Ein gigantisches Experiment für die Menschheit

Wie wird sich unser Leben ändern? Welche Chancen und Risiken bringt die Corona-Krise

Symbolbild: pixabay.com

Die Corona-Krise hat innerhalb weniger Wochen die Welt radikal verändert. Niemals hätten Regierungen einem Experiment zugestimmt, an dem wir nun unfreiwillig teilnehmen: dem Lockdown. Es beweist, dass dank moderner Technik viele Menschen auch von zuhause aus arbeiten oder studieren können. Dass Kongresse, Tagungen und Geschäftstreffen nicht immer mit Flügen über den halben Globus, kostspieligen Hotel-Aufenthalten und Banketten einhergehen müssen. Dass man dem Klimawandel auf einmal doch etwas entgegensetzen kann, in dem wir auf Flüge und Reisen verzichten. Wer hätte dieses Opfer je freiwillig erbracht?

Auch die Mentalität der Menschen hat sich innerhalb kürzester Zeit geändert. Viele plädieren auf einmal für die Förderung lokaler Märkte, statt Lebensmittel über Länder und Kontinente hinweg zu transportieren. Zum Sicherheitsverständnis gehören plötzlich auch Gesundheit, Nahrung und Energie. Manche fragen sich, sollten gewisse Schlüsselindustrien nicht doch lieber vom Staat als von rein profitorientierten Privatunternehmen kontrolliert werden?

Junge Volontäre entdecken ungeahnte Möglichkeiten, für die Gesellschaft nützlich zu sein. Es wird programmiert, produziert, geholfen. Täglich hören wir von neuen Apps, die vernetzen, die Verbreitung des Virus verzögern helfen oder die digitale Arbeitswelt revolutionieren. Auf einmal gehen viele Dinge, die man früher als unmöglich abgewinkt hätte. Was wird nach der Corona-Krise von alledem übrig bleiben? Welche dauerhaften Impulse könnten Arbeitswelt und Gesellschaft aus dieser Erfahrung erhalten? Welche neuen Gefahren bringen diese mit sich? Welche Paradigmenwechsel drängen sich auf? Oder geht einfach alles ganz schnell wieder zum Alten über?

Big Data: Fluch und Segen

Wir werden uns an den Coronavirus gewöhnen müssen, darüber sind sich Experten einig. Doch können wir uns ewig im Lockdown verstecken? Oder wird man, wie in manchen Ländern schon praktiziert, an den Einsatz von Technik denken müssen, um Infizierte und noch Gesunde zu überwachen? Werden Frühwarnsysteme Pflicht, wie die nationale Fieberkontrolle in den USA, wo das Thermometer Messwerte an eine Zentralstelle sendet, die Alarm schlägt, wenn an einem Ort außergewöhnliche Muster auftreten? Wird die Lokalisation, die für diese Anwendungen erforderlich ist, mit persönlichen oder Gesundheitsdaten verknüpft? Wer erhält Zugriff darauf - und was passiert langfristig mit solchen Datenbanken?

Wie leicht wäre es in einem solchen System, Bürger zu stigmatisieren: Nur jenen, die als immun gelten, falls es längerfristige Immunität überhaupt gibt, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erlauben. Wie leicht könnte der potenzielle Risikopatient von Rechten und Leistungen ausgeschlossen werden.

 Tatsache ist, dass einige Länder die Verbreitung von Covid-19 durch Einsatz von Big Data erfolgreich in Schach halten konnten. Beispiele sind Südkorea, Taiwan oder Singapur. China nutzte ein ausgedehntes elektronisches Überwachungssystem und  exportiert nun seine Technologie. Hong Kong, Taiwan, Thailand und Australien haben Einreisende elektronisch überwacht. Kontaktverfolgungs-Apps sollen jetzt in vielen Ländern helfen, zu einer sicheren Wirtschaftstätigkeit zurückzukehren und weitere Lockdowns zu vermeiden.

