„Die machen gar nichts“

Die Schwierigkeiten junger Rumänen bei der Integration in den Arbeitsmarkt

Prozentsatz der 20- bis 34-Jährigen, die weder eine Schule besuchen noch einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit nachgehen, im europäischen Vergleich (2018) Quelle: Eurostat

Ein nicht unerheblicher Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Rumänien besucht keine Schule, befindet sich nicht in Ausbildung und geht auch keiner Lohnarbeit nach – ein Problem, das in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand des öffentlichen Diskurses war. Es handelt sich dabei nicht um ein genuin rumänisches Phänomen, wie die Zahlen von Eurostat zeigen: Im EU-Schnitt sind aktuell 14,1 Prozent der 20- bis 34-Jährigen betroffen, wobei den höchsten Prozentsatz Italien mit 24,8 Prozent, gefolgt von Griechenland mit 22,3 Prozent aufweist – die beiden Staaten also, in denen die Wirtschaftskrise von 2008 einen massiven Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit verursacht hatte. Bulgarien (19,1 Prozent) und Rumänien (18,0 Prozent) folgen allerdings dicht auf.  Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nennt andere Zahlen: Hier sind es 12,3 Prozent der 15- bis 29-jährgien Rumänen, die offenbar „nichts tun“ – ein Grund dafür ist, dass bei dieser jüngeren Gruppe noch ein höherer Anteil die Schule besucht. Erfreulich ist, dass die Zahlen EU-weit im Sinken begriffen sind, auch in Rumänien ließ sich 2015 eine Trendwende verzeichnen. Hier macht sich das Abklingen der Krise bemerkbar. 

In den 1990er Jahren hat sich in Großbritannien der Begriff NEET (Not in Education, Employment, or Training / Nicht in Schulbildung, Anstellung oder Berufsbildung) durchgesetzt und ist inzwischen ein geläufiger Terminus, auf den auch die EU-Institutionen, die sich im Zuge verschiedener Initiativen mit dem Problem beschäftigen, zurückgreifen.

Die Gründe dafür, warum junge Menschen „nichts“ machen, sind vielfältig – oft liegt der Situation ein Konglomerat aus sozialen, ökonomischen und persönlichen Ursachen zugrunde. Die „Klassiker“ sind Armut, niedriger Bildungsgrad und Ausbildungen, deren Inhalte sich nicht am Arbeitsmarkt orientieren. Hinzu kommen gruppenspezifische Gründe, wie etwa Mutterschaft, die fast ausschließlich weiblichen Jugendlichen Bildung oder Erwerbstätigkeit verunmöglicht; oder begrenzte Mobilität im ländlichen Raum – Probleme also, die große Teile der Bevölkerung betreffen, sich aber auf die Erwerbsmöglichkeiten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders gravierend auswirken. 

Diese sind überdurchschnittlich stark von sozioökonomischer Ungleichheit betroffen, wie die Friedrich-Ebert-Stiftung feststellt. Diese wuchs in Rumänien in den letzten Jahrzehnten rasant: Noch in den 1990er Jahren verzeichnete das Land den gleichen Gini-Koeffizient (ein statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichverteilung) wie Schweden, heute gibt es kaum ein EU-Land, in dem  Einkommen und Vermögen der (schmale) oberen und (breiten) unteren Schicht weiter auseinanderklaffen.
Diese Ungleichverteilung zeigt sich auch beim Zugang zu Bildung: Hier verzeichnet Rumänien nach Malta die höchste Ungleichheits-Rate. Laut dem Education and Training Monitor 2019 der Europäischen Kommission konnten im Jahr 2018 nur etwa ein Viertel der 30- bis 34-jährigen Rumänen einen Hochschulabschluss vorweisen (40,7 Prozent im EU-Schnitt), gleichzeitig ist die Anzahl an Jugendlichen, die die Schule vorzeitig verlassen, extrem hoch: Sie lag 2018 bei 16,4 Prozent und damit weit über dem EU-Durchschnitt (10,6 Prozent). Auffallend ist auch, wie konstant diese Zahl ist: Während sie EU-weit von 2009 bis 2018 um 5,8 Prozent gesunken war, verzeichnet Rumänien im selben Zeitraum eine Reduktion um nur 0,2 Prozent. 

