Der Kampf um die französische Rechte

Valérie Pécresse
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Marine Le Pen
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Éric Zemmour
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Noch vor wenigen Wochen schien die französische Präsidentschaftswahl 2022 bereits unter Dach und Fach zu sein: Präsident Emmanuel Macron würde erneut Marine Le Pen von der rechtsextremen Partei Rassemblement National besiegen. Obwohl Le Pen 2017 ein Drittel der Stimmen erhielt – ein Ergebnis, das zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre – würde kein vernünftiger Mensch darauf wetten, dass sie sich 2022 gegen Macron durchsetzt.

Doch in der Politik gibt es keine Gewissheiten. Aufgrund neuer Entwicklungen wird die Wahl, die in zwei Runden am 10. und 24. April entschieden wird, viel offener und stärker von Wettbewerb geprägt sein als ursprünglich erwartet.

Ein neuer Faktor ist die Kandidatur von Éric Zemmour, einer französischen Version von Donald Trump, der zuvor als Fernsehkommentator bei der französischen Version von Fox News (CNews) auf sich aufmerksam machte. Als einwanderungsfeindlicher Nationalist wettert Zemmour regelmäßig gegen „politische Korrektheit“ und besteht darauf, dass man das Recht haben sollte, zu sagen, dass jemand schwarz ist, womit er eigentlich meint, dass man das Recht haben sollte, Rassist zu sein. 

So wie Trump, aber anders als Le Pen, will Zemmour Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse und das konservative Establishment hinter dem Versprechen von niedrigeren Steuern und einer Reform des öffentlichen Dienstes vereinen. Seine Mission ist klar, doch an der Umsetzung hapert es gewaltig. So hat er mit Aussagen wie „Frauen sind das Ziel und die Beute jedes begabten Mannes, der in die Gesellschaft aufsteigen will“ viele Wählerinnen verprellt.

Dann brachte Zemmour die traditionelle Rechte in Verlegenheit, indem er behauptete, der Chef des faschistischen Kollaborationsregimes aus dem Zweiten Weltkrieg, Marschall Philippe Pétain, habe in Wirklichkeit versucht, französische Juden zu retten, indem er ausländische Juden opferte. Zemmour hat auch behauptet, die Opfer eines Terroranschlags auf eine Schule in Toulouse seien keine echten Franzosen gewesen, weil sie in Israel bestattet wurden. Als Reaktion auf die Empörung, die diese Äußerungen auslösten, betonte er seine eigene Herkunft als algerischer Jude, dessen Eltern unter dem antisemitischen Gesetz Pétains zu leiden hatten.  Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – kommt Zemmour in den Umfragen auf knapp unter 15 Prozent. Damit liegt er zwar in der ersten Runde gleichauf mit Le Pen, hat aber letztlich keine Chance mehr, gewählt zu werden. Die Frage ist also, wer die Wähler, die er an sich binden konnte, für sich gewinnen wird. Wird er an seiner Basis festhalten, oder wird er sie dazu bringen, Le Pen zu unterstützen? Im letzteren Fall könnte seine Präsidentschaftskandidatur am Ende die Kandidatin stärken, der sie bisher am meisten geschadet hat. Viele seiner Anhänger könnten aber auch den Weg zur traditionellen Rechten finden, die eifrig nach einer Figur gesucht hat, die in der Lage ist, Wähler aus der Arbeiterklasse mit den Interessen der Elite in Einklang zu bringen.

Damit kommen wir zum zweiten großen Faktor, der das Rennen um die Präsidentschaft kompliziert gemacht hat. Nach einer gut organisierten internen Vorwahl hat die traditionelle konservative Partei Les Républicains kürzlich die Kandidatur von Valérie Pécresse verkündet, der derzeitigen Regionalpräsidentin der Hauptstadtregion Île-de-France und ehemaligen Hochschul- und Haushaltsministerin unter Präsident Nicolas Sarkozy.
Pécresse setzte sich mit 20 Punkten Vorsprung gegen ihren Herausforderer Éric Ciotti durch. Vor den Vorwahlen machte Ciotti deutlich, dass er für Zemmour und nicht für Macron stimmen würde, wenn er sich entscheiden müsste. Seitdem hat er allerdings Pécresse unterstützt, was sie an die Spitze eines möglichen Bündnisses zwischen den traditionellen Konservativen und der radikaleren rechten Wählerschaft stellt. Umfragen zeigen nun, dass Pécresse durchaus gewählt werden könnte, wenn sie die zweite Runde erreicht. Vieles wird also davon abhängen, ob Zemmour Le Pen in der ersten Runde genug schwächt, um sie aus dem Rennen zu werfen und Pécresse weiterzuschicken.

Die französische Linke hingegen ist praktisch nicht mehr vorhanden. Nach dem Bruch vor fünf Jahren, als sich die Wählerschaft hinter Macrons zentristischem Programm versammelte, scheint die Linke jetzt nur noch rund 25 Prozent der Wählerinnen und Wähler zu repräsentieren, deren Loyalität auf drei oder vier Kandidaten verteilt ist, die kaum miteinander sprechen. 

Vorbei sind die Zeiten, in denen Industriearbeiter zuverlässig die Kommunistische Partei unterstützten. Die Wähler aus der Arbeiterklasse, die von der extremen Rechten angezogen werden, haben ein ganz anderes Profil. Die meisten von ihnen arbeiten in handwerklichen Bereichen und sind soziologisch gesehen eher Chefs kleiner Unternehmern als Fabrikarbeiter. Viele arbeiten selbstständig als Pflegekräfte oder Lkw-Fahrer, wie die emblematischen Figuren der Bewegung der gilets jaunes (Gelbwesten), die Ende 2018 gegen die von Macron vorgeschlagene Erhöhung der Treibstoffsteuer aufbegehrten.

Meine eigenen Untersuchungen, die ich gemeinsam mit Yann Algan, Elizabeth Beasley und Martial Foucault durchgeführt habe, ergaben, dass die Le Pen-Wähler 2017 ein unterdurchschnittliches Maß an zwischenmenschlichem Vertrauen aufwiesen – und das in einem Land, in dem das soziale Vertrauen ohnehin sehr gering ist. Das tiefe Misstrauen dieser Wähler kann viel dazu beitragen ihre Einwanderungsfeindlichkeit und ihren Widerstand gegen Umverteilung zu erklären, die als Mechanismus zur Subventionierung „anderer“ betrachtet wird.

Macrons größter Trumpf ist, dass er als Schutzschild gegen die extreme Rechte betrachtet wird – zumindest so lange, bis sich jemand anderes erhebt, um diese Rolle zu beanspruchen.


Daniel Cohen ist Präsident des Verwaltungsrates der Paris School of Economics. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „The Inglorious Years: The Collapse of the Industrial Order and the Rise of Digital Society“ (Princeton University Press, 2021).