Ballade im Staub, Zigaretten in der Einsamkeit

Mitten in Hermannstadt spielt Ionuț gegen das Verstummen der Straße an

So schwer es Ionuț in Hermannstadt auch gehen mag – er pflegt sein Selbstwertgefühl und lässt sich nicht auf eine warme Mahlzeit einladen. Höchstens auf einen Kaffee. Was zwischen die Zähne kommt, muss ehrlich erarbeitet worden sein. Foto: der Verfasser

Ionuț wurde 1990 in Hermannstadt/Sibiu geboren und hat vor sieben Monaten seinen Vater verloren. Er wohnt seither alleine und ist stolz darauf, sich als Geiger durchs Leben zu schlagen. „Musik ist meine Leidenschaft, mein Traum.“ Trotz aller Steine im Weg kommt es für ihn nicht infrage, das Streichinstrument an den Nagel zu hängen. Schließlich war Großvater Iosif Gherbea Dirigent des Instrumentalensembles im Folklore-Profiverein „Cindrelul Junii Sibiului“. Im Duett mit Vater Nicușor, der ebenfalls mit der Violine manche schwere Überlebensschlacht zu schlagen wusste, hat Ionuț auf unzähligen Hochzeitsfesten und Tauffeiern aufgespielt. Zur Freude von Leuten, die für richtig gute Tischmusik gern in die Tasche greifen. Stars, die mit ihren Musikhochschuldiplomen von Konzert zu Konzert tingeln, kann Ionuț nicht das Wasser reichen. Aber seine Töne können dennoch wie Zucker ins Blut schießen. Obwohl er nicht immer makellos sauber spielt. 

Als ich frage, auf welche Violine er seine Saiten spannt, kommt als Antwort, auf eine Stradivari-Kopie. Die Frage scheint ihn nicht zu überraschen. Sorgen bereitet ihm eher der Bogen, der mal wieder eine Generalüberholung bräuchte, da das Spielen unter freiem Himmel gegenüber vom Radu-Stanca-Theater und die nasskalten Stunden im tristen Fußgängertunnel vor dem Ibis-Hotel dessen Haare stark belastet. Die Bogenhaare, die den Klang kräftig rauschen machen, damit die herb gestrichenen Melodien auch bei Wind und Wetter Herz und Seele der Passanten rühren. Von den etwa 170 Fäden, die ein frisch aus der Werkstatt des Geigenbauers kommender Bogen trägt, ist Ionuț bereits empfindlich weit entfernt. Weil der Besuch beim Geigenbauer nebst Geld auch Zeit kostet, muss er mit seinen Ressourcen doppelt sparen. Wo die Straße für die überwältigende Mehrheit der Menschen nichts weiter als das Fortbewegen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz sichert, ist sie für ihn zentraler Lebensort. Ionuț braucht die Straße zum Überleben.

Zeit ist Klang

Dort, wo der Bogen über die Saiten fährt, sind das Griffbrett und die Decke seiner Geige weiß vom Kolophonium, das Streicher für gut steuerbares Spielverhalten des Bogens durch Einreiben auf die Bogenhaare auftragen. Der Kolophonium-Feinstaub, der sich auf Saiten, Griffbrett und Instrumentenkörper absetzt, sollte nach getaner Arbeit mit einem weichen Tuch abgewischt werden. Kontrabass-Spieler haben in solchen Augenblicken die größte Holzfläche zu reinigen und sind in Sachen Instrumentenpflege nicht eben zu beneiden. Ein Geiger hat jedoch hat seine Geige rasch vom Staub befreit. Muss er aber täglich von Neuem um sein Einkommen bangen, wird er bestimmt fünf Minuten länger spielen wollen als seine Geige nach dem letzten Ton fünf Minuten lang zu wienern. Sobald Ionuț Gherbea nicht mehr streicht, bricht auch die Chance auf ein paar Geldscheine mehr im Geigenkasten ab. Zeit ist Klang. Ohne Klang keine Musik, und ohne Musik kein Einkommen. Genau darum passt ihm Ciprian Porumbescus „Ballade“ wie auf den Leib komponiert.

Natürlich hätte er mit seiner Interpretation vor einer akademisch besetzten Jury nicht den Hauch einer Chance auf Lob. Bei Ionuț schwirren einfach zu viele unsaubere Töne durch die Melodie. Doch just diese leicht schiefen Klänge kratzen das Gewissen von Menschen, die für sein wortlos bittendes Timbre einen Obolus übrig haben.