Analysten warnen jedoch, dass digitaler Autoritarismus illiberale Regime stärken könnte. Andererseits zeigte sich deutlich, dass digitale Überwachung Leben retten und die Wirtschaft funktionsfähig halten kann. Eine Zwickmühle.

Frühwarnsysteme und Tracking

Systeme, in den späten 1990er Jahren in den USA für die Früherkennung eines Bio-Terroranschlags entwickelt, sammeln dort bereits elektronisch Daten von Patienten mit grippeähnlichen Symptomen in Notaufnahmen von Krankenhäusern. Von normalen Grippemustern abweichende, lokale Häufungen lassen Analysten aufhorchen. Ein Anthrax-Anschlag zum Beispiel erzeugt grippeähnliche Symptome, doch kein Arzt käme auf die Idee, etwas anderes als Grippe zu diagnostizieren. Erst die Sicht der Daten im Ensemble verrät, dass irgendwo etwas nicht stimmt - wie im Falle des Covid-19 Ausbruchs in New York, der jedoch trotz Warnung des zuständigen Wissenschaftlers von den Behörden erst viel zu spät beachtet wurde.

Eine elektronische Quarantäne-Überwachung spart dem Staat enorme Kosten: Weniger Einsatzkräfte sind nötig und Verstöße sofort erkennbar.

Das Konzept der elektronischen Kontaktverfolgung (Tracking) hingegen lässt Handys bei Annäherung über Bluetooth automatisch Daten austauschen und schafft ein virtuelles Kontaktnetz, das die Identifizierung von Personen erlaubt, die einem Covid-19 Patienten im infektiösen Zeitraum nahe gekommen sind. Diese könnten gezielt in Quarantäne geschickt werden, Lockdowns ließen sich vermeiden. Der Pferdefuß: Möglichst alle Bürger müssten das System nutzen, damit es auch schützt.

Einige Länder beginnen bereits mit der Nutzung von Handys zur Datensammlung, einschließlich persönlicher Daten, Lokalisation, Krankheitssymptomen und Covid-19 Tests, berichtet „Nature“: Ende April wurde in Australien die CovidSafe-App lanciert, die sämtliche Daten zentral speichert. Ein Nutzer, der einem Covid-19 Infizierten nahe gekommen ist, wird dann von Gesundheitsbehörden kontaktiert. Auch Testergebnisse werden gespeichert. In Deutschland ist eine solche App in Entwicklung, auch sie soll Testergebnisse speichern, jedoch nur auf dem  Handy. Ägypten nutzt die App bereits. In Großbritannien steht dies bevor, Nutzer sollen auch ihre Symptome eingeben, Daten werden zentral erfasst.

Digitalisierung des Gesundheitssystems

Seit Covid-19 gibt es in den USA Stimmen, die eine Digitalisierung des nationalen Gesundheitssystems fordern: Fernüberwachung durch Handy-Apps mit Zusatzgeräten, ähnlich  Fitness-Uhren, ausgestattet mit Sensoren zur Messung von Puls, Temperatur, Blutsauerstoffgehalt, Blutzucker und ähnlichen Parametern. Diese können auch die Überwachung von stabilen Covid-19 Patienten, die zuhause behandelt werden, erleichtern. In Klausenburg/Cluj-Napoca wurde ein entsprechendes Programm (Spectra.Life) bereits entwickelt und befindet sich in der Testphase.

Bisher haben Datenschutzaspekte die Implementierung einer digitalen Telemedizin behindert. Mit der anhaltenden Bedrohung durch Covid-19 könnte sich dies ändern. Mit vielleicht schwerwiegenden Konsequenzen: Denkbar wären höhere Versicherungsbeiträge oder ein Ausschluss von gewissen Therapien, wenn der Patient nicht kooperiert - der Diabetiker, der seine Diät bricht; der Erkältete, der lieber Salbeitee trinkt statt  die verschriebenen Pillen zu schlucken. Und: Wollen wir, dass jedes Bier auf der Gesundheitskarte gespeichert wird?

