Diffizile Erbschaft der Zwischenkriegszeit

Constantin Noica gibt Rumänien noch immer zu denken

„Ein flacher Geist bleibt auch dann noch flach, wenn Du ihn ins Paradies schickst und ihn mit dem lieben Gott sprechen heißt. Selbst nach seiner Rückkehr aus dem Paradies wird er dir nichts als Plattitüden erzählen“, wie Gabriel Liiceanu Constantin Noica im Maßstäbe setzenden Buch „Jurnalul de la Păltiniș“ (Tagebuch von der Hohen Rinne, 1983) zitiert. | Foto: Wikipedia

Die Rechtsanwältin Diana Iovanovici-Șoșoacă wurde am 10. Februar 2021 aus der Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR) ausgeschlossen. Es geschieht selten, dass eine rechtsextreme Partei, noch dazu in der Opposition, einer Person aus den eigenen Reihen die rote Karte zeigt. Fünf Tage später wurde folgerichtig bestätigt, dass die Masken-Gegnerin im Oberhaus des Rumänischen Parlaments fortan parteilos im Haus des Volkes/Casa Poporului ein- und ausgeht. Eine Zank und Zoff stiftende Person weniger im Senat also? Von wegen. Obwohl die AUR im höheren der beiden Gesetzesforen jetzt nur noch durch 14 statt 15 Mitglieder vertreten ist und Diana Iovanovici-Șoșoacă zeitgleich mit ihrem parteilichen Platzverweis auch vom Vorsitz der Senats-Kommission für die Ermittlung von Missbrauch, die Bekämpfung von Korruption und für Petitionen zurücktreten musste, macht die streitsüchtige Politikerin einfach so wie gehabt weiter. 

Die AUR selbst hat sich zwar von der Mittvierzigerin, nicht aber von ihrer europafeindlichen Marschrichtung losgesagt. Wäre ja auch zu schön gewesen. In der Abgeordneten-Kammer stellt die AUR gar eine 33 Mitglieder starke Fraktion. Politisch unbedarfte Wählerinnen und Wähler der rumänischen Mehrheitsgesellschaft, in deren Wahrnehmung die Sozialdemokratische Partei (PSD) vor den Parlamentswahlen am 6. Dezember 2020 nicht genügend rechtsnational auftrat, stimmten am Stichtag freiwillig für die AUR. Im Glauben, in Diskurs und Doktrin der Partei von Querschläger George Simion für die Zeit bis Dezember 2024 und – warum nicht? – auch darüber hinaus gut aufgehoben zu sein. 

Dass diese Partei der Unzufriedenen, die dem Faschistenführer Căpitan Corneliu Zelea Codreanu deklamatorisch nachzueifern sich nicht scheut, es in den Präferenzen der Diaspora auf Platz zwei geschafft hat, widerspiegelt jene Realität, mit der man eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte. Weil man davon überzeugt war, dass Rumäniens Tanz auf dem zwischen Ost und West gespannten Hochseil ohnehin bald von selbst auf sicherer Seite enden würde. 

Nationalistische Scharfmacher hat es im Nationalstaat Rumänien, der sich erst nach dem Ersten Weltkrieg formieren konnte, immer gegeben. Ihnen politisch keinen Spielraum zu geben, bedeutet noch heute einen Dauerauftrag, der viel mit Gesellschaftskritik zu tun hat. Kommt solche Kritik zu kurz, setzt früher oder später eine innergesellschaftliche Spaltung ein. Auch in Rumänien driften Unterprivilegierte und Eliten immer mehr auseinander und drohen Minderheiten und nationale Mehrheitsgesellschaft den Ausweg aus dem Sog von Intoleranz und Misstrauen zu verpassen. Wo Nationalität und Kultur gleichgesetzt werden, haben Parteien wie die AUR leichtes Spiel.

Manipulierte merken nichts von Manipulation

Es steht außer Frage, dass die Oppositions-Partnerin der PSD auf Dekonstruktion aus ist. Allen urbanen Wahlerfolgen zum Trotz wurde die Ausrichtung Rumäniens auch im Dezember 2020 wie so oft nicht etwa in der Stadt, sondern auf dem Dorf entschieden. Darf man Wählern der PSD und der AUR jedoch ein bewusstes Verfolgen gezielt schlechter Absichten unterstellen? Oder fehlt ihnen der Durchblick? 

Versuche einer Antwort darauf können das unerwünscht schlechte Wahlergebnis zwar nicht entschuldigen, aber das Stimmverhalten der leicht manipulierbaren Massen zumindest erklären helfen. Der Wahrheitsanspruch einer noch immer weit verbreiteten Meinung, Rumänien habe in der Zwischenkriegszeit auf dem Zenit seiner Leistungsfähigkeit gestanden, nährt die verklärende Sehnsucht nach dem Königreich Rumänien und sucht die damalige Verstrickung in den europaweit um sich greifenden Kurs des Nationalismus mehr oder weniger absichtlich in die hinterste Ecke nationaler Geschichtsschreibung zu drängen. Darüber, dass Rumänien sich selbst nicht nur im Kommunismus, sondern auch in den drei Jahrzehnten davor Schrammen zugefügt hat, wird gerne geschwiegen.