Regnet, schneit oder stürmt es, bezieht er im Fußgängertunnel unter dem Hermannsplatz/Piața Unirii Straßenmusiker-Stellung. Hier unter dem tosenden Verkehrslärm zwischen Ibis-Hotel, Ion-Besoiu-Kulturzentrum, Ramada-Hotel und Dumbrava-Kaufhaus wirft Ionuț all sein Können in die Waagschale, wenn Niederschläge ihm das Aufspielen draußen um die Ecke vor dem Theater vereiteln. Die beiden Orte, auf denen er seinen Geigenkasten geöffnet vor sich auf den Boden legen darf, sind nicht zufällig gewählt. Das Rathaus gibt ihm vor, wo er spielen darf. Für jeden Tag, den er zum Geigen im öffentlichen Raum nutzt, muss ein Leu in die Kasse des Rathauses eingezahlt werden. Passanten, die nichts auf seine Musik geben, mögen das für einen Pappenstiel halten, der kaum der Rede wert ist.

Jeden Monat neu um die Straßenmusiker-Genehmigung anstehen, die das Rathaus gegen Gebühr ausstellt, kann sich schon mal wie Demütigung anfühlen. 30 Lei sind für Ionuț ein Batzen Geld, auf den er nicht selten unwirtlich lange Tage harren und hoffen muss. Nur kann und will er aus dem leidigen Teufelskreis, der ihn zum Spielen zwingt, nicht entfliehen. Er möchte es auch weiterhin dürfen. Das nötige Taschengeld für eine Schachtel „Pall Mall“ macht die Haushaltsrechnung nicht einfacher. „Ich habe auch andere Marken ausprobiert, bleibe aber bei diesen Zigaretten. Sie beruhigen mich.“

Ionuț ist nicht krankenversichert. Die wegen Corona von der Regierung verordneten acht Wochen Notstand im Frühjahr hat er in Selbstisolation verbracht. Mitten in dieser Zeit starb sein Vater. Was für ihn dieser Ernstfall bedeutet, kann sich unsereins nicht ausmalen. Erahnen wir Mitmenschen, die ihm auf dem Gehsteig oder im Tunnel einen kurzen Augenblick zuhören und im glücklichen Einzelfall vorbeieilend einen Geldschein in seinen Geigenkasten legen, was ihn bedrückt? „Denn Elend, also Unrecht, ist für jene, die es erleiden, weder pittoresk noch romantisch“, schrieb Journalistin Franca Magnani (1925-1996), ab 1964 Italien-Korrespondentin für die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD), 1976 in einem Artikel mit der Überschrift „Warum ich Rom dennoch liebe“.

Alle Wege führen ins Ungewisse

Ionuț denkt nicht darüber nach, was in Hermannstadt anders oder besser zu machen wäre. Aus der Not heraus liebt er seine Musik und seine Stadt einfach so, wie sie sind. Und kennt Hermannstadt besser als Hermannstadt ihn. Musiker wie er sind es gewohnt, auf Messers Schneide zu leben. In einem chronisch kranken Sozialstaat wie Rumänien sind sie auch wirklich arm dran. Kaum jemand möchte mit ihnen zu tun haben. „Ja, ich wurde schon öfters von der Polizei kontrolliert und ohne Genehmigung erwischt, weil ich das Geld dafür nicht aufbringen konnte. Aber ich habe trotzdem weitergespielt. Was hätte ich denn sonst tun können?“. Bislang hat ihn die Polizei leben lassen. Ihr Einsehen ist Hermannstadt auch weiter-hin zu wünschen. Erst wenn Ionuț nicht mehr Geige spielte, würde die Stadt den Verlust vielleicht bemerken.
Sind Ionuț´ Geigentöne mal mehrere Tage oder Wochen weder am Gehsteig vor dem Theater noch im Fußgängertunnel vor dem Kaufhaus zu hören, hängt die Frage nach seinem Wiederauftreten in der Luft, die er durch den rauen Schostakowitsch-Walzer und das sizilianische Nino-Rota-Hauptthema des Spielfilms „Der Pate“ (original auf US-amerikanisch: „The Godfather“) doch so unnachahmlich mit harzigen Noten anzureichern vermag. 

