„Die einzige Chance der dauerhaften Modernisierung“

Gespräch mit dem Temeswarer Professor für Ökonomie, Dr. Silviu Cerna

42 Jahre lang unterrichtete er Volkswirtschaftslehre, Finanzwirtschaft und Geldpolitik an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der West-Universität Temeswar, zwischen 1992 und 2009 war er Vorstandsmitglied der Notenbank Rumäniens. Professor Dr. Silviu Cerna gilt als angesehener Fachmann für Finanzfragen sowie ausgezeichneter Experte für Transformationsfragen. Der Banater Professor verfolgt mit großer Aufmerksamkeit den Werdegang Rumäniens nach 1989, in mehr als 100 Fachbeiträgen, sieben Lehrbüchern und 19 anderen Büchern zu wichtigen Fragen der Volkswirtschaftslehre, der ökonomischen Entwicklung Rumäniens und der Geschichte volkswirtschaftlichen Denkens in Rumänien hat sich Professor Cerna immer wieder für Liberalismus, Marktwirtschaft, freies Unternehmertum und individuelle Verantwortung ausgesprochen. Zum Abschluss der dreiteiligen ADZ-Serie über das erste EU-Jahrzehnt Rumäniens sprach Professor Dr. Cerna mit Dr. Dan Cărămidariu.

Herr Professor Cerna, war Rumänien am 1. Januar 2007 darauf vorbereitet, Mitglied der Europäischen Union zu werden? Andererseits, war die EU vorbereitet, Rumänien aufzunehmen?

Römischen Ursprungs, aber dem östlichen Christentum angehörend, haben die Rumänen nie aufgehört, sich für Europäer zu halten. Vor 1989 war Rumänien einer der wenigen Ostblockstaaten, der Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft unterhalten hat, aber dies hat eigentlich kaum zur Verbesserung der Lage in der rumänischen Gesellschaft beigetragen, sondern eher zur Stärkung des Ceauşescu-Regimes. Festzuhalten ist, dass die Bevölkerung im Dezember 1989 richtig euphorisch war, weil man fälschlicherweise geglaubt hat, dass politische Freiheit auch westlichen Wohlstand bringen wird. Dies geschah nicht, weil die neuen Machthaber sich für eine graduelle Transformation entschieden hatten. Sie haben allzu lange Reformen aufgeschoben, sodass die Marktwirtschaft nicht Fuß fassen konnte. Reformen fanden nur mühsam statt, sodass die Ungleichgewichte der sozialistischen Planwirtschaft nicht abgebaut wurden, sondern sogar zunahmen. Dies führte zu sozialen Unruhen, die natürlich die Annäherung an Europa verlangsamt haben.

Erst nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Februar 2000 beschleunigte sich das Reformtempo, aber es dauerte noch fast fünf Jahre, bis die Europäische Kommission dem Land den Statuts einer funktionsfähigen Marktwirtschaft anerkennen konnte. Sodass Rumänien erst 2007, nach 16 wirren Transformationsjahren, endlich der EU beitreten konnte. Den historischen Rückstand allerdings gab es 2007, genauso wie es ihn auch weiterhin gibt. Die Hoffnung, dass die Rückkehr nach Europa auf wundersame Art und Weise die Krankheiten des Kommunismus heilen kann, hat sich nicht bewahrheitet. Alles in allem war Rumänien nicht unbedingt auf den Beitritt vorbereitet, die Europäische Union selbst eher schon, die Position Rumäniens innerhalb der EU ist keine so bedeutende, dass die EU unseren Beitritt nicht zu verkraften in der Lage war.

War die Hoffnung auf Heilung durch Europa derart verfehlt?

Ja, weil nach dem Beitritt die Reformen fast vollständig eingestellt wurden. Ihre Verlangsamung oder sogar Einstellung ist auf das bewusste Handeln rumänischer Eliten zurückzuführen, die äußerst versiert sind, wenn es darum geht, Änderungen vorzutäuschen. Rumäniens Establishment hat den Großteil des gemeinschaftlichen Besitzstands sowie den Brüsseler Jargon übernommen, aber das wohl nur zum Zwecke, naive Eurokraten davon zu überzeugen, dass Rumänien europäische Normen und Werte verinnerlicht hat. Sei es aus Bequemlichkeit oder aus schierer Inkompetenz, haben die Institutionen der EU allmählich alle Erklärungen sowie das Verhaltensmuster rumänischer Eliten akzeptiert. Mit dem Ergebnis, dass der erhoffte Europäisierungsprozess durch eine Eurobalkanisierung ersetzt wurde. An der Oberfläche stimmt also alles, aber das balkanische Muster der Kontrolle einiger weniger über die gesamte Gesellschaft hat sich durch den Beitritt zur EU sogar verfestigt.