Der erreichte Bildungsgrad hat natürlich direkte Auswirkungen auf die Berufschancen von Jugendlichen – die NEET-Rate derjeniger, die nur einen mittleren Bildungsgrad erwerben konnten, liegt sechsmal höher als unter denjenigen, die höhere Bildung durchlaufen konnten. Auch das Stadt-Land-Gefälle ist in Rumänien besonders hoch – die Quote an NEETs ist im ländlichen Raum signifikant höher, sie übersteigt die des urbanen Raumes um 12,6 Prozent.
Die Bruchlinien verlaufen entlang der „üblichen“ Kategorien von Chancenungleichheit – Klasse, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit. Kurz gesagt: Ein weißer Junge aus einer mittelständischen  Familie, die in einer Stadt lebt, läuft weitaus weniger Gefahr, an der Integration in den Arbeitsmarkt zu scheitern, als ein Roma-Mädchen aus einem armen Dorf. Auch behinderte Jugendliche und solche, die in staatlichen Institutionen aufgewachsen sind, sind allgemein von sozialer Exklusion stark betroffen und dementsprechend in der Gruppe der NEETs massiv überrepräsentiert.

Auch dies lässt sich für ganz Europa feststellen, allerdings ist die Chancenungleichheit in Rumänien in manchen Bereichen deutlich stärker ausgeprägt als in anderen Staaten: Beispielsweise liegt die Geschlechterdifferenz im EU-Schnitt bei 6,7 Prozent, in Rumänien fast doppelt so hoch bei 12,9 Prozent: Fast ein Viertel der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 34 Jahren sind weder erwerbstätig noch in Ausbildung. Dem liegen soziale Konventionen und tradierte Geschlechterrollen zugrunde: Die Pflichten von Frauen werden in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verortet – Haushalt, Erziehung, Pflege etc. –, nicht im Lohnerwerb. Hinzu kommt, dass diese Rollenbilder Frauen nur wenige und meist schlecht bezahlte Berufsfelder zuweisen, und dass außerdem der Arbeitsmarkt Frauen bei Erfüllung dieser Rollenbilder benachteiligt: Die Verpflichtungen, die die Geburt eines Kindes mit sich bringt, schränken die Verfügbarkeit der Arbeitskraft von Müttern massiv ein, die von Vätern dagegen kaum: Dementsprechend stellen Arbeitgeber eher junge Männer als junge Frauen ein. 
Besonders schwerwiegend zeigen sich die Auswirkungen, wenn mehrere Faktoren sich summieren: Während bereits bei jungen männlichen Roma die NEET-Rate mit knapp über 50 Prozent weit über dem Durchschnitt liegt, beträgt sie bei jungen Romnija gar 77 Prozent. Diese erschreckende Zahl ist das Ergebnis einer Überschneidung von eingeschränktem Zugang zum Bildungssystem und eingeschränkter Mobilität, aber vor allem ethnischen Zuschreibungen und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen – Phänomene, die einander auch untereinander bedingen.

