„Das Gesundheitswesen wurde kaputtgespart“

Warum der Corona-Virus Spanien mit voller Wucht trifft / Interview mit dem Pfarrer der deutschen Gemeinde in Madrid, Simon Döbrich

Pfarrer Simon Döbrich am Eingang zur Friedenskirche in Madrid

Madrid. 1864 fand der erste Gottesdienst für deutschsprachige Protestanten in Madrid statt. In der Folgezeit traf sich eine ständig wechselnde Gemeinde in unregelmäßigen Abständen an unterschiedlichen Orten zu Gottesdiensten. Seit 1870 gab es eine regelmäßige Seelsorge durch Pastor Fliedner, der diese neben seiner Tätigkeit in der Evangelisation Spaniens ausübte. Im Oktober 1903 konstituierte sich dann eine eigenständige Gemeinde. Im Januar 1904 wurde der erste Pfarrer von der Preußischen Landeskirche nach Madrid entsandt. 1905 erfolgte auf Antrag der Gemeinde der Anschluss an die „Preußische Union“, einen seit 1817 bestehenden Zusammenschluss der evangelisch-lutherischen und der evangelisch-reformierten Kirche in Preußen. Das Kirchengebäude mit Pfarr- und Gemeindehaus wurde mit Unterstützung des deutschen Kaisers Wilhelm II. erbaut und 1909 eingeweiht.

Heute entsendet die Evangelische Kirche in Deutschland/EKD jeweils einen Pfarrer aus ihren Gliedkirchen zum Dienst nach Madrid. Seit September 2015 ist der 44-jährige Pfarrer Simon Döbrich in der deutschen evangelischen Gemeinde von Madrid tätig. Er stammt aus Starnberg und gehört zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB). Er war von 2009 bis 2015 Pfarrer in Selb in Oberfranken. Döbrich ist auslandserprobt: von 2008 bis 2009 war er ein Jahr Auslandsvikar in Nicaragua. Im Interview äußert er sich zur aktuellen Lage in Madrid. Die Fragen stellte Jürgen Henkel.


Herr Pfarrer Döbrich, welche Beschränkungen gibt es für das Alltagsleben in Spanien?
Im Moment gibt es kein normales Alltagsleben mehr. Wir haben seit dem 14. März den Ausnahmezustand. Vor unserer Haustür ist ein Checkpoint der Polizei. Die Polizisten halten fahrende Autos und Fußgänger an und lassen sich Bescheinigungen zeigen, dass es beruflich nötig ist, sich jetzt zu bewegen.
Es ist nicht so, dass alles zusammenbricht. Wenn kein Wasser fließt, kommt der Installateur. Es ist immerhin kein Krieg. In Nicaragua habe ich schon zwei Ausgangssperren erlebt. Da war kein Einkaufen mehr möglich. Hier kann ich einkaufen gehen und auch meine Zeitung beim nächsten Kiosk holen. Aber das Alltagsleben ist zum Erliegen gekommen. Für die Spanier ist das hart. Sie leben gerne draußen. Doch 96 Prozent der Bevölkerung stehen dahinter. Berichte aus Deutschland von Corona-Partys stoßen hier auf Unverständnis.

In den deutschen Medien wird auf das Fußballspiel Bergamo-Valencia am 19. Februar in Bergamo verwiesen. Tausende Fußballfans hätten den Virus aus dem italienischen Virus-Herd Bergamo nach Spanien eingeschleppt. Sehen das die spanischen Medien ähnlich?
Spanien hat im Moment eine umstrittene linkspopulistische Regierung. Die erste Woche im Ausnahmezustand war politisch ruhig. Seit einer Woche arbeitet die Presse jetzt viele Fehler auf. Ich denke aber, der Hauptfehler war der Weltfrauentag am 8. März, den die linke Regierung noch mit Hunderttausenden Teilnehmern auf den Straßen von Madrid zelebrierte, obwohl schon am 29. Februar rund 200 Fälle in Madrid registriert waren. Das Fußballspiel wird diskutiert, aber die Vernetzung zwischen Spanien und Italien ist so eng, dass jedem klar war: Wenn der Virus in Italien zuschlägt, dann auch in Spanien.