Aber genau darum sollte, wer das aktuelle Hadern Rumäniens mit sich selbst besser verstehen  möchte, auch und vor allem im Dickicht der Zwischenkriegszeit auf Spurensuche gehen. Längst ist bekannt, dass Intellektuelle von Weltklasse wie Mircea Eliade und Emil Cioran in ihrer Jugend mit der Eisernen Garde liebäugelten, zumindest letzterer jedoch Jahre später einräumte, jenen militanten Irrweg Rumäniens seinerzeit nicht als Sackgasse erkannt zu haben.

Dieser Schatten hängt auch über der Biografie von Constantin Noica (1909-1987), promovierter Philosoph und ausgewiesener Kenner der Schriften Kants und Hegels. Ein halbes Jahr bevor Rumänien am 23. August 1944 das Kriegsbündnis mit Deutschland aufkündigte, hatte Noica den Sammelband „Pagini despre sufletul românesc“ („Seiten über die rumänische Seele“) veröffentlicht. Seine Tochter Alexandra Noica-Wilson hat ihn 1992 neu und jüngst 2019 im Humanitas Verlag wieder aufgelegt. Obwohl Constantin Noica das knappe Vorwort und alle sieben für sich selbst stehenden Artikel des heute 100 Seiten starken Büchleins während des Zweiten Weltkrieges geschrieben hat, ist darin weder nationalistische, noch faschistische oder kommunistische Propaganda auszumachen. Dem Binnenkritiker Constantin Noica ging es nicht um Politik und Ideologie, sondern um Kultur.

Das Schmökern im kleinen Sammelband „Pagini despre sufletul românesc“ erfordert dennoch ein wenig Bereitschaft, den im 21. Jahrhundert überhand nehmenden Lesefilter des politisch Korrekten nicht auf diese 80 Jahre zurückliegenden Interpretationen anzuwenden. Sie haben zwar nichts mit antisemitischer, rassistischer oder anderweitig hetzender Stimmungsmache zu tun, können moderat gesinnte Leser aber nichtsdestotrotz über heikle Fragen nachdenken machen. 

Auch wenn die hermeneutischen Deutungen von Constantin Noica nicht durchwegs leichte Kost sind – der Intellektuelle, der von 1949 bis 1958 unter Zwangsarrest in der Kleinstadt Langenau/Câmpulung Muscel wohnte, von 1958 bis 1964 im Gefängnis Jilava politisch inhaftiert war und die letzten zwölf Jahre seines Lebens in einer Waldhütte auf der Hohen Rinne/Păltiniș bei Hermannstadt/Sibiu verbrachte, redet nicht um den heißen Brei herum. Beim fünften Artikel beispielsweise greift Noica nicht etwa aus extremistischer Vaterlandsliebe zur Überschrift „Cum gândește poporul român“ („Wie das rumänische Volk denkt“): Die Feststellung, dass „das Ethische des Abendlandes uns nicht weiterhilft“ (freie Übersetzung d. Autors.), möchte nicht zu Hass anstiften.

Schwarzweißmalerei war nicht das Ding von Constantin Noica. Der spätere Lehrmeister von Ga-briel Liiceanu und Andrei Pleșu hatte ein feines Gespür für den Unterschied zwischen den abstrakten Begriffen Ewigkeit („eternitate“) und Geschichte („istorie“) und wusste bereits im Juni 1943 als vortragender Gast in Berlin ganz genau zu erklären, dass die ethnische Mehrheitsbevölkerung des seinerzeit noch jungen Nationalstaates Rumänien seit jeher für das Erstere brannte und sich dagegen schwertat, historisch bleibende Spuren hinterlassen zu wollen.  Hierfür nahm Constantin Noica ein Zitat von Kritiker Emil Cioran zur Hand: „Alles, was in Rumänien nicht Verheißung ist, bedeutet ein Attentat gegen Rumänien“ (freie Übersetzung d. Autors). Gegen die „rumänische Ewigkeit“ hätte nichts Härteres gesagt werden können, so Noicas Meinung zum Zitat von Cioran.

Kostspieliger Hang zu Weltverneinung

Menschen und Gesellschaften, seien sie klein oder groß, leben nicht einfach nur in der Welt, sondern auch in einer Beziehung zu dieser Welt, wie Soziologen gerne betonen. Philosoph Constantin Noica verschwieg nicht, dass die ethnische Mehrheitsgesellschaft Rumäniens noch im 20. Jahrhundert gern an einer Weltbeziehung des Nicht-Eingreifens festhielt und dem Verlangen des Abendlandes nach Kontrolle mit Skepsis begegnete. 