Um dem Problem entgegenzuwirken, wurde 2013 von der Europäischen Union „Youth Guarantee“ ins Leben gerufen – ein Programm zur Unterstützung von Menschen unter 25 Jahren in Regionen mit hoher Jugendarbeitslosenquote. Dabei soll den Betroffenen innerhalb von vier Monaten nach Schul- oder Ausbildungsabschluss beziehungsweise dem Verlust des Arbeitsplatzes eine Ausbildungs-, Praktikums- oder Arbeitsstelle vermittelt werden. Die Maßnahmen reichen von Beratung bis zur Finanzierung von Arbeitsplätzen. Die Erwerbslosenquote unter Jugendlichen und jungen Menschen ist seit Initiierung stark gesunken, was aber, wie der europäische Trend, vermutlich zu großen Teilen mit dem Abflauen der Krise von 2008 begründet werden kann. 
In Rumänien war das Programm unter dem Namen „Garan]ia pentru Tineret“ in zwei Phasen implementiert worden: 2014-15 und 2017-2020. Während der ersten Phase waren 27 Jugendzentren eröffnet worden, aber die Ergebnisse blieben hinter den Erwartungen weit zurück: Weniger als einer von fünf betroffenen Jugendlichen war erreicht worden, was vor allem an mangelhafter Umsetzung liegen dürfte – so gaben nach einer Studie des Centrul Român de Politici Europene neun von elf AJOFM-Büros (Agenției Jude]ene pentru Ocuparea Forței de Muncă) an, von dem Programm und den Zentren nichts zu wissen – an diesen wichtigen Anlaufstellen wurde also auch niemand darüber informiert. 

Von denjenigen, die dennoch in das Programm gelangten, hatte einer von zwei nicht in den vorgesehenen vier Monaten einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz erhalten. Ob die Wirkung zumindest bei den wenigen erfolgreichen Fällen nachhaltige war, ist nicht bekannt, da es keine Follow-up-Maßnahmen gibt – von einem Großteil der Betreuten weiß man nicht, wie sich ihre berufliche Situation weiter entwickelte. Nach einem Jahr wurden die Zentren wieder geschlossen.
Bei der Wiederaufnahme im Jahr 2017 war das Programm komplexer aufgestellt und wurde beispielsweise vom Projekt INTESPO (Înregistrarea Tinerilor în Eviden]ele Serviciului Public de Ocupare) flankiert, das NEETs ausfindig machen und zur Registrierung im SPO (Serviciul Public de Ocupare) bewegen soll. Neu war auch, dass der Prozess personalisiert gestaltet wurde, was den unterschiedlichen Situationen und Bedürfnissen der Betroffenen Rechnung trägt – die Heterogenität der Gruppe macht vielfältige Lösungsansätze notwendig. Außerdem wurde expliziert, dass den gefährdetsten Gruppen besondere Aufmerksamkeit gälte – also Jugendliche, die in staatlichen Institutionen aufgewachsen, behindert oder Roma sind. 

Dennoch konstatieren 2018 die Autoren eines Berichts der Europäischen Kommission, dass nur 14 Prozent aller NEETs registriert und vor allem benachteiligte und unterqualifizierte Jugendliche nicht erreicht worden waren. Die Implementierung des Programms hätte zwar positive Effekte gezeigt, die Maßnahmen wären aber weiter unzureichend. Dies dürfte zu einem Gutteil darauf zurückzuführen sein, dass die von der Europäischen Union bereits 2013 zur Verfügung gestellten Mittel bei Weitem nicht ausgeschöpft wurden: Von den 330 Millionen Euro, die Rumänien in die Zukunft seiner Jugend investieren könnte, wurden bis dato nicht mehr als drei Prozent ausgeschöpft. 
Weitere interessante Rückschlüsse liefert eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung: Als wichtigsten Faktor für Erfolg auf dem Arbeitsmarkt schätzen die befragten Jugendlichen den Bildungsgrad ein (54,6 Prozent), gefolgt von Glück (53 Prozent) und Beziehungen (44,3 Prozent). Auf das Glück hat niemand Einfluss – aber auch Bildung und Beziehungen werden vererbt, der Zugang dazu hängt stark ab vom sozioökonomischen familiären Hintergrund. Das heißt, dass die Befragten als drei wichtigste Faktoren solche nennen, auf die sie selbst wenig bis keinen Einfluss haben. 