In der Tat, der allgemeine Eindruck ist, dass die EU-Mitgliedschaft die sogenannte Jagd nach politischen Renten kaum berührt hat. Weiterhin scheint jeder eine von Steuergeldern bezahlte Stelle zu suchen. Wie ist das zu erklären?

Den Medienberichten über zahlreiche Korruptionsaffären in Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen ist zu entnehmen, dass die Jagd nach Renten profitabler ist als jedwede produktive Tätigkeit. Das Phänomen des rent seekings ist weiterhin an der Tagesordnung, die sogenannten ‚cleveren Jungs’ (băieţii deştepţi) sind in der ganzen Volkswirtschaft zu finden: im Energiesektor, im Straßenbau, in der Abfallwirtschaft. Viele Rumänen haben begriffen, dass staatlich verliehene Privilegien höhere Gewinne bringen als das reine, risikobelastete Unternehmertum. Geht man Geschäfte mit dem Staat ein, hat man grundsätzlich nichts zu befürchten. Solange die Staatsanwaltschaft nicht eingreift, was ja in jüngster Zeit immer wieder passiert ist.

Kurz: Rumänien ist anders, so sagt es der Historiker Lucian Boia. Der rumänische Exzeptionalismus, ein von Vladimir Tismăneanu eingeführter Begriff, hängt vor allem mit der Jagd nach Renten zusammen, die von verschiedenen Interessenkreisen betrieben wird, die den Staat in Geiselhaft genommen haben und in der Regel einschneidende wirtschaftliche Reformen blockieren. Nichtsdestotrotz: Es gibt in Rumänien eine freie Wirtschaft, und die hat vom EU-Beitritt maßgeblich profitiert.

Herr Professor Cerna, hat die Mitgliedschaft in der EU dem Land während der Krise 2008 – 2009 geholfen? Hätte Rumänien vielleicht außerhalb der EU die Krise leichter bewältigen können?

Der Ausbruch der Krise im Jahre 2008 hat zur Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage Rumäniens geführt. Zur Verschlechterung hat natürlich auch die unvorsichtige Politik der Regierung in den Jahren vor 2008 geführt. Im Frühjahr 2009 hat Rumänien eine lebenswichtige Hilfe vom Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union erhalten, in Gesamthöhe von knapp 13 Milliarden Euro. Dazu kommt die in Wien getroffene Vereinbarung der Notenbank Rumäniens und der wichtigsten Privatbanken, die in Rumänien tätig sind, die sich verpflichtet haben, ihre Kapitalströme nach Rumänien nicht einzustellen und ihre hiesigen Töchter zu unterstützen. So konnte die Regierung einen Staatsbankrott abwenden, aber die gewonnene Zeit hat das Land nicht dazu genutzt, die Wirtschaft auszubauen und den Staat zu reformieren, obwohl die großen demokratischen Mächte, mit denen Rumänien zum ersten Mal in seiner Geschichte verbündet ist, dem Land diese Chance geboten haben.
Die Antwort ist also einfach: Keine Chance außerhalb der EU, man soll sich da nichts vormachen.

Zehn Jahre nach dem Beitritt scheint Rumäniens Volkswirtschaft in der europäischen relativ gut integriert zu sein. Hat das Land seinen Platz in der Union gefunden?

Eher nicht, und das hängt wieder einmal mit der Jagd nach Renten zusammen. Man schaue sich den Konvergenzprozess an, da geht es um Finanzstabilität, die Privatisierung des Staatseigentums, die Liberalisierung der Märkte, den Aufbau marktfördernder Institutionen. Die Rumänien beherrschenden Interessenkreise können nur eine begrenzte Konvergenz akzeptieren, die zu einem eingefrorenen Gleichgewicht führt. Es gibt Privateigentum, aber es fehlt der wettbewerbliche Rahmen. Unternehmeri-sche Chancengleichheit gibt es nicht, weil einige Unternehmer bevorzugt werden. In einem solchen Umfeld können also nur jene Reformen durchgeführt werden, die die wirtschaftlichen Interessen der Herrschenden nicht direkt beeinträchtigen. Man kann also die Notenbank stärken, man kann den Staatshaushalt modernisieren, man kann den Verwaltungsapparat umbauen, das Beamtentum neu regeln. Aber man kann nur schwer das Steuerwesen reformieren oder die Lokalautonomie stärken, da leisten besagte Interessengruppen heftigen Widerstand.

Welcher wäre der größte Vorteil der EU-Mitgliedschaft? Kann trotz Ihren bisherigen Ausführungen von einem neuen institutionellen Modell in Rumänien gesprochen werden?