Seit der Pandemie ist Gesundheit ein Aspekt der nationalen Sicherheit. Allein in New York sind mehr Leute an Covid-19 gestorben als am Anschlag von 9/11, warnt ein militärischer US-Sicherheitsexperte und fordert  eine Neuorientierung der nationalen Verteidigungsstrategie.

Für uns alle wirft die Pandemie die Frage nach weiteren Notstandsperioden auf, in denen militärische Befehle die gewohnte Demokratie ablösen. Werden wir uns schleichend daran gewöhnen? Welche Rolle soll der Staat in Zukunft spielen?

Paradigmenwechsel für die Wirtschaft

Inwiefern die bisherigen Parameter für eine funktionierende Wirtschaft unter den neuen Bedingungen noch gelten, beleuchtet Simon Mair, Experte für ökologische Wirtschaft an der Universität Surrey (UK), anhand der von Covid-19 ausgelösten Wirtschaftskrise auf theconversation.com (30. März). Diese unterscheide sich entscheidend von allen bisherigen Krisen - daher müsse auch der Lösungsansatz ein völlig anderer sein.

In einer normalen Krise kaufen Menschen weniger, weil sie befürchten, ihren Job zu verlieren - dann gibt der Staat Geld aus, um den Konsum zu erhöhen und der Markt brummt irgendwann wieder, erklärt Mair. Diesmal werde das nicht funktionieren - weil es unter den gegebenen Umständen nicht gewünscht sein kann, dass die Wirtschaft nach dem Lockdown gleich wieder auf Hochtouren läuft! Eine zu schnelle Öffnung birgt die Gefahr eines zweiten großen Ausbruchs. Wir haben es also nicht mit einer Kriegssituation zu tun, wo man die Produktion danach einfach ankurbelt, warnt Mair. Das Gegenteil sei angebracht: ein starkes Zurückfahren der Produktion. Produktion und Konsum einzuschränken, löse, nebenbei bemerkt, auch die Klimakrise!

Die aktuelle Herausforderung besteht darin, auch nicht arbeitenden Bürgern ein Einkommen zu sichern. Auch müsse der Wert der Jobs neu überdacht werden. Die derzeit bestbezahlten Berufe wie Broker, Berater, Werbeleute seien „Bullshit Jobs“, zitiert er den Anthropologen David Graeber: Sie fördern den Tauschwert, haben aber keinen echten Wert. Andererseits können Menschen, die die Gesellschaft wirklich braucht - Angestellte im Gesundheits- oder Unterrichtswesen - oft von ihrem Gehalt kaum leben.

Vier gewagte Zukunftsszenarien

Im bisherigen Wirtschaftsdenken dominieren zwei Überzeugungen, erklärt Mair. Erstens: Der Markt beschert Lebensqualität und muss geschützt werden. Zweitens: Der Markt findet nach der Krise zum Normalzustand zurück. Beide Gedanken seien durch die Corona-Krise überholt! Statt dessen müsse man sich fragen, welcher Wert die Wirtschaft der Zukunft bestimmen solle: Wie bisher die Maximierung des Tauschwerts? Oder steht Recht auf Leben an erster Stelle? Nicht nur die Wirtschaft, auch die Art der Verwaltung, die Rolle des Staates, müsse neu überdacht werden. Mair skizziert vier mögliche Szenarien für die Zukunft:

1. „Staatlicher Kapitalismus“: Bestimmend für die Wirtschaft bleibt der Tauschwert, doch unterstützt der Staat Arbeitslose und Unternehmen in der Krise - was nur für beschränkte Zeit funktioniert und voraussetzt, dass die Epidemie schnell kontrollierbar wird. Ein Lockdown für längere Zeit wird vermieden, weil der Markt um jeden Preis geschützt werden muss. Gefahr: Die Verbreitung des Virus wird weitergehen.