Und heute im Jahr 2021 mag es nahe liegen, zu urteilen, dass schwermütige Wählerinnen und Wähler Rumäniens, denen das aufgeklärte Europa und das abendländisch protestantische Selbstbewusstsein im Unterbewusstsein widerstreben, viel eher der PSD und der AUR als anderen Parteien vertrauen. Schuld daran sind aber nicht die unreflektierten Wähler selbst, sondern Rumänien in seiner Gesamtheit, das seine eigenen Bürgerinnen und Bürger infolge mangelhafter Gesellschaftskritik nicht ausreichend zu bilden vermocht und sie auch zu keiner kritischen Masse geformt hat, die das nationale Dilemma der Gegensätzlichkeit von Ewigkeit und Geschichte und zwischen Ost und West selbstständig auszudiskutieren fähig ist. Kritiker Constantin Noica hat dieses Dilemma vorausschauend aufgezeigt.

Er wusste seinerzeit auch über die Unterschiede zwischen der kulturellen und politischen Eigenheit Siebenbürgens und derjenigen der alten Landesteile südlich und östlich der Karpaten Bescheid und war der Ansicht, dass Rumänien vom neu hinzugewonnenen Siebenbürgen lernen könnte, die eigene Passivität durch eine aktive Weltbeziehung zu ersetzen. So eine Aufforderung zu geistigem Paradigmenwechsel jedoch berührt das christlich-konservative Selbstverständnis der rumänisch-orthodoxen Mehrheitsgesellschaft an empfindlicher Stelle. 
Zu den Intellektuellen Siebenbürgens, die Constantin Noica persönlich gekannt haben, zählt Eginald Schlattner. „Dumnezeu cu mila Lui va face, de ce să mă amestec eu, biet om?“, zitiert der Theologe, Gefängnisseelsorger und Autor aus Rothberg/Roșia den national-orthodoxen Blick Rumäniens auf die Welt. Das 2018 im Lumea Credinței Verlag veröffentlichte Buch „Dumnezeu mă vrea aici“ mit dem darin abgedruckten Interview, das Eginald Schlattner dem Bukarester Politikwissenschaftler Radu Carp 2017 gegeben hat, liegt seit 2020 auch in deutscher Übersetzung beim Pop Verlag Ludwigsburg auf („Gott weiß mich hier“): „Die Barmherzigkeit Gottes wird es richten! Warum soll ich schwacher Mensch mich einmischen?“

Ethik und Ethnie voneinander unterscheiden

Der gesellschaftskritische Ansatz, den Constantin Noica gerne in Rumänien übte und für den er auch politisch angeklagt wurde, ist nicht mit nationalistischer Propaganda zu verwechseln und hat bis heute nichts von seiner Relevanz eingebüßt: „Wo von Ethik die Rede ist, kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, dass diese in der rumänischen philosophischen Perspektive, ganz gleich ob in der volkstümlichen oder kulturellen, fehlt. Diese Sache dürfen wir nie außer Acht lassen, auch sogar oder gerade wenn wir an politische und bildungspolitische Reformen für Rumänien denken“ (freie Übersetzung d. Autors), würde ein Kernsatz der „Pagini despre sufletul românesc“ lauten, wenn man ihn sich auf Deutsch denken wollte. 

Was Constantin Noica und andere rumänische Intellektuelle der Zwischenkriegszeit sehnlichst erwarteten, ist teilweise eingetroffen. 1919 gab der Historiker Vasile Pârvan am Tag der Einweihung der rumänischen Universität Klausenburg/Cluj-Napoca zu Protokoll, dass „nicht unsere grimmige Rumänisierung nach Maßgabe des ethnografischen Vegetatives, sondern unsere fortwährende Humanisierung hin zur menschlichen Vervollkommnung die rumänische Kultur erschaffen wird.“ Psychologe Daniel David, seit März 2020 Rektor der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg und seit Jahren für seine gesellschaftskritischen Thesen geschätzt, die Rumäniens kulturelle Schwachpunkte nicht schonen, gilt als Garant für die Berücksichtigung des hundert Jahre alten Wunsches.

Leider können Lichtblicke wie die Aufgeschlossenheit der größten Universitätsstadt Siebenbürgens nicht alle dunklen Flure Rumäniens ausleuchten. Die 2012 von Ex-Premierminister Victor Ponta verübte Untat, das Rumänische Kulturinstitut (ICR) dem Parlamentssenat unterzuordnen, wartet noch auf Wiedergutmachung. Eigentlich müsste Rumänien Horia-Roman Patapievici, der damals aus Protest gegen die politische Vereinnahmung des ICR von dessen Leitung zurücktrat, um Verzeihung bitten und sich dringend um kulturelle Selbstrehabilitation bemühen. Doch die Chancen, dass Rumänien seinen eigenen Kulturschaffenden wieder mehr Aufmerksamkeit widmet, stehen denkbar schlecht. Einstweilen schwindet das Vertrauen der Zivilgesellschaft in die Politik und es macht sich ein rauer Umgangston breit. Das „Entzaubern der Propaganda“, wofür der aus Hermannstadt/Sibiu stammende und für die Deutsche Welle tätige Journalist Robert Schwarz plädiert, wird in Rumänien immer schwieriger.