Ansatzweise vielleicht. Schauen Sie, in jüngster Zeit beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit allerlei protektionistischen Maßnahmen, wie zum Beispiel Subventionen, die 51-Prozent-Quote rumänischer Lebensmittel in den Supermärkten, Restriktionen beim Landkauf für Ausländer, ein Ladenschlussgesetz usw. Als Grund für solche Maßnahmen wird die Notwendigkeit der Stärkung des einheimischen Kapitals angeführt, aber mit der echten Stärkung des einheimischen Kapitals hat das nichts tu tun. Ich bin der Ansicht, dass solche Gesetzesvorschläge die rumänische Volkswirtschaft negativ beeinflussen werden, ganz zu schweigen davon, dass sie gegen geltendes internationales und EU-Recht verstoßen.

Das gilt auch für bereits beschlossene Gesetze im Bankenwesen, die angeblich Kreditnehmer entlasten sollen. Das ist Populismus, Antikapitalismus, antiwestliche und antieuropäische Rhetorik. Darüber hinaus haben wir es mit echten Gefahren für die makroökonomische Stabilität des Landes zu tun, die es zu vermeiden gilt. Im zehnten Jahr nach dem EU-Beitritt sind also zahlreiche Schatten auf dem großen Bild zu finden. Unvorsichtig gehen die Regierungen mit Steuerkürzungen vor, das Gesundheits- und das Bildungswesen sind im allgemein bekannten absolut maroden Zustand, die Verwaltung funktioniert mehr schlecht als recht. Mit anderen Worten, der Europäisierungsprozess stockt, die Unzufriedenheit der Bevölkerung wächst entsprechend. Nur noch 42 Prozent der Rumänen hatten im Sommer von der EU ein positives Bild, das sind um 15 Prozent weniger als ein Jahr zuvor.

Kann nach 2007 von einem Landesprojekt gesprochen werden? Was will dieses Land, welches Ziel verfolgen seine Eliten nach dem erfolgten Beitritt?

Das Thema des Landesprojekts ist ein Dauerbrenner. Eben weil Rumänien, nach langen Stagnationsperioden, immer wieder schnell aufholen wollte. Und weil immer wieder Fachleute herangezogen worden sind, um dem Land mit der Genauigkeit des Ingenieurs Projekte und Strategien zu verabreichen. Aber auch diese Fachleute sind, wie Lucian Boia festgestellt hat, oft in die Fallen der Geschichte getappt. Ein Teil der Attraktivität des Themas Landesprojekt ist wohl auf die Ähnlichkeit des Projekts zur Errichtung der vielseitig entwickelten sozialistischen Gesellschaft von früher zurückzuführen.

Aber das kommunistische Experiment war ein Reinfall und das müsste alle aufhorchen lassen, die weiterhin an wissenschaftlich fundierte soziale Experimente denken – ob sie nur gewisse Nostalgien hegen oder einfach an der chronischen Ineffizienz der Demokratie verzweifeln. Und dann ist natürlich auch die Enttäuschung zu nennen, die aus der EU-Mitgliedschaft entstanden ist. Ich bin aber der festen Ansicht, dass das Aufoktroyieren eines Landesprojekts mit den Prinzipien der freien Gesellschaft, der Marktwirtschaft und des demokratischen politischen Systems nicht vereinbar ist. Wir brauchen kein im Labor erstelltes Landesprojekt, sondern freies Unternehmertum, Risikobereitschaft und Bildung.

Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Terrorattacken, Extremisten auf Erfolgskurs: Geht es bergab mit der Europäischen Union? Und bleibt in diesem Kontext Rumäniens proeuropäische Einstellung die richtige? Bleibt die Einführung des Euro noch ein wünschenswertes Ziel?

Ich will hoffen, dass die Europäer durch die von Ihnen genannten Realitäten wachgerüttelt werden. Für Europa dürfte nun die Stunde der allerletzten Chance geschlagen haben, den Vereinigungsprozess abzuschließen. Höchstwahrscheinlich droht ein Desaster, wenn diese Chance verloren geht. Rumäniens proeuropäische Einstellung bleibt aktuell und richtig. Eine andere Möglichkeit gibt es über-haupt nicht, für uns bleibt Europa die einzige Chance der dauerhaften Modernisierung. Wenn wir also annehmen würden, dass wir ein Landesprojekt doch brauchen, dann nur als Anker proeuropäischer Kräfte. Die Einführung des Euro könnte ein Ziel sein, denn die Einführung der Einheitswährung fordert eben die Konvergenz, von der ich am Anfang sprach. Die reale und die nominale Konvergenz. Auf dieses Ziel muss im Inland hingearbeitet werden.

Herr Professor Cerna, vielen Dank für das Gespräch.