Archiv und Aufarbeitung

Zum Umgang mit Dokumenten der Stasi und Securitate

Auf der Montagsdemo am 17. September 1990 wurde in Dresden für den Erhalt der Stasi-Akten demonstriert. Foto: Deutsches Bundesarchiv.

Dreißig Jahre seit der Revolution, wie es 2019 überall gefeiert wurde, bedeutet auch: 30 Jahre, seit die Bürger sich von Überwachungs- und Repressionsapparaten wie dem „Ministerium für Staatssicherheit“ der DDR oder dem „Departamentul Securității Statului“ des kommunistischen Rumänien befreien konnten. Zwei Diskussionsveranstaltungen widmeten sich in Bukarest kürzlich diesem Thema: Das Goethe-Institut lud gemeinsam mit Frontline Club zur Diskussionsrunde „1989 – 30 de ani fără zid și Stasi“ ein, zu der Karsten Jedlitschka von der Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen (BStU) sowie der rumänische Journalist Liviu Tofan, Direktor des Rumänischen Instituts für Zeitgeschichte, geladen waren. Zu einem ähnlichen Thema, nämlich „30 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs“, diskutierten Ana Blandiana, Autorin und Initiatorin des Internationalen Zentrums für Studien zum Kommunismus und der Gedenkstätte in Siget/Sighetu Marma]iei, sowie die deutsche Grünen-Politikerin Marianne Birthler, von 2000 bis 2011 Leiterin der BStU.

Dominierend in beiden Diskussionsrunden war die Frage nach dem Umgang mit Archiven, unbestritten war deren Bedeutung für die Aufarbeitung der Verbrechen: „Archiv“ lässt an muffiges Papier und staubige Regale denken, dabei sind sie machtvolle Instrumente: Man denke nur an George Orwells dystopischen Klassiker „1984“, in dem das Regime die Zeitungsberichte in den Archiven ständig umschreiben lässt, sodass diese „Vergangenheit“ jedwedes Agieren des Regimes als folgerichtig legitimiert.
Den Bürgerrechtlern, die in den Tagen der Revolution Rauch aus Stasi-Gebäuden aufsteigen sahen, war die Macht dieser Archive bewusst: Sie besetzten diese und verhinderten so, dass Verbrechen durch Zerstörung der Akten aus der Geschichtsschreibung gelöscht wurden. 1991 wurde die Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen gegründet, wo heute 1440 Mitarbeiter jährlich etwa 45.000 Anfragen auf Akteneinsicht bearbeiten. Die 14 Standorte beherbergen etwa 111 Kilometer Schriftgut, dessen allergrößter Teil inzwischen erschlossen ist. Ein Kuriosum stellen die „Geruchsproben“ von Verdächtigen dar, die der Arbeit mit Hunden dienen sollten. Außerdem gibt es die etwa 40 bis 55 Millionen Seiten, die als Schnipsel in Säcken auf ihre Rekonstruktion warten: Stasi-Mitarbeiter hatten diese Dokumente zerrissen, um sie später endgültig zu zerstören – wozu sie keine Gelegenheit mehr haben sollten. Ursprünglich waren es 16.000 Säcke gewesen, seit dem Beginn der Arbeiten 1995 konnten die Akten aus 500 Säcken händisch zusammengepuzzelt werden. Um den Prozess zu beschleunigen, wird momentan an einem computergestützten Verfahren gearbeitet.

Einzigartig an diesem Umgang mit geheimpolizeilichen Akten ist vor allem, dass schon sehr früh mit der Aufarbeitung begonnen wurde. Die für Rumänien prägende Kontinuität politischer wie wirtschaftlicher Eliten verhinderte dies – verständlicherweise hegten die Profiteure beider Systeme kein Interesse an der Aufarbeitung, vor allem strafrechtlicher Natur, dieser Vergangenheit. Daher wurde der Nationale Rat für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS) erst 1999 gegründet; bis dahin hatten, wie Ana Blandiana es ausdrückte, die gleichen Leute in den gleichen Büros weitergearbeitet – und zehn Jahre lang Zeit gehabt, belastendes Material zu vernichten oder für eigene Zwecke zu missbrauchen. Wer heute in den Papieren forscht, sieht sich häufig mit Lücken und weißen Flecken konfrontiert – und mit der Tatsache, noch immer nicht Zugang zu allen Akten zu haben: Ein Teil befindet sich noch immer in Obhut des Rumänischen Informationsdienstes (SRI, Serviciul Român de Informații), etwas vereinfacht ausgedrückt die Nachfolgeorganisation der Securitate. Ana Blandiana beispielsweise erzählt, dass sie ihre Akte, von deren Existenz sie überzeugt ist, nie gefunden hätte – was sie aber nicht nur bedauert: Sie fürchte sich vor dem, was und vor allem wen sie darin vielleicht fände. Auch in Deutschland waren zunächst viele dagegen, dass jeder Bürger Einsicht in die eigene Akte bekam – die ja auch die Information enthielt, von welchem ‚Informellen Mitarbeiter‘ (IM) man bespitzelt worden war. Die befürchteten Racheakte blieben aber aus.

