Befreiung aus dem wörterlosen Körpergefängnis

Eine besondere Technik eröffnete dem Autisten Florin Müller die Welt der verbalen Kommunikation – heute schreibt er Bücher

Dreimal Florin Müller: links bei der Lesung aus „Die Reise zum leuchtenden Stern oder ein Astronaut im Weltall“, in der Mitte mit Therapeutin Hanne Kloth, die ihm den Weg zur schriftlichen verbalen Kommunikation erschloss. Fotos: privat

Slobozia, Juni 1998. Nur ein Blatt hatte man Birgit und Helge Müller aus Nassweiler, Saarland, in die Hand gedrückt. Darauf stand: Florin Marian Ionescu, Geburtsdatum: 2. 12. 1994, dazu ein Foto in Schwarzweiß. Das war fast zehn Jahre nach Ceauşescus Sturz, doch nicht lange genug, als dass die schlimmen Zustände in den rumänischen Kinderheimen, die die Welt erschüttert hatten, abgeschafft worden wären. Das Kind wurde ihnen splitternackt übergeben – seine zweite Geburt. Aus Florin Ionescu wurde Florin Müller.

Der dreieinhalbjährige Junge war 80 Zentimeter groß, wog zehn Kilogramm, konnte kein Wort sprechen und keine feste Nahrung zu sich nehmen – Sprechen und richtig Essen kann er bis heute nicht. Bei der Ankunft in Deutschland sagte der Kinderarzt, in seinem Zustand hätte er höchstens noch vier Wochen überlebt. Mit 20.000 D-Mark hatten ihm die Müllers das Leben neu erkauft. So viel kostete damals ein Kind aus einem rumänischen Heim. Birgit Müller war gelernte Krankenschwester, Helge Krankenpfleger, den 30-Jährigen war bewusst, welche Aufgabe sie sich aufgehalst hatten.

Was sie damals nicht ahnen konnten war, dass ihnen ihr Sohn ein drittes Mal geboren werden sollte. 2011 entdeckte Therapeutin Hanne Kloth an der Sonderschule für schwer geistig behinderte Kinder durch einen Zufall, dass der Junge lesen konnte! Und folgerte logisch: Wer lesen kann, kann vielleicht auch schreiben. Sie setzte Florin an den Laptop und stützte seinen Arm, eine spezielle Technik, um seine Motorik kontrollierbar zu machen. Da purzelten die Worte aus den Tasten:  „Ich bin nicht dumm! Ich will zeigen, dass ich etwas kann. Ich möchte einen richtigen Schulabschluss machen.“

„Florin ist eine Wundertüte“

Zehn Jahre später ist der 26-Jährige trotz immer noch schwerer körperlicher Behinderung mehrfach prämierter Dichter und Autor, malt, tritt zusammen mit seiner Therapeutin und inzwischen engsten Vertrauten auf Kongressen und Konferenzen auf - literarische, wo seine Gedichte und Kurzgeschichten  verlesen werden, oder solche für Sonderschulpädagogen, wo die beiden die Methode vorstellen, die Florin aus seinem Körpergefängnis befreite und ihm den Weg zur verbalen Kommunikation eröffnete. Nun bereitet sich der junge Mann auf seine vierte „Geburt“ vor: Sein sehnlichster Wunsch ist, seine Lebensgeschichte bekannt zu machen, um möglichst vielen Menschen die für ihn wichtigste Botschaft zu vermitteln: vom äußeren Eindruck niemals aufs Innere zu schließen!

„Florin ist eine Wundertüte“, staunt Hanne Kloth immer wieder. Heute muss sie ihn nur noch leicht am Knie stützen, um die überbordenden Muskelreaktionen aufzufangen, die ihn sonst am Schreiben hindern. Einen Stift kann er nicht führen. Doch mit Einschränkungen will sich Florin nicht zufrieden geben. Mithilfe von Schablonen und Acrylfarben hat er das Malen erlernt, einen eigenen Stil entwickelt. Nun illustriert er seine Bücher und Gedichte. Das Phänomen Florin Müller fasziniert nicht nur Therapeuten, sondern auch Literaten. „Diese Leute sagen, das ist Wahnsinn, er ist wirklich total verkopft“, begeistert sich Hanne Kloth.  „Darauf-hin hat er geschrieben: Was soll ich denn sonst machen, ich kann ja immer nur denken.“

