in Krisenzeiten werden antisemitische Verschwörungsmythen verstärkt verbreitet

Darstellung des angeblichen jüdischen Ritualmords an dem Kleinkind Simon von Trient im Jahr 1475. In der römisch-katholischen Kirche wurde der Junge über viele Jahrhunderte als Märtyrer verehrt. Foto: Wikimedia Commons

Verschwörungstheorien sind keine „Theorien“ im wissenschaftlichen Sinne. Geeigneter sind die Begriffe „Verschwörungsideologie“ oder „Verschwörungsmythos“. Denn um ein System  wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Erscheinungen handelt es sich bei „Verschwörungstheorien“ gerade nicht. Ihr Spektrum reicht zwar bis zu semi-wissenschaftlichen Konstrukten mit hoher Plausibilität, die Ansprüche an wissenschaftliche Theorien erfüllen sie allerdings nicht.  Aus wissenschaftstheoretischer Sicht lassen sie sich zwar möglicherweise bestätigen, nie aber widerlegen.


Dabei sind Verschwörungsideologien gleichwohl keine Erscheinungen, welche erst durch die digitale Revolution hervorgerufen  wurden. Während es tatsächliche Verschwörungen wie den Mord an Julius Cäsar schon in der Antike gab, können die Gerüchte über die Juden als Mutter aller Verschwörungstheorien betrachtet werden. Jahrhundertelang wurden Juden für Verbrechen, Seuchen und Unheil aller Art verantwortlich gemacht. Die Ritualmordlegende sowie die Brunnenvergiftung als antisemitische Stereotypen reichen bis ins Hoch- und Spätmittelalter zurück. Bereits im 12. Jahrhundert wurden in England die Juden von Norwich fälschlicherweise des rituellen Mordes an einem Jungen beschuldigt, der mit Stichwunden im Wald tot aufgefunden worden war.

Laut Thomas von Monmouth, der die hagiografische Biografie „The Life and Passion of William of Norwich“ geschrieben hat, töten Juden auf Grundlage einer Prophezeiung zu Ostern christliche Kinder, um ihre Freiheit zu erlangen und Israel zurückerobern zu können. Der Mönch bezieht sich dabei auf den Konvertiten Theobald von Cambridge und spricht auch davon, dass William an ein Kreuz genagelt wurde, um den Leidensweg Jesu Christi zu verspotten. In den folgenden Jahren gab es ähnliche Anschuldigungen gegenüber den Juden auch an anderen Orten in England, aber auch in Frankreich, Spanien und den deutschen Ländern. 1189 und 1190 kam es in York und London zu Massakern. 1290 wurden die Juden schließlich aus England und Wales verbannt.

Die  moderne Parole „Kindermörder Israel“ bezieht sich auf die Ritualmordlegende und unterstellt israelischen Soldaten bei Konflikten mit Terroristen, absichtlich palästinensische Kinder zu töten. Bei vielen der in diesem Zusammenhang verbreiteten Bilder handelt es sich freilich um Fälschungen oder Aufnahmen aus anderen Konflikten. Den Verschwörungsmythos der Brunnenvergiftung hatte zuletzt im Juni 2016 der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde vor dem Europäischen Parlament verbreitet. Mahmoud Abbas behauptete in Brüssel, dass israelische Rabbiner von ihrer Regierung verlangt hätten, das Wasser zu vergiften, um Palästinenser zu töten.

Was die jahrhundertealten Verschwörungsmythen mit den modernen Verschwörungsideologien um die Terroranschläge am 11. September 2001 oder der COVID-19-Pandemie gemeinsam haben, ist ihre Funktion: Sie bauen ein Feindbild auf. Auch unterstellen viele Verschwörungsmythen, dass im Verborgenen agierende Konspirateure einen umfassenden Plan mit manipulierenden Mitteln und durch Täuschung der Bevölkerung umzusetzen versuchen.

Verschwörungsmythen bieten zwar auch Entlastung in einer komplizierten Welt, doch keineswegs geben sie regelmäßig eine „einfache Erklärung“ einer komplexen Gegenwart. Entsprechend dem Prinzip der Sparsamkeit (Prinzip der Parsimonie) ist unter ansonsten gleichen Bedingungen stets die einfachere Hypothese allen anderen vorzuziehen. Im Fall der COVID-19-Pandemie sind die Erzählungen von Bill Gates, Zwangsimpfungen oder 5G-Funkmasten deutlich komplexer als die Erklärung: Es handelt sich tatsächlich um eine Viruspandemie.