Neben dem „Recht auf die eigene Akte“ hat in Deutschland das Parlament das Recht, auf Anfrage von der UStB Informationen über eine mögliche Stasi-Vergangenheit einer Person zu erhalten und gegebenenfalls dieser die Ausübung eines öffentlichen Amtes zu verwehren. In Rumänien ist ein Lustrationsgesetz, wie es bereits 1990 in Punkt acht der Proklamation von Temeswar gefordert wurde, bis heute nicht umsetzbar, weil die Akten, die eine Securitate-Mitarbeit beweisen könnten, nicht zugänglich oder nicht erschlossen waren. Wer als Informeller Mitarbeiter seine Umgebung ausspioniert hatte, hatte also auch nach der Revolution keine Konsequenzen zu fürchten – und das betraf zum Zeitpunkt der Revolution doch etwa 400.000 Rumänen. Liviu Tofan nannte als prominentes Beispiel Traian Băsescu, der jahrelang verschiedene politische Ämter, darunter das des Präsidenten, bekleidet und dabei jegliche Verbindung mit der Securitate stets bestritten hatte – bis im September vergangenen Jahres auch das Berufungsgericht seine Tätigkeit als Informant für den Geheimdienst als bewiesen ansah. Vor dem Hintergrund dieser Informationen entbehrt Băsescus Trauerrede zum Tod von Senator Constantin Ticu Dumitrescu 2008 nicht einer gewissen Ironie: Dieser habe „immer dafür gekämpft, dass die Wahrheit bekannt wird“ – und tatsächlich hat Dumitrescus hartnäckiger Kampf für die Aufarbeitung der Securitate-Verbrechen noch post mortem dafür gesorgt, dass auch Băsescus dunkle Vergangenheit bekannt wurde. 

Dumitrescu hatte Jahre seines Lebens in kommunistischen Gefängnissen und Arbeitslagern verbracht; nach 1989 erkämpfte er als Senator ein Gesetz nach Vorbild des 1991 in Kraft getretenen Stasi-Unterlagen-Gesetzes, als Grundlage für eine Behörde ähnlich der UStB. Ziel war die Erschließung und Zugänglichmachung der Securitate-Archive und damit die Aufarbeitung ihrer Verbrechen. 1999 wurde schließlich, nach langem politischem Ringen, das „Ticu-Gesetz“ verabschiedet, allerdings in stark verwässerter Form: So wird die Leitung der CNSAS nach dem Parteiproporz  im Parlament bestellt, wodurch die Tore für politische Einflussnahme weit geöffnet sind. Auch wurden die Archive nicht umgehend ausgehändigt, sondern blieben weiter beim SRI und wurden nur auf Antrag herausgegeben.

Das ist insofern höchst problematisch, da die Securitate zwar bereits Ende Dezember 1989 von der Front zur Rettung Rumäniens unter Ion Iliescu offiziell aufgelöst wurde, die personellen Strukturen aber weiterbestanden: Viele, die bis 1990 Securitate-Mitarbeiter waren, kamen hinterher beim SRI unter. Dort bekleideten beispielsweise jene beiden Offiziere hohe Posten, die 1985 den Befehl gegeben hatten, den Ingenieur und Autor Gheorghe Ursu in seiner Zelle zu Tode zu prügeln, wie 1999 aufgedeckt wurde. 
Auch in der Wirtschaft des postkommunistischen Rumäniens konnten viele Securitate-Mitarbeiter eine glänzende Karriere aufbauen: Da der Apparat auch die Wirtschaft kontrolliert hatte, verfügten sie über das notwendige Insider-Wissen, um während der Privatisierungen der 1990er Jahre große Gewinne zu schöpfen. Dieses Wissen war auch beim Erpressen und Intrigieren sehr nützlich, welche sich auch im Kapitalismus als karrierefördernde Methoden erwiesen. Von der Kollaboration mit dem Regime konnte also vor wie nach der Revolution profitiert werden.