Die Bilder von überfüllten Krankenhäusern und Intensivstationen aus Spanien sind erschreckend. Warum schlägt der Virus in Spanien so stark zu? Und warum wirkt das Gesundheitswesen so überfordert?
Das hat drei Gründe. Zum einen funktioniert das Leben hier viel stärker in Familienverbünden, die Menschen leben viel enger aufeinander. Wenn ein Schüler den Virus aus der Schule mitbringt, trifft‘s die ganze Familie und eben auch die Großeltern. Als zweites die hiesige Lebensweise mit Umarmungen und Küsschen, die viel stärker auf Sozialkontakten und Berührungen aufbaut. Und dann die Politik seit der Bankenkrise 2008. Auf Druck der EU wurde das Gesundheitswesen zu radikalsten Reformen gezwungen. Noch Anfang des Jahrtausends lag das spanische Gesundheitswesen im Ranking international unter den Top 10. Dann wurde es kaputtgespart. Das System ist in solchen Fällen eben nicht mehr leistungsfähig. Man wird in Spanien Gesundheitspolitik neu denken müssen.

Wie beurteilen Sie die Notfallmaßnahmen in Spanien?
Die Spanier können Notfallmanagement. So wurde ruckzuck ein Isolationskrankenhaus hochgezogen. Händeringend gebraucht werden aber Atemmasken, Schutzkleidung, elementarste Dinge. Wenn jemand auch nur 500 oder 1000 Stück schicken kann, möge man sich bei uns melden. Jede Hilfe ist willkommen.

Wie läuft in dieser Zeit das Gemeindeleben ab? Gibt es Gottesdienste? Wie wird die Seelsorge aufrechterhalten?
Für Gottesdienste haben wir umgeschaltet auf Podcast. Am Sonntag um 11 Uhr nehmen wir in der Kirche einen kurzen Gottesdienst auf und stellen ihn ins Netz. Das ist authentisch bis zur Akustik. Wir haben unsere Gemeindeglieder alle durchtelefoniert und halten so die Verbindung aufrecht. Das wird dankbar angenommen. Das ist auch die Stunde der analogen Kommunikation. Wenn man jetzt nichts macht, verlieren wir an Relevanz für die Leute. Unsere Gemeindeglieder sehen das ähnlich gelassen wie die meisten Spanier und kommen mit den Einschränkungen zurecht. Alle wissen, dass mit dieser Krankheit nicht zu spaßen ist.

Welche ganz persönlichen Einschränkungen erleben Sie und Ihre Familie? Könnten Sie jederzeit nach Deutschland zurückkehren?
Offiziell darf es derzeit kein physisches Gemeindeleben geben, daher sind wir abgeschirmt. Bisher hat nur einer aus dem engeren Gemeindeteam den Virus. In der Familie sind wir alle gesund, so ist es für uns als Familie auch keine Zeit der persönlichen Not. Es gibt auch in den Supermärkten keine existenzbedrohenden Einschränkungen. Bis auf einige Konserven ist im Supermarkt alles verfügbar, sogar frischer Fisch. Von Ausfliegen war bisher nie die Rede.

Wie eng ist derzeit Ihr Kontakt zur Deutschen Botschaft?
Ich halte engen Kontakt. Die Botschaft hat sehr zu kämpfen mit der Rückführung von gestrandeten Touristen. Das Unglaubliche: Bis heute treten Leute ihren Urlaub in Spanien an oder wollen verlängern und stellen vor Ort fest, dass das Hotel geschlossen werden muss. Dann stehen sie auf der Straße, müssen hohe Strafen zahlen und die Botschaft soll’s richten. Jüngst wollten einige Deutsche ihre Rettungsflüge nach Deutschland eine Woche „umbuchen“, weil ihnen diese angespannte Lage so gut gefällt. Wir können nur ermahnen: Bleibt im Moment zu Hause! Im Sommer freuen wir uns wieder über alle Touristen, die dieses tolle Land besuchen wollen.

Vielen Dank für das Gespräch.