Was Ionuț nicht abstreifen kann, sind genau die hartnäckigen Probleme, von denen schon Leidensgenossen wie Franz Schubert (1797-1828) Lieder zu singen pflegten: „Ich kann zu meiner Reisen/nicht wählen mit der Zeit,/muss selbst den Weg mir weisen/in dieser Dunkelheit“, heißt es gleich am Anfang der „Winterreise“ für Männerstimme und Klavier auf 24 Gedichte von Wilhelm Müller (1794-1827). Der Zyklus ist zwar schon fast 200 Jahre alt, aber noch immer glasklarer Spiegel der Welt des Nein zum Mitgefühl.

Keine Muße zum Nichtstun

Das schwarze Haar hat er stets nach hinten gekämmt, rasiert ist er auch, wenn man ihn zu Augen und Ohren bekommt. Etwas unorthodox schaut vielleicht die Haltung seiner rechten Hand auf dem Schraubfrosch des Bogens aus. Aber das macht ja nichts, denn wer auf Gedeih und Verderb geigen muss und sich nicht darauf verlassen kann, dass die Musik von gestern auch für morgen noch etwas abwirft, dem steht der Sinn nicht nach Perfektion. Für Ionuț lautet ein wichtiger Aspekt des Langzeiterfolgs überhaupt, sich bei Minusgraden keine Erfrierungen einzuholen. Mit Feinstimmern am Saitenhalter könnte er nicht viel anfangen, da es ihm beispielsweise winters nicht leicht fiele, daran zu drehen. 

Mit den vier Wirbeln am Kopf der Geige und seinen zehn hart im Nehmen geprüften derben Fingern an zwei nicht übermäßig großen Händen macht Ionuț sein Rennen. Dass ihm der Hunger sportlicher als uns allen anderen auf den Fersen ist, sieht man dem Ex-Schüler des Kunstgymnasiums Hermannstadt nicht an. Wenn es ihn nicht friert, er also seine Jacke beim Spielen offen trägt, zeigt das T-Shirt über Brust und zufrieden täuschendem Bauch auf schwarzer Baumwolle und rotem Aufdruck die weißen Lettern „JUST DO NOTHING“.
Schlicht das Letzte, was er sich eingestehen würde. Ein einziges Mal im Leben hat ihn die Versuchung beschlichen, es auszuprobieren. Als seine Eltern sich scheiden ließen, wollte es mit der Schule auf einmal nicht mehr wie gewünscht hinhauen. Liebend gerne wäre er mehr als sieben Jahre lang Schüler am Kunstgymnasium geblieben. „An der Schule war es schön“, raunt Ionuț bei einem Espresso draußen unterm Sonnenschirm des Bistros „Consommé“ von Koch und Ex-Trompeter Sami. „Englisch war mein Lieblingsfach“. Doch weil daheim der Haussegen schief hing, ließ er sich kurz gehen und spielte dem Schicksal die ungewollte Chance zu, seinen Aufschlag zu brechen. Was nicht nur im Tennis sofort wehtut.

„Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an“

Ob es nicht entmutigt, immer und immer wieder zu spielen, ohne dass öfter als alle sieben Pfingsten irgendjemand stehen bleibt, zuhört und einen Geldschein in den Kasten legt? Doch, das sei hart, räumt Ionu] ein. Aber die Musik ist nun mal sein Traum, den er nicht aufgibt. Ich probiere es andersrum: „Mit welcher Frage würdest Du den Politikern von Angesicht zu Angesicht ihre Sprache verschlagen wollen?“ „Oh, ich habe mit Politik nichts am Hut. Die haben doch nicht anderes im Kopf als ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu holen.“ Er macht sein Zeug und sie ihres. Tut nichts für mich, ich komm´ auch allein zurecht. Gibt seine Bitte nach oben durch. „Just do nothing“.

„Was fragen sie nach meinen Schmerzen?/Ihr Kind ist eine reiche Braut.“ Einem Vergleich mit der „Winterreise“ braucht kein Brainstorming voranzugehen, klar. Aber ein besserer fällt mir nicht ein. Vorgelegt hat auch Peter Härtling, der Vater Franz Theodor und Sohn Franz Peter als gegensätzliche Akteure sprechen und schweigen lässt: „Was fängst Du schon an mit deiner Musik. Nicht leben und nicht sterben wirst Du davon können.“ Am Küchentisch im Wiener Himmelpfortgrund war es wohl Essig mit Träumen. Doch genau wie viele andere vor ihm hat es auch Geiger Ionuț Gherbea in Hermannstadt faustdick hinter den Ohren, denn „die Leute verwechseln das eine mit dem anderen und glauben, dass ich bettle. Aber ich bettle nicht. Betteln ist Betteln und Kunst ist Kunst.“ Wie wahr.