Dem kann insofern zugestimmt werden, dass es sich beim Phänomen NEET um ein strukturelles Problem handelt, das nicht auf individueller, sondern nur auf politischer Ebene gelöst werden kann. Aber selbst wenn nicht 97 Prozent der EU-Gelder ungenutzt liegen gelassen, sondern das Garanția-pentru-Tineret-Programm bestmöglich umgesetzt worden wäre, stellt dies nur eine punktuelle Maßnahme dar – die Wurzeln des Problems gehen weitaus tiefer: Rumänien hat nicht nur europaweit, sondern weltweit eine der höchsten Raten an Kinderarmut – und Armut ist einer der wichtigsten Faktoren bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Bildung ist ein weiterer wichtiger Faktor: Im Jahr 2016/17 besuchten elf Prozent der rumänischen Kinder im Grundschulalter keine Schule, für sie schließen sich bereits als Sechs- bis Zehnjährige viele Türen in eine Zukunft ohne Armut. Die Kinder, die zur Schule gehen, finden dort oft desaströse Zustände vor – im Jahr 2017 waren beispielsweise 38 Prozent der Schulen im ländlichen Gebiet nur mit einer Außentoilette, ohne fließend Wasser oder Abwassersystem, ausgestattet (im urbanen Raum betraf dies nur 7 Prozent). Dieser und viele andere Missstände im Bildungsbereich lassen sich darauf zurückführen, dass das rumänische Bildungssystem finanziell ausgehungert ist – mit nur 3,7 Prozent wendet Rumänien den EU-weit niedrigsten Anteil am Bruttonationaleinkommen dafür auf. Diese Zahlen weisen auf eine gewisse systemische Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen durch die rumänische Politik hin. 

Eine Erklärung dafür vermuten die Autoren der von der Friedrich- Ebert-Stiftung herausgegebenen Studie in der demographischen Verteilung der rumänischen Bevölkerung: Das Verbot jeglicher Geburtenkontrolle ab 1966 und die dadurch erzwungene hohe Geburtenrate, sowie deren starke Senkung ab den 1990er Jahren resultieren in einer Überrepräsentation von Bürgern mittleren und einer Unterrepräsentation von Bürgern jungen Alters in der Bevölkerung. Als Wählerschaft stellen diese daher keine relevante Gruppe dar, es ist also für jeden Politiker erfolgversprechender, die Interessen der mittleren und älteren Altersgruppe zu vertreten.
In einer Studie des Institut Național de Statistică (INS) von 2011 steht über als NEET klassifizierte Jugendliche, dass diese weder lernen noch arbeiten würden, und mit Verweis auf den hohen Anteil an Mädchen heißt es weiter – „ein Fünftel von ihnen macht gar nichts“. Dem ließe sich entgegnen, dass gerade unter den Mädchen wohl viele in häusliche und familiäre Pflichten eingebunden sind, und dass außerdem ein unbekannter Anteil dieser jungen Menschen im informellen Sektor oder der Subsistenzwirtschaft tätig ist. 

Außerdem zeigt die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass selbst eine erfolgreich durchlaufene Bildungskarriere oft nicht zum erwünschten Arbeitsplatz führt. 36,6 Prozent der berufstätigen jungen Erwachsenen gaben an, in einem nicht ihrer Ausbildung entsprechenden Beruf zu arbeiten, und 21,8 Prozent schätzen sich als überqualifiziert ein. Auch hier bedarf es Investitionen – zu viele Universitätsabsolventen landen in Callcentern; wer das nicht will, dem bleibt oft nur die Emigration. Momentan bietet der rumänische Arbeitsmarkt also minder- wie hochqualifizierten jungen Rumänen nicht allzu viele Möglichkeiten.
Es wäre also konstruktiver, den der eben zitierten Aussage inhärenten Vorwurf der Untätigkeit nicht an die leidtragenden Jugendlichen zu richten, sondern an die Akteure und Institutionen, in deren Macht es tatsächlich steht, die berufliche Situation und Perspektiven der jungen Generation zu verbessern – beispielsweise mit den 320,1 Millionen Euro, die seit 2013 darauf warten, sinnvoll eingesetzt zu werden.