Florins Traum ist auf dem besten Weg, in Erfüllung zu gehen. Zwei neue Bücher sind in Arbeit, eine Ausstellung mit seinen Gedichten und Bildern hängt gerade  in Hannover und letztes Wochenende erklärte ein junger Regisseur, er wolle Florin Müllers Leben verfilmen. Nun fühlt er sich nur noch von Corona ausgebremst. Ob das für September geplante Konzert des Kammerchors Hannover über sein Leben stattfinden kann - fünf Gedichte wurden hierfür von einem Komponisten vertont - steht noch in den Sternen. Und auch, wann die heißersehnte Reise nach Rumänien erfolgen kann, zu seinen drei Geschwistern, die mit Hilfe der deutschen Botschaft Bukarest auf abenteuerliche Weise ausfindig gemacht werden konnten, seither stehen sie mithilfe von Google Translate in herzlichem Kontakt.

Rückblicke und Rückschläge

Im Frühjahr 1998 stellten die Müllers den Antrag, ein Heimkind aus Rumänien zu adoptieren. Jahrelang hatten sie sich vergeblich eigene Kinder gewünscht. Ein Arzt bot ihnen an, ein Neugeborenes aus Rumänien zu beschaffen… Doch Kinderhandel wollten sie nicht fördern. Dann lieber eines aus dem Waisenhaus. In Rumänien waren Adoptionen  im Vergleich zu anderen Ländern billig und schnell. Ein Kurzbesuch für drei Tage, das Geld in US-Dollar bar über den Tisch geschoben. Mehr als 20.000 Mark hätten die Müllers gar nicht aufbringen können.

In Slobozia bot man ihnen ein einziges Kind an. Wenn ihr den nicht nehmt, kommt er ins Heim für „Nimmerlose“, hieß es. Was das sei? Das wollt ihr gar nicht wissen! Zwei Tage verbrachten sie dort mit dem Jungen. Reingucken durften sie nirgendwo. Nur zufällig erhaschten sie einmal einen Blick in einen Schlafsaal, wo die Kinder an Gitterbetten gefesselt waren, die Ärmchen von Nadeln zerstochen, genau wie Florin.

Wenn Florin heute ein solches Gitter sieht, werden unbewusste Erinnerungen wachgerufen. Dann kann es passieren, dass er wild um sich schlägt, sagt Hanne Kloth und erzählt, wie es ihr nur mit Mühe gelang, Florin bei der Schulabschlussprüfung zu beruhigen, weil der Stuhl Armlehnen hatte, die ihn an das Bettgitter erinnerten. Auch dies gehört zu seinem Leben: Traumata aus der Vergangenheit, die ihn manchmal einholen, brüsk und überwältigend. Angst vor der Dunkelheit. Schlaflosigkeit. Ständige innere Unruhe. Florin liebt  alles, was ihm Ruhe vermittelt. Sanfte Töne von klirrenden Gläsern, Christbaumkugeln, in die man hineinblasen kann, Glasharfenmusik.

Wieder zuhause, ging der Junge den Müllers nicht aus dem Kopf. Als sie ihn dann im August holen kamen, wurde er ihnen ohne Kleider, ohne alles übergeben. Nicht einmal das Stofftier, das sie ihm im Frühjahr mitgebracht hatten, existierte noch. Später schreibt Florin in einem Gedicht über die Macht des Geldes: „Es kamen nette Leute und kauften mich.“

Erste entfesselte Worte

In Deutschland diagnostizierten die Ärzte frühkindlichen Kanner-Autismus, damals kannte noch niemand die spezifischen Symptome, die sich später als typisch für rumänische Heimkinder aus den 1990er Jahren erwiesen und mit einem eigenen Krankheitsbild belegt wurden: „Institutional Autistic Syndrome“ (IAS). Dazu gehören Hospitalismus, Selbstzerstörung und unbedingtes auf sich aufmerksam Machen. Florin kann seine Feinmotorik nicht kontrollieren, nicht sprechen und nichts Festes schlucken, bis heute nimmt er nur pürierte Nahrung zu sich.

