„Diese gesamte Herzlichkeit werde ich sehr vermissen“

ADZ-Gespräch mit Sigrid Kadur, der Leiterin der Deutschen Spezialabteilung in Temeswa

Im Hof des ehemaligen Ion-Mincu-Lyzeums verabschiedete Sigrid Kadur die Abiturienten der Deutschen Spezialabteilung. Auch sie musste bei dieser Gelegenheit Abschied von Rumänien nehmen.Sie werde die Herzlichkeit der Leute in Rumänien vermissen, sagte die DSA-Leiterin Sigrid Kadur. Auch ihre Herzlichkeit werden viele ihrer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen vom Lenau-Lyzeum mit Sicherheit vermissen. Fotos: Zoltán Pázmány

Eine richtige Verabschiedung konnte es wegen der Corona-Pandemie nicht geben, und auch die letzten Monate, in denen der Unterricht nur online verlief, waren nicht leicht für Sigrid Kadur, die sich selbst als „große Freundin der Beziehungsdidaktik“ bezeichnet. Nach sechs Jahren endet nun ihre Amtszeit als Leiterin der Deutschen Spezialabteilung (DSA) an der Nikolaus-Lenau-Schule in Temeswar/Timișoara – eine Zeit, die Sigrid Kadur als „wunderbar“ einstuft. Dem Einsatz von Sigrid Kadur ist es zu verdanken, dass die Deutsche Spezialabteilung in Temeswar seit vergangenem Jahr wieder zweizügig ist. Das Interesse der Schüler für die DSA, an der vor allem kooperative Lernformen, viel Projektarbeit und Präsentation angeboten wird, ist nach wie vor groß. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland geht Sigrid Kadur in den Inlandsschuldienst, wo sie in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für etwa ein Jahr tätig sein wird, um sich dann langsam aus dem Berufsleben zurückzuziehen. Über ihre Tätigkeit als DSA-Leiterin, aber auch über andere Erlebnisse in Rumänien berichtet Sigrid Kadur in folgendem Gespräch, das Raluca Nelepcu mit ihr aufgezeichnet hat. 

Sechs Jahre Rumänien sind nun vorbei. Wie war diese Zeit für Sie, was haben Sie in dieser Zeit gelernt?

Diese Zeit war ganz wunderbar für mich. Ich bin hier sehr gut aufgenommen worden und ich kann auch sagen, dass durchaus viele freundschaftliche Verhältnisse und Beziehungen entstanden sind. Gelernt habe ich, dass z. B. die Schüler unheimlich leistungswillig sind. In Deutschland gibt es das selbstverständlich auch, aber nicht so, als Klasse. Die wissen genau, im Grunde, was sie wollen, wo sie hinwollen, dass sie Bildung brauchen, um im Leben weiterzukommen, und deswegen macht es sehr viel Freude, die Schüler zu unterrichten. Mit den rumänischen Kolleginnen und Kollegen lacht man viel zusammen, sie kommen gern in die Spezialabteilung und setzen sich da hin, man trifft sich oft. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir etwas Unangenehmes widerfahren wäre. Wenn ich etwas mitnehme aus Ihrem schönen Land, dann ist es die Freundlichkeit und die Offenheit, mit denen mir begegnet wurde, und das war zum Teil auch sehr, sehr rührend.

Wie und wieso haben Sie sich damals, vor sechs Jahren, für Rumänien entschlossen?

Da werden Sie sicherlich lachen. Ich bin ja Deutschlehrerin – der Antriebsmotor war Herta Müller. Mir war klar, dass sie irgendwann einen Nobelpreis kriegt und das sagte ich dann auch im Freundeskreis. Da machten sich einige Freunde lustig, denn man kannte damals Herta Müller überhaupt nicht so. Und dann habe ich nachgeforscht, an welcher Schule sie war, und so habe ich vom Nikolaus-Lenau-Lyzeum erfahren. Das Banat hat mich immer als Kulturraum interessiert – ich habe ja als zweites Fach Geschichte, denn ich fand diese Siedlungssachen und den Umgang mit den Minderheiten sehr interessant. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und auch dort sind die unterschiedlichsten Nationalitäten gang und gäbe, deshalb war das so ein bisschen wie „Nachhause-Kommen“. Die Stelle in Temeswar war bei der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen ausgeschrieben und dann war das so, dass eine Kollegin mich angeschrieben und gesagt hat: „Deine Stelle ist in der Ausschreibung. Guck mal! Temeswar sucht Deutsch und Geschichte!“ So habe ich mich dann dafür beworben und die Stelle bekommen.

Was hat Ihre Familie dazu gesagt?

Meine Familie war erstmal entsetzt. Ich habe drei Kinder und meine älteste Tochter hat auch wiederum drei Kinder und das war natürlich eher so, oh, die Oma geht, eine sichere Bank geht. Zu der Zeit lebte mein Man noch und wir hatten das schon gemeinsam als Projekt. Wir sind 2014 übergesiedelt. Die Kinder waren am Anfang nicht so begeistert, haben mich aber dann begeistert besucht und fanden Temeswar ganz toll.

Was war das Schwierigste an Ihrem Aufenthalt hier?

Das Schwierigste war für mich tatsächlich die Tatsache, dass ich einen Hund habe (Anm. d. Red.: Sigrid Kadur hat eine Berner Sennenhündin namens Bella) Das hört sich jetzt lustig an. In Deutschland haben wir den Hund mit im Haus und bei den Rumänen ist er häufig im Hof. Dadurch war es für mich schwierig, ein Haus zu bekommen. Das ist mir dann aber gelungen. Nachdem mein Mann verstorben ist, war ich plötzlich ganz alleine in einem so riesigen Haus, und wollte umziehen, dann hatte ich wieder das Problem mit dem Hund. Dann musste ich nach Dumbrăvița – ich wäre sonst nicht hingezogen, weil ich lieber zentraler gewohnt hätte, aber das war auch nur für eineinhalb Jahre.

