Die Zeitgeschichte überschlägt sich

Ich kann mich an keine Zeit während der vergangenen fünfundsiebzig Jahre erinnern, in der es zu einer der heutigen Lage entsprechenden Kumulation großer und kleiner Krisen gekommen ist, wie wir sie gerade jetzt erleben: Klimakrise, der Pandemie, kaum noch für möglich gehaltenen großen Kriegen, Inflation, Unterbrechungen des Welthandels und der Lieferketten, Gefährdung der Welternährung und die Energiekrise. Diese sich häufenden Turbulenzen gehen nur allzu oft auf die erneute Rivalität der globalen Großmächte zurück.

Die Rückkehr der Herrschaft globaler Großmächte hat sicht- und spürbar chaotische Folgen, bis hin zur offenen militärischen Aggression und der Rückkehr großer Kriege, wie derjenige Russlands in der Ukraine. Man muss nun keineswegs ein Untergangsprophet sein, um zu prognostizieren, dass es wohl leider nicht bei dem Krieg in der Ukraine und Europa bleiben wird. In Ostasien droht der Konflikt um Taiwan ebenfalls militärisch zu eskalieren. Und im Nahen und Mittleren Osten besteht die Gefahr, dass das iranische Atomprogramm perspektivisch einen großen militärischen Konflikt auslöst.

Woher kommt dieser manifeste globale Ordnungsverlust? Es sind dies die Folgen der Ablösung einer über siebzig Jahre die Welt bestimmenden globalen Ordnung namens Pax Americana. Die USA sind als Sieger aus den beiden Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgegangen, haben auch den sich daran anschließenden Kalten Krieg gewonnen und waren der entscheidende Garant für das Wiedererstehen eines völlig zerstörten Europas und damit des transatlantischen Westens. Es war auch die Zeit der Dekolonisierung gewesen und die Jahrzehnte der Herausbildung des Multilateralismus und des Völkerrechts unter dem Dach der Vereinten Nationen, geschützt durch diese Pax Americana.

Zudem befindet sich die Weltwirtschaft in einem fundamentalen technologischen Wandel, nämlich der Digitalisierung auf einer höheren Stufe mit künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen, die einen radikalen Umbau der global führenden Industriegesellschaften erzwingen und die machtpolitischen Gewichte global neu austarieren wird.

Und jetzt? Jetzt wird diese Ordnung, die alles andere als perfekt war und innerhalb derer es massive Unterschiede zwischen Gewinnern und Verlierern gab, abgelöst durch chaotische Verhältnisse.

Die Finanzkrise von 2008 markiert zeitlich den Anfang dieses Prozesses. Die ökonomisch begründeten, fatalen Illusionen über die europäische Energiepartnerschaft mit Russland und das transatlantische Vertrauen auf die erhoffte Demokratisierung des riesigen Chinas mit seinen 1,5 Mrd. Menschen – in beiden Fällen haben sowohl die USA als auch Europa die strategisch-historischen Absichten und Ziele der Führungen in Moskau und Peking nicht ernst genommen und die machtpolitischen Konsequenzen der damit einhergehenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten ignoriert. Der Preis für diese Naivität wird in der Gegenwart und näheren Zukunft entrichtet, und er wird hoch sein.

Mit China ist dem Westen und vor allem den USA ein technologisch ebenbürtiger Rivale erwachsen, welcher die Sowjetunion selbst zum Höhepunkt des „Sputnik-Schocks“ niemals gewesen war. Die damit eingeleitete neue Phase der globalen Systemkonkurrenz ist in ihrem Ergebnis alles andere als entschieden. China wird sich als die sehr viel härtere Nuss für den Westen erweisen. Zumal diese Konkurrenz unter völlig neuen globalen Bedingungen ausgetragen werden muss: Pandemie und globaler Klimawandel haben die elementaren Gleichungen der Weltwirtschaft wie der internationalen Machtpolitik grundlegend verändert und werden dies in Zukunft noch sehr viel mehr tun. Gelingt es der Menschheit nicht, innerhalb weniger Jahre den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen und so eine globale Hochtemperaturzukunft zu verhindern, dann wird sich die Menschheit und nicht mehr nur einzelne Gesellschaften in eine nicht mehr zu revidierende globale Krise stürzen.

In einer Phase globalen Chaos werden sich die wichtigsten internationalen Akteure aber nicht in die Richtung globaler Zusammenarbeit bewegen, die dringend notwendig wäre, sondern ganz im Gegenteil in Richtung verstärkter Konfrontation. Darin besteht, neben den Zerstörungen, dem unsäglichen menschlichen Leid und der Vergeudung von dringend benötigten Ressourcen die eigentliche Tragödie von Putins Krieg:

Er kostet der Menschheit eigentlich nicht mehr vorhandene Zeit im Kampf gegen die Erderwärmung. Ein planetarisches Versagen kann sich die Menschheit dabei allerdings kaum erlauben, wenn sie sich nicht in ein furchtbares Experiment mit unser allen globalen Lebensgrundlagen stürzen will. Eine letzte Krise sei hier noch erwähnt. Was wird in der näheren Zukunft aus der globalen Führungsmacht USA werden, die sich in all diesem sich abzeichnenden Chaos von Konflikten und Krisen eine innere Instabilität und Gefährdung ihrer Demokratie erlauben? Am 6. Januar 2021 hat ein durch den abgewählten Präsidenten Donald Trump initiierter Putschversuch mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington DC stattgefunden. Wird sich die amerikanische Demokratie als stark genug erweisen, Vergleichbares zu verhindern? Oder wird Trump oder ein Wiedergänger von ihm bei den nächsten Präsidentschaftswahlen erneut erfolgreich antreten?
Diese Frage wird sich in den kommenden Jahren nicht nur für die USA und ihre Demokratie, sondern auch für deren Alliierte rund um den Globus als die entscheidende erweisen, und auch für die Zukunft der Erde insgesamt. Es wird dies wohl die erste demokratische Wahl mit planetaren Konsequenzen sein. Und es kommt nicht von ungefähr, dass diese Entscheidung in der weltweit ältesten Demokratie und globalen Supermacht USA getroffen werden wird. (Copyright: Project Syndicate, 2022)


Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. In den beinahe 20 Jahren seiner Führungstätigkeit bei den Grünen trug er dazu bei, aus der ehemaligen Protestpartei eine Regierungspartei zu machen.