Die frischgebackenen Eltern ließen dem Jungen jede nur erdenkliche Förderung angedeihen: Ergotherapie, Sprachtherapie, Physiotherapie. Doch dass er sich zum verzärtelten Prinzen entwickelte, wussten sie zu verhindern. Vier Pflegekinder, alle traumatisiert und mit besonderen Bedürfnissen, haben sie neben Florin großgezogen.
Um mit ihrem Jungen besser kommunizieren zu können, belegte Birgit Müller einen Kurs für eine damals neue Methode, für Menschen mit Zerebralparese entwickelt. So lernte Florin mit etwa zehn Jahren, auf Bildkarten zu zeigen, was er wollte. 2010 wurde schließlich in der Sonderschule für schwer geistig behinderte Kinder, die er besuchte, eine stark vereinfachte Form der Gebärdensprache eingeführt, die Florin begierig aufnahm. Bis heute erfolgt damit der Großteil der spontanen Kommunikation zuhause.

2011 wurde dann eine Therapeutin zufällig auf den Jungen aufmerksam. Mit Erstaunen hatte Hanne Kloth beobachtet, wie er gebärdend mit der Lehrerin „verhandelte“, weniger Runden auf dem Schulhof laufen zu müssen, als  Strafe für schlechtes Benehmen. „Na, so stark behindert kann der ja wohl nicht sein“, dachte sie damals.

Eines Tages, als sie gerade mit einem Mädchen am Laptop arbeitete, setzte er sich einfach daneben. Fortan rückte ihr der neugierige Beobachter  nicht mehr von der Pelle. Sie beschloss, ihn zu testen: Er sollte Bild- und Wortkarten zuordnen, was ihm auf Anhieb gelang. Dafür muss man lesen können! „Schon den Eltern war aufgefallen, dass er ganz früh die Zeitung immer richtig herum hielt und stundenlang darin blätterte“ erzählt sie. „Wenn man sie ihm verkehrt herum gab, drehte er sie sofort wieder um!“

Literarische Höhenflüge

Mit dieser Entdeckung begann Florins beispielloser Höhenflug. Per Fernschule machte er einen normalen Hauptschulabschluss, Note 1,4. Die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. „Ich will ein Buch schreiben“, konfrontierte er Hanne Kloth. „Worüber willst du denn schreiben?“ fragte sie erstaunt. „Über mein Leben“, kam es prompt. Wie er so ein Buch denn beginnen wolle, provozierte sie ihn skeptisch. Da flossen die Buchstaben in den Bildschirm: „Es war kein glücklicher Umstand, der mein Dasein einst richtungsorientiert der Welt zukommen ließ. Zum Glück gehört Glück, und Glück war nicht mein diensthabender Begleiter, als ich am 2. Dezember 1994 fern eines Gedankens an glückliche Zukunft geboren wurde. Es war viel mehr ein Unglück, solch ein gebrochenes, erdfeindliches Wesen in solch eine erdfeindliche Welt zu entlassen, erdfeindlich, weil sie herzlos und erbarmungslos war.“

Heute ist Florin Müller Mitglied in überregionalen Autorengemeinschaften. 2017 erschien von ihm „Die Reise zum leuchtenden Stern oder ein Astronaut im Weltall“, 2018 „Worte und Bilder des Lebens: zwei autistische Freunde verleihen ihren Gefühlen Ausdruck“. Derzeit arbeitet er an einem zweisprachigen Kinderbuch, das Ende 2021 erscheinen soll, seinen rumänischen Nichten und Neffen gewidmet. In „Der tapfere kleine Feuerwehrmann“ (Carow Verlag) vermittelt er in einer spannenden Geschichte, unterstützt von Bildern und Rätseln, was es bedeutet, Autist zu sein. 2022 soll im selben Verlag ein Gesamtband über sein Leben erscheinen.

Das Glück trat in seinem Leben den Dienst verspätet an: Von der Mutter nach der Geburt im Krankenhaus zurücklassen, kurz danach war sie verstorben; vom überforderten Vater, Tagelöhner, dem Waisenhaus übergeben. Doch wichtiger als Glück sind vielleicht Hoffnung und Mut. Florin schreibt in einem 2015 preisgekrönten Gedicht:

Hoffnung.
Sie ist der Auslöser allen undenkbaren Mutes.
Sie trägt den furchtsamen Menschen dem richtigen Leben entgegen.
Hoffnung und Mut.
Zwei schwierige, aber großartige Freunde.
Hoffnung, sie ist stärker als Verzweiflung und Verhüter von Chaos selbstzerstörerischer Gedanken.
Hoffnung und Mut.
Lebensspender.