Die Schönheit des Alltäglichen

Die Künstlerin Alina Andrei und ihre Papiergeschichten

Der berühmte Bus Nr. 17

Alina Andrei (rechts) bei einer Vernissage

Aus der Ausstellung „Wie man sich auf Diktatur vorbereitet“
Fotos: die Verfasserin

Es passiert vielen während der Busfahrt, während man auf einen Flug wartet, im Supermarkt, bei Konzerten, am Strand, im Museum oder auf der Straße: Man beobachtet die Leute um sich herum und denkt sich Lebensgeschichten für sie aus. Auch Alina Andrei tut es täglich. Sie fotografiert und schreibt. Alle erfundenen und wahren Geschichten, die sie umgeben, bringt sie zu Papier. Darin geht es nicht um Helden, die Drachen bekämpfen, oder um Könige, die über ein riesiges Reich herrschen. Sie handeln von einfachen Menschen und deren Alltag, von verregneten Montagvormittagen, an denen man ins Büro muss, von bunter Wäsche, die von Balkons hängt und von endlosen Abenden vor dem Fernseher.

Um ihre Geschichten zu illustrieren, hat die Künstlerin Papiermenschen erfunden. Sie wurden von ihr durch Zeichnungen ins Leben gerufen und anschließend fotografiert. Ähnlich wie in Comics erscheinen in Wortblasen auch die Gedanken der Papiermenschen auf den Fotos. Die Geschichten veröffentlicht Alina Andrei auf ihrem Blog oder in sogenannten Fanzines - das sind kleine, selbstgemachte Büchlein an der Schnittstelle zwischen Comic, Illustration und Grafik, von denen es nur wenige Exemplare gibt. Über zehn Fanzines hat sie schon herausgegeben – für Sammler von Kuriositäten sind sie ein absolutes Muss. Die Fanzines haben Titel wie „Autobus Nummer 17“, „Wie man einen Weichselbaum pflanzt“, „Unbekannte, die sich auf der Straße küssen, während du es nicht tust“, „Wie du im Büro tanzen kannst, ohne beobachtet zu werden“, „Als ich Schlitten fuhr“. Eines ist sicher: Der Tag wird garantiert schön, wenn man beim Morgenkaffee in einem der Büchlein liest. Mit ihren Papiermenschen hat Alina eine ganze Welt geschaffen, die unserer eigenen nicht unähnlich ist.

Detektive, Flohmärkte und Widmungen in alten Büchern

In Kronstadt/Brașov geboren, ist Alina Andrei vor ein paar Jahren nach Klausenburg gezogen. Sie stellte ihre Werke in Galerien oder unkonventionellen Kunsträumen in Bukarest, Klausenburg/Cluj-Napoca, Neumarkt/Târgu Mureș, Kronstadt, Temeswar/Timișoara, Nürnberg und Venedig aus. Zusammen mit dem Kronstädter Künstler George Roșu verwaltet sie RAFT, einen Ausstellungsraum im Multikulturellen Zentrum der Transilvania-Universität. Periodisch werden interessante Künstler aus dem In- und Ausland eingeladen, die ihre Werke dort ausstellen. Wie sie dazu gekommen ist, auf diese originelle Weise Geschichten zu erzählen? „Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall war es irgendwann in der Grundschule, als ich beschlossen habe, von Geschichten zu leben, wenn ich groß bin. Das – und Detektiv sein oder Hunde von anderen Leuten spazieren zu führen. Zu der Zeit waren das Jobs, die es nur in Filmen gab“.

Wenn sie nicht schreibt, fotografiert oder einen klitzekleinen Ausstellungsraum im Zentrum von Klausenburg betreut, ist Alina ständig auf der Suche nach neuen Geschichten. „Ich mag es, Flohmärkte zu besuchen. Dort finde ich Spielzeug, Familienfotos, Briefe oder Ansichtskarten – das sind Dinge, die man mehr oder weniger gebrauchen kann. Ich mag gebrauchte Bücher aus Antiquariaten, dort kann man Widmungen finden,manche Sätze sind mit Kugelschreiber unterstrichen, es gibt Randnotizen und Kaffeespuren“. All dieses inspiriert sie zu ihren Fanzines. Der Begriff „Fanzines“ kommt aus dem Englischen und ist die kurze Version von „Fan-Magazines“. Diese von den Verfassern selbst zusammengestellten und in kleiner Auflage vervielfältigten Hefte tauchten zunächst in den 1930ern in der US-amerikanischen Science Fiction-Szene auf - als Form des Austausches von Fans für Fans. Trotz der sich rasch entwickelnden Blog-Szene der vergangenen Jahre sind Fanzines bis heute wichtige Bestandteile der einzelnen Jugendszenen und Subkulturen geblieben. Mit dem Jahren hat sich die Fanzine-Landschaft konstant weiterentwickelt. Einen wichtigen Teil dieser Entwicklung stellen „Perzines“ (personal magazines) dar, die sich mit Themen aus dem Leben der Verfasser beschäftigen. So wie die Bücher, die Alina schreibt.