Merkmale von Verschwörungsideologien

Viele Verschwörungsideologien arbeiten mit Personifizierungen und reduzieren komplexe Handlungen und Strukturen auf überschaubare Beziehungsmuster. Ferner setzen sie häufig drei Protagonisten voraus: eine mächtige Gruppe, die die Hegemonie anstrebt; eine unkritische Bevölkerung sowie eine kleine Gruppe, welche die Pläne der „Elite“ zu durchschauen glaubt und die Wahrheit erkannt hat. Paradoxerweise wird die angeblich verschwörerische Elite dabei als mächtig und schwach zugleich dargestellt. Sie ist einerseits derart mächtig, dass sie den Lauf der Geschichte dominieren und verändern kann und trotzdem so schwach, dass sie ihre vermeintliche Macht nicht durchzusetzen vermag.

Im Übrigen sind Verschwörungsideologien zwar oft widersprüchlich, besitzen allerdings trotzdem eine bestimmte Logik und Kohärenz, die in der Wirklichkeit gar nicht existiert. Dazu werden Fakten in Kausalzusammenhänge gesetzt und Zufälle bestritten. Doch Korrelation heißt nicht gleich Kausalität! Der Leitgedanke von Verschwörungsideologen ist stets: Wem nützt es? Dieser Gedanke impliziert, dass die Person, der ein Ereignis nützt, es auch verursacht hat. Auf der Basis dieser nicht hinterfragten Prämisse werden dann detaillierte Begründungszusammenhänge konstruiert.

Bei der Konstruktion von Verschwörungsideologien wird fraglos auch auf Fälschungen oder Gerüchte zurückgegriffen. Des Weiteren werden zum Beleg namenlose „Experten“ oder „Eingeweihte“ zitiert. Durch zahlreiche pedantische Quellenverweise und Fußnoten wird schließlich versucht, den Eindruck von Wissenschaftlichkeit zu erwecken. Häufig vertreten Anhänger von Verschwörungsideologien ihren Glauben aggressiv und mit missionarischem Eifer.

Dabei haben Verschwörungsideologien trotzdem immer auch einen „wahren“ Bezugspunkt oder knüpfen an „reale“ Fakten an, um plausibel zu erscheinen. Denn die Behauptung der Existenz von Reptiloiden und deren Steuerung von Politikern kann ohne Weiteres als Spinnerei bezeichnet werden. Was Verschwörungsdenken allerdings von legitimen Deutungsversuchen, Spekulationen und Fragen, aber auch Kritik an Regierungen und politischen Entscheidungsträgern unterscheidet, ist die Tatsache, dass es sich beim Verschwörungsdenken um geschlossene ideologische Erklärungen handelt, die resistent gegen Einsprüche, Widersprüche, Überprüfungen oder andere Erklärungsansätze sind.

Echte Verschwörungen hat es immer gegeben

Tatsächliche Verschwörungen hat es gleichwohl immer gegeben, also die gemeinsame und verdeckte Planung von Handlungen zum Nachteil anderer. Ihr verwandt sind die Konspiration, also die Zusammenarbeit mehrerer Personen unter einheitlicher Zielsetzung und bewusster Ausschaltung fremden oder öffentlichen Einblicks sowie das Komplott als die Verbindung von Verschwörung und Konspiration. In einem politischen Kontext bezieht sich eine Verschwörung auf eine Gruppe von Menschen, die sich zum Ziel gesetzt hat, eine etablierte politische Macht zu schädigen oder sie zu stürzen. Typischerweise besteht das endgültige Ziel darin, durch einen revolutionären Staatsstreich oder durch ein Attentat an die Macht zu gelangen. Eine Verschwörung kann allerdings auch zur Infiltration des Regierungssystems verwendet werden. Bekannte politische Verschwörungen sind beispielsweise das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler oder die Iran-Contra-Affäre.

Das wohl letzte Pogrom an Juden, welches auf die Ritualmordlegende zurückgreift, ereignete sich noch kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im polnischen Kielce. Mehr als 40 Personen wurden dabei getötet und noch mehr Menschen verletzt. Zuvor soll ein polnischer Junge von Juden entführt worden sein, worauf sich das Gerücht entwickelte, dass in einem jüdischen Gebäude Kinder für künftige Ritualmorde gefangengehalten würden. Das Pogrom von Kielce hatte eine massive jüdische Emigrationswelle aus Polen zur Folge. Viele von ihnen waren erst kurz zuvor aus den deutschen Konzentrationslagern oder aus ihrem Exil in der Sowjetunion zurückgekehrt.