2. „Barbarentum“: Auch hier bleibt der Tauschwert bestimmend. Doch wird den Menschen, die vom Markt ausgeschlossen sind – Kranken und Arbeitslosen – langfristige Unterstützung verweigert. Die Folge: Viele Kranke würden von Krankenhäusern abgewiesen. Die Verbreitung von Covid-19 nähme an Fahrt auf. Sollte der Markt wegen der vielen Kranken zusammenbrechen, würde der Staat instabil. Die Folge: politisches und soziales Chaos.
In den nächsten beiden Modellen steht nicht mehr der Tauschwert, sondern das Recht auf Leben an erster Stelle.

3. „Staatlicher Sozialismus“: Zahlungen an Zwangsbeurlaubte und Arbeitslose würden nicht bloß zum Schutz des Marktes erfolgen. Der Staat würde Krankenhäuser nationalisieren und Teile der Wirtschaft kontrollieren: Lebensmittelproduktion, Energie, Wohnen. Basisgüter, mit geringer Arbeitskraft produziert, wären für alle zugänglich. Entweder bekäme jeder das gleiche Gehalt oder es würde nach dem wahren Wert der Arbeit bezahlt. „Dann sind die Supermarktverkäufer, Kuriere, Lagerarbeiter, Krankenschwestern, Ärzte und Lehrer die neuen CEOs“. Im Extremfall einer starken Pandemie sei dies die beste Variante, meint Mair. Sie birgt jedoch ein großes Risiko, räumt der Wissenschaftler ein: Ein solcher Staat könne leicht autoritäre Züge annehmen.

4. „Gegenseitige Hilfe“: Auch in diesem Modell ist Leben der Leitwert, doch dominiert nicht der zentrale Staat, sondern individuelle Gruppen, die sich lokal organisieren und Bedürftige mitversorgen. Neue demokratische Strukturen würden entstehen. Lokale Gruppen würden sich zusammenschließen, um die Verbreitung der Krankheit zu vermeiden. Allerdings wären sie nicht in der Lage, das Gesundheitssystem massiv zu unterstützen. Der Experte räumt ein, dass in der Realität eher Mischformen dieser vier Szenarien wahrscheinlich wären.

Eine Chance für Rumänien?

Das letzte Modell erinnert an die Nachbarschaften der Siebenbürger Sachsen. Doch passt ein solches Modell überhaupt noch in unsere Zeit? Dass es auf lokaler Ebene großen Erfolg haben kann, zeigt das Beispiel der Frauennachbarschaft in Keisd/Saschiz (ADZ-Online 15. August 2019: „Mit Frauenpower frischen Wind ins Dorf gebracht“).  Andererseits hat so manche lokale Freiwilligenaktion nationales Niveau erreicht, wie Viziere.ro (ADZ-Online 25. April 2020: „Im Einsatz für die nationale Ärztefront“) demonstriert. Aufgrund organisatorischer Exzellenz wurde das Modell sogar im Ausland übernommen.

Auch hierzulande zeigt sich ein digitaler Boom:  Apps werden entwickelt, um Covid-19 Patienten zu pflegen. Thermoscanner regeln den Zugang zu öffentlichen Gebäuden. Im Web werden Nachbarschaftshilfe oder  landwirtschaftliche Kleinproduzenten vermittelt. Freiwillige IT-Experten programmieren Info-Plattformen für den Staat oder Anwendungen, die helfen sollen, die Epidemie in Schach zu halten. Die Internet-Affinität der Rumänen dient nicht  nur der Unterhaltung, sondern hilft, Angebot und Nachfrage für Hilfsleistungen oder Produkte zu vernetzen. Interessensgruppen entstehen, wie in Mairs Szenario 4 - doch sie agieren und kommunizieren nicht nur lokal, sondern landesweit  im virtuellen Raum.

Das unfreiwillige Experiment, einmal losgetreten, wird nicht einfach zum Ausgangspunkt zurückführen. Vielleicht wird nicht alles gut. Aber so manches ein bisschen besser.