Das seltsame Leben der Papiermenschen

In allen Fanzines kommen Papiermenschen vor. Im Laufe der Jahre hat die Kronstädterin eine ganze Personengalerie zusammengestellt. Früher hat sie oft wirkliche Menschen fotografiert, mit der Zeit waren es immer öfter Papiermenschen. „In den Fotografien habe ich Menschen aus Fleisch und Blut durch Papiermenschen ersetzt. Es sind in den meisten Fällen Phantasiegestalten. Es geht um Realität und Illusion und um die Weise, wie Leute fotografiert werden wollen. Die Aufforderung ‘Mach ein Foto von mir’ bekommen alle Fotografen zu hören. Die Worte sind immer die gleichen, aber jeder, der fotografiert wird, denkt sich etwas anderes dabei. Die meisten wünschen sich Porträts, in denen sie gut aussehen, weil sie hoffen, dass sie auf diese Weise verewigt werden. Über viele Jahre werden ihre Fotos in verstaubten Schuhschachteln, auf kaputten Computer-Speichern und in alten Schränken landen. Alle meine Fanzines sind aus Phantasie-Fotografien zusammengestellt, die ich in meinem Kopf sehe, wenn ich meinen Fotoapparat zu Hause vergesse“, erklärt Alina das Konzept hinter den Papiermenschen. ‘Mach ein Foto von mir´, wenn ich glücklich bin, damit es auch später da ist’, ‘Mach ein Foto von mir auf dem Flughafen, bevor ich auf eine einsame Insel fliege’, ‘Fotografiere nur meine Hand, ich will mich verstecken’, ‘Ich will auf dem Foto nicht wie eine Bibliothekarin aussehen. Fotografiere mich, als ob ich eine Kreuzfahrt auf dem Amazonas machen würde’ – das denken die Papiermenschen. Es gibt auch Fotografien ohne Gedanken, wie etwa ‘Gruppenfoto mit Freunden, die dich nicht anrufen und die du auch niemals anrufst’.

Geschichten aus dem Bus nr. 17

Eine der bekanntesten Fotografie-Reihen von Alina Andrei ist „Bus Nr. 17“. In Form einer Ausstellung sind diese Bilder im ganzen Land gezeigt worden. Der Bus Nummer 17 in Kronstadt fährt täglich von der Postwiese/Livada Poștei bis ins Noua-Viertel. Von einer Endstation bis zur anderen braucht er im Durchschnitt, laut Busfahrplan der Kronstädter Verkehrsregie, 29 Minuten. Diejenigen, die die ganze Strecke fahren, verbringen täglich eine Stunde im Bus. In dieser Stunde ereignen sich Tag für Tag Geschichten. Etwa die eines Hundes, der immer bei der Postwiese in den Bus einsteigt und an der Station „Hidromecanica“ aussteigt. Oder die eines Rentners, der jeden Sonntag zum Zoo fährt, um Tiere zu fotografieren. Als sie noch in Kronstadt wohnte, fuhr Alina Andrei täglich mit dem Autobus Nummer 17. Dabei hat sie hunderte von Geschichten erlebt. Die interessantesten zeigt sie mit Hilfe von Papiermenschen. Die Künstlerin hat Portraits der Fahrgäste aus Bus Nummer 17 gezeichnet. Anschließend wurden sie fotografiert. Ähnlich wie in Comics erscheinen in Wortblasen auch die Gedanken der Menschen, oder die Dinge, die sie gesagt haben.„Täglich fahre ich mit dem Bus Nummer 17. Wenigstens zwei Mal, hin und zurück. Das mache ich schon seit dem Kindergarten, also ein Leben lang. Also seit zu langer Zeit. Es waren Jahre, in denen ich sehr müde Leute gesehen habe. Leute, die glücklich waren oder traurig. Ich habe gehört, wie über Liebe gesprochen wurde. Oder über Trennungen. Ja, manchmal war es wie in einer mexikanischen Telenovela. Oder in einem minimalistischen Film der Neuen Welle. Ich habe Schlägereien gesehen, viel Streit, ich habe viele Diskussionen über Politik und Tod gehört. Solche Diskussionen finden vielleicht in vielen Bussen auf dieser Welt statt, aber ich fahre mit Bus Nummer 17 und deshalb ist von ihm die Rede“, meint Alina Andrei. Die Papiermenschen sind Ebenbilder von wirklichen Fahrgästen. „Ich habe vor, kleine Bücher mit allen Geschichten herzustellen und die Bücher im Bus zu lassen. Damit die Geschichte ein Ende hat“, meint Andrei. Über die Ereignisse, die täglich im Bus stattfinden, schreibt sie auch auf Facebook. „Draußen lächeln die Menschen. Aber hier, drinnen, im Bus Nummer 17, haben alle Leute lange Gesichter, die Mundwinkel hängen nach unten. Warum sollten sie lächeln? Sie haben keinen Grund dafür“, schreibt sie. Mit Sicherheit würden die Leute lächeln, wenn sie die Papiergeschichten aus dem Bus Nr. 17 kennen würden.

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