Gerade in Krisenzeiten werden antisemitische Verschwörungsmythen verstärkt verbreitet. Schon die Pestausbrüche im Mittelalter waren regelmäßig Anlass zu antisemitischen Propagandalügen – wie die der jüdischen Brunnenvergiftung. In der Bundesrepublik Deutschland werden bei den Corona-Demonstrationen bereits Relativierungen des Holocausts vorgenommen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Bayern berichtete, bei diesen Demonstrationen würden zunehmend Schilder gezeigt mit der Aufschrift: „Ausgangsbeschränkungen sind sozialer Holocaust“ oder Menschen würden einen gelben Stern ähnlich dem Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ tragen.

Definitionen und Zugänge zu Verschwörungstheorien

Eine etwas andere Begriffseinteilung und -definition bietet die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg an. Dort heißt es: „Eine Verschwörungshypothese unterstellt eine Verschwörung zu einem bestimmten Ereignis. Verschwörungshypothesen sind Verschwörungstheorien im wissenschaftstheoretischen Sinn des Wortes. Sie sind durch empirische Methoden überprüfbar und offen für Korrekturen. Falls es nicht genug Beweislast für die Theorie gibt, wird sie verworfen. Wird aber trotz empirischer Gegenbelege immer noch an die Verschwörungstheorie geglaubt, spricht man von einer Verschwörungsideologie. Menschen, die an Verschwörungsideologien glauben, werden daher auch als Verschwörungsgläubige bezeichnet. Ähnlich wie totalitäre politische Ideologien vertreten auch Verschwörungsideologien einen absoluten Wahrheitsanspruch mit einem klar benennbaren Feindbild. Verschwörungsideologien laden daher ein, die Welt in Gut und Böse, in „Wir“ und „die Verschwörer“, einzuteilen. Beim umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffs „Verschwörungstheorien“ sind daher eigentlich fast immer Verschwörungsideologien gemeint. Der Verschwörungsmythos ist eine Übersteigerung der Verschwörungsideologie. Er unterscheidet sich hinsichtlich der Gruppe der Verschwörer, die benannt werden. Während Verschwörungsideologien real existierende Gruppen für eine Verschwörung verantwortlich machen, wenden Verschwörungsmythen sich gegen fiktive Gruppen.“

Verschwörungstheorien respektive Verschwörungsideologien werden von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersucht und dementsprechend vielfältig sind die Definitionen. Es gibt Betrachtungen aus politikwissenschaftlicher, geschichtswissenschaftlicher, philosophischer, sozial-psychologischer oder auch konstruktivistisch-wissenssoziologischer Sichtweise. Sie weisen dabei zahlreiche Überschneidungen, aber auch klare Unterschiede auf. Den allermeisten Definitionen ist allerdings gemeinsam, dass Verschwörungstheorien meist negativ wahrgenommene Ereignisse, Entwicklungen oder Entscheidungen mittels einer Verschwörung mächtiger Minderheiten erklären. Auch bei den angenommenen Ursachen von Konspirationsdenken unterscheiden sich die Definitionen nur geringfügig. Häufig genannt werden Angst, Bedrohungsgefühle, unerwartete Ereignisse oder individuelle Krisen. In der Tat sind dies Umstände, die die menschliche Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien oder auch das Verlangen nach neuen „Theorien“ vergrößern. Zu alten bestehen bleibenden Ängsten vor Not, Krankheit, Krieg und Tod sind mit der Individualisierung und Modernisierung, etwa durch Orientierungslosigkeit oder ein breites Angebot an Informationen, neue Anlässe für den Glauben an Verschwörungen entstanden.

Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber, der auch Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland ist, sieht gerade den Glauben an eine Verschwörung als den Unterschied zwischen einem Verschwörungsmythos und einer Verschwörungsideologie, wobei beides trotzdem häufig ineinander übergeht und die Unterscheidung somit als idealtypisch anzusehen ist. Doch eben diese Glaubenskomponente erklärt seiner Ansicht nach, warum beispielsweise die „Protokolle der Weisen von Zion“ auch nach dem Nachweis der Fälschung weiterhin so große Verbreitung fanden.