Was auch schwierig war, war die Geschwindigkeit, mit der die Schüler hier arbeiten. Ganz am Anfang habe ich immer für 50 Minuten geplant und war nach 30 Minuten fertig – da musste ich mich umstellen, denn sie haben eigentlich viel mehr Futter gebraucht.

Und was auch neu war für mich, das war die Notengebung im Zehnersystem: Die Note 0 gibt es eigentlich nicht, die Note 1 ist Betrug und die Note 2 ist das Mindeste, was man bekommen kann. Und dann gibt es noch die Startpunkte, die es in Deutschland nicht gibt. Das muss man den Schülern in der neunten Klasse sagen: Ihr müsst tatsächlich anfangen zu arbeiten, ihr kriegt jetzt nichts geschenkt.

Wie hat sich die Deutsche Spezialabteilung entwickelt? Als Sie nach Rumänien gekommen sind, gab es ja nur einen Klassenzug.

Ja, das war gerade zurückgefahren worden. Es war so, dass unter dem Außenminister Westerwelle man ja die Auslandsschulen so ein bisschen zurückfahren wollte, deshalb fiel damals der zweite Zug aus. Als ich 2014 hierhergekommen bin, habe ich gedacht, die Spezialabteilung wird bald abgewickelt, es ist bald vorbei, man zieht sich aus dem Land zurück. Dann ist aber dem Außenministerium aufgefallen, dass wir unheimlich erfolgreich sind. Wir haben im Schnitt um die 25 Abiturienten – es gibt deutsche Schulen, die haben beispielsweise nur 2. Man hat das gemerkt und ist sehr auf uns aufmerksam geworden. Wir haben ja an dem „Galabov“-Gymnasium in Sofia, Bulgarien, und an dem Goethe-Kolleg in Bukarest jedes Jahr Spitzenschüler. Die Lenau-Schulleiterin Helene Wolf und ich, wir haben uns da reingehängt und gesagt, wir hätten gerne zwei Züge. Dann haben sie uns den zweiten Zug auch gestattet, mit der Fächerkombination Mathe-Info, dagegen haben wir uns aber gewehrt. Wir haben Argumente gesammelt, denn wir konnten uns beim besten Willen nicht vorstellen, dass jeder Jahrgang 50 Mathematiker hat. Dann haben wir den Antrag gestellt und haben dann den zweiten Klassenzug Sozialwissenschaften erhalten. Es hat viel Arbeit gekostet, viele Gespräche, aber es hat sich gelohnt.

Wie groß ist das Interesse für die Deutsche Spezialabteilung?

Das ist tatsächlich sehr groß. Die Eltern wollen ganz gerne deutsch ausbilden lassen und das deutsche Abitur öffnet in der Welt tatsächlich Türen. Wir sind in der glücklichen Lage, die Spitzen eines Jahrgangs zu bekommen. Die machen auch einen doppelten Abschluss, acht Prüfungen, in rumänischer und deutscher Hand, das ist schon was, das muss man sagen.

Wie viele Prozent der Abiturienten studieren im Ausland?

Ungefähr die Hälfte geht ins Ausland, nach Deutschland, Österreich, in die Schweiz oder in die USA. Es wäre natürlich spannend zu erfahren, wie viele kommen wieder. Das ist auch für mich eine schwierige Sache: Die Welt braucht Fachkräfte, aber Rumänien braucht sie halt auch. Es wäre natürlich ganz schön, wenn die jungen Leute wiederkommen und dem Land helfen würden, dass es weiter vorangeht. Ich finde es richtig, dass sie rausgehen, um zu studieren, denn man lernt auch viel, was interkulturelle Kompetenz angeht; aber es wäre genauso wichtig, dass sie wiederkommen.

Was würden Sie den diesjährigen Abiturienten als Rat mit auf ihren Lebensweg geben wollen?

„Nichts ist so beständig wie die Veränderung“, heißt es. Sich nicht auf einem „Ich bin halt so“ ausruhen, sondern sagen, was kann ich jetzt für die Welt tun, um mit diesen Herausforderungen, die wir haben – Flüchtlingsströme, Kriege, Pandemien usw. – fertig zu werden. Das sind intelligente Menschen, die müssen zu den Spitzen der Gesellschaft werden. Das würde ich ihnen raten, dass sie Verantwortung übernehmen.

Was werden Sie am meisten vermissen, wenn Sie jetzt nach Deutschland fahren?

Den Sommer und die Sonne! (lacht) Ich werde die Märzchen vermissen, den 8. März – ich wohne im Westen, und diese Sache war immer mehr eine Sache der DDR und des ehemals sozialistischen Blocks gewesen und das werde ich schon vermissen. Und natürlich werde ich die Menschen vermissen, denn wir haben sehr eng zusammengearbeitet. Es geht mir jetzt nicht darum zu sagen, so sind die Deutschen, so sind die Rumänen, aber Sie haben in Deutschland diese Nähe nicht. Sie dürfen in Deutschland keinen Schüler anfassen. Eine der ersten Herausforderungen in Rumänien war, als ein Kind Geburtstag hatte, auf mich strahlend zukam, mir ein Stück Schokolade schenkte und sagte: „Ich habe heute Geburtstag“ – und dann eine Umarmung erwartete. Das musste ich erstmal lernen. Was im Moment sowieso schwer ist, ist, dass man sich nicht umarmen darf, dass man sich noch nicht mal die Hand geben darf. Ich glaube, diese gesamte Herzlichkeit werde ich sehr vermissen.

Vielen Dank für das Gespräch!