Repräsentativ für diese Emporkömmlinge des Postkommunismus ist Dan Voiculescu, Medienunternehmer, Politiker und eine der reichsten Personen Rumäniens. Er prozessierte gegen seine Enttarnung als IM „Felix“, und das von ihm angestrengte Verfahren führte zu einer weiteren Schwächung des CNSAS: Dessen gesetzliche Grundlage wurde für verfassungswidrig erklärt, seitdem darf die Behörde keine rechtsverbindlichen Aussagen über frühere Kollaboration mit der Securitate mehr treffen. Aber auch in Deutschland gibt die UStB nur Informationen heraus; wie mit den betreffenden Personen weiter verfahren wird, obliegt nicht ihrem Urteil. Und Marianne Birthler betont, dass jeder Fall einzeln betrachtet werden müsse – man müsse differenzieren zwischen Menschen, die erpresst wurden, und solchen, die aus eigenem Antrieb ihre Mitbürger denunzierten. Für die Observierten freilich mache dies kaum einen Unterschied – auch wer zwangsweise als Spitzel fungierte und die observierte Person zu schützen versuchte, konnte nie wissen, welche noch so harmlose Information von der Geheimpolizei zur Erpressung brauchbar war. 

Ebenso wie der Missbrauch dieser Informationen mit 1989 kein Ende fand, wurden auch weiter Lügen verbreitet: 1992 denunzierte der frühere IM und nunmehrige Leiter der SRI, Virgil M˛gureanu, den Journalisten Liviu Tofan bei seinem Vorgesetzten, Richard H. Cummings – er habe seine Kollegen bei Radio Free Europe in München für die Securitate ausspioniert. Die Akte, die Tofans Karriere und Reputation zerstören hätte sollen, erwies sich schnell als Fälschung.
Solches war in Deutschland verhindert worden, indem weder offizielle noch inoffizielle ehemalige Stasi-Mitarbeiter nach der Revolution Zugriff auf die Akten hatten. Zwar rechnete das Ministerium während des Niedergangs der DDR mit einer Zukunft als „Amt für Nationale Sicherheit“ – im November 1989 waren bereits Briefköpfe und Schilder mit dieser Bezeichnung gedruckt –, aber als bekannt wurde, dass aus der Stasi zwei Nachfolgeorganisationen entstehen sollten, reagierte die Bevölkerung mit massivem Protest, sodass die Institution ersatzlos aufgelöst wurde.

In Rumänien wurden 2005 schließlich etwa 24 Kilometer Akten an CNSAS übergeben, bis heute werden etwa 70.000 Akten aus ‘Gründen der nationalen Sicherheit‘ zurückgehalten. Vor 15 Jahren ebenfalls zurückgehalten wurde die Decknamenkartei und die Zentralregistratur – die CNSAS erhielt also kein Archiv, sondern eher einen gigantischen Stapel Papier. Dessen Erschließung wird dadurch erschwert, dass, wie Axel Bormann vom Institut für Ostrecht es diplomatisch formuliert, „(...) die sehr zurückhaltende Ausstattung der Securitate-Unterlagenbehörde mit Personal und sonstigen Mitteln in einem deutlichen Kontrast zum Volumen der ihr vom Gesetz übertragenen Aufgaben steht“. 

Die Stasi wie die Securitate wurden und werden von der Mehrheit der Bevölkerung als negativ bewertet, ein großer Unterschied zeigt sich aber darin, wessen Version der Geschichte Gehör geschenkt wird: In Rumänien ist das Bild der Securitate heute stark geprägt von etwa den Bestsellern Ion Mihai Pacepas („Schwarzbuch der Securitate“), stellvertretender Chef des Auslandsgeheimdienstes, bis er 1978 die Fronten wechselte. Oder von Iulian Vlad („Confesiuni pentru istorie“), dem letzten Chef der Securitate – er änderte seine Position erst, als Ceaușescu aus Bukarest floh. Während man sich laut Jedlitschka unter einem ehemaligen Stasi-Agenten einen verbitterten Griesgram vorstellt, hätten ehemalige Securitate-Karrieristen in Rumänien Deutungshoheit über eine Geschichte, in die sie eigentlich als Täter eingehen müssten. Für Birthler ist wichtig, dass diese Geschichte kommenden Generationen nicht nur als eine von Terror und Unterdrückung vermittelt wird, sondern auch als eine des Widerstands: Sodass diejenigen, die in Zukunft gegen Unrecht ankämpfen, wissen, dass sie nicht alleine sind, sondern auf den Schultern von Generationen stehen.