Ein Jahr, das nicht vergessen werden darf

Das Brukenthalmuseum beschäftigte sich mit einer Ausstellung und Vorträgen mit der Revolution von 1989

Dr. Radu Preda: „Wenn die ‘Unantastbarkeit der Würde des Menschen´ in der Verfassung Rumäniens verankert worden wäre, würde das, was am 10. August 2018 geschehen ist, verfassungsrechtlich anders eingeordnet!“ Foto: Klaus Philippi

Emilian Cutean, Gelu Voican Voiculescu und Ion Iliescu stehen dem Dezember 2004 durch das Parlament berufenen Institut der Rumänischen Revolution von Dezember 1989 (Institutul Revoluției Române din decembrie 1989, IRRD, www.irrd.ro) voran. Ein Jahr später zog die Regierung Rumäniens durch den Beschluss Nummer 1724 auf Gründung des Institutes für die Erforschung der Kommunistischen Verbrechen und die Erinnerung an das Rumänische Exil (Institutul de Investigare a Crimelor Comunismului și a Memoriei Exilului Românesc, IICCMER, www.iiccr.ro) nach. Ende Mai 2014 gab das IRRD bekannt, dass die Zahl der Todesopfer der Revolution bei 1166 steht. Wer Verdacht auf höhere Zahlen hegt, empfindet den Hinweis auf ein „unvollständig ausgeleuchtetes terroristisches Phänomen“ als baren Affront. Erwartung namentlicher Erwähnung von Terrororganisationen, denen politisch Unmündige sämtliche Fehlschläge des Umsturzes 1989/1990 gerne zuschrieben, bedeutet unreflektierte Reaktion auf einen Köder, den das IRRD ausgeworfen hat. Das IRRD wurde Ende 2019 aufgrund eines Eklats um die gerechtfertigte Absage eines Gedenkkonzerts fristlos aufgelöst, doch die unlautere Meinungsmache hat 15 Jahre hindurch Wurzeln schlagen können. Eine entsprechende Gegendarstellung steht noch aus.

Drei Jahrzehnte seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind durch Europa gegangen. Betroffene Staaten waren bemüht, Schärfen der einsetzenden Veränderungen abzufedern und drohenden Blutbädern entgegenzuwirken. Obwohl versucht wurde, den Eisernen Vorhang gedämpft fallen zu lassen, hat er dennoch Schaden verursacht. Nur in Bulgarien, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verlief der Ausbruch aus der Unfreiheit friedlicher. Aber durch Rumänien schwirrte Kugelhagel. War der verantwortbare Bewegungsraum bis an die Straßentüre heran geschrumpft, wurde mit Kind und Kegel auf dem Zimmerboden unter dem Fenster gelebt und geschlafen, um nicht von wahllos abgefeuerter Munition getroffen werden zu können.

Darf man es damals mitten in anfänglichem Elternauftrag stehenden Zeitzeugen verdenken, dass ihnen die Frage nach ungeklärter Autorschaft allseits feindlicher Revolutionsschüsse noch immer Unbehagen bereitet? Nein. Wer nicht auf Erinnerung an persönlich bewusste Erlebniserfahrung zurückgreifen kann, versteht nicht, warum Ältere retrospektiv innerlich zusammenzucken. Wohin mit dem Warten auf Analyse ohne Rücksicht auf überreizte Emotionen, die öffentlich bislang unzureichend heruntergefahren wurden und den Weg zu gesunder Selbstverständlichkeit nationaler Gedächtniskultur verbauen?

99 Menschen haben in Hermannstadt ihr Leben für ein freies Rumänien gelassen. Frei nach dem Motto „Un an ce nu trebuie uitat“ (Ein Jahr, das nicht vergessen werden darf) hat sich das Brukenthalmuseum am Großen Ring/Piața Mare während der Schlussstrecke des vergangenen Jahres als lokaler Trägergeist des Projektes „Muzeul viu. 30 de ani de la Revoluția din 1989“ (Lebendiges Museum. 30 Jahre seit der Revolution 1989) hervorgetan.

Am 3. Dezember 2019 wurde im Blauen Haus die Ausstellung „Mărturii despre atmosfera din decembrie 1989 la Sibiu“ (Zeugnisse der Befindlichkeit im Dezember 1989 in Hermannstadt) eröffnet, deren Fotografien, Presseauszüge, Publikationen, Flaggen und Schusspatronen bis einschließlich den 5. Januar 2020 besichtigt werden konnten. Das Museumsinventar der Erinnerung an 1989 und die vier Jahrzehnte davor fällt gering aus. Obwohl die Altersklasse der Zeitzeugen aufgefordert worden war, Pionierkrawatten, Lebensmittelkarten, Mitgliedsausweise der Kommunistischen Partei Rumäniens (PCR) und der Kommunistischen Jugendvereinigung (UTC) sowie weitere Objekte von Interesse zur Verfügung zu stellen. Univ.-Prof. Dr. Sabin Adrian Luca (Jahrgang 1959), Direktor des Brukenthalmuseums seit 2006, vermutet, dass viele Dokumente und Gegenstände in Folgereaktion auf das Unterdrückungsregime beseitigt und vernichtet wurden. Die Einladung zur Beteiligung an der Erstellung eines für die gemeinschaftliche Geschichte Hermannstadts illustrativen Dokumentationsfonds gilt weiterhin.

Eine Generation Menschen mit wenig bis gar keinen biografischen Bezügen zu Kommunismus und Revolution ist erwachsen geworden. Ihr steht die Welt offener denn je. Die Welt des Reisens an alle gewünschten und bezahlbaren Ziele sämtlicher Erdteile. Wie aber steht es um die Welt im Land des blutigen Umsturzes 1989/1990, für den die erwähnten 1166 Menschenopfer Beweis stehen? Der Höhe globaler Zeitrechnung wird diese Welt nur eingeschränkt gerecht.
Unpolitische Eliten verfolgen das nationale Geschehen in sauberer Erwartungshaltung, können sich aber nicht auf Deckung ihrer Interessen durch innenpolitische Kräfte verlassen. Wer sich selbst und seinen Kindern wertbeständige Bildung schenken möchte, muss entweder horrende Beträge für den Besuch einer Privatschule stemmen oder, wenn die Brieftasche dies nicht erlaubt, den eigenen Erziehungsauftrag so ernst wie noch nie zuvor nehmen, sprich: ungezählte Stunden Vorlesen, Unterhaltung und Hausaufgabenhilfe investieren. Was bleibt Vielbeschäftigten übrig, die weder Geld noch Zeit aufbringen können, aber nicht vom allgemeinen Bildungsrecht ausgeschlossen werden wollen? Viele Zukunftsorientierte stehen Rumänien kritisch gegenüber. Für sie ist drei oder noch mehr Jahrzehnte zurückliegender Glanz rumänischer Bildung ein schwacher Trost.

Kommunistische Schulbildung mag auch ihre guten Seiten gehabt haben. Doch was ehemals für passend befunden wurde, hält dem Ruf des 21. Jahrhunderts kaum mehr Stand. Dr. Alexiu Tatu (Jahrgang 1956), Historiker und Anglist, bewältigte seinen Karrierestart als Lehrer, ging danach an das ASTRA-Museum und die Kreisbehörde Hermannstadt für Kultur, Kulte und nationales Kulturerbe und stieg Januar 2003 zum Direktor der lokalen Zweigstelle der Staatsarchive auf. „Bereits im Mittelalter galt die Überzeugung, dass Kinder so früh wie möglich ganzheitliche Bildung erhalten sollten, da Schule mit wachsendem Alter ohnehin bald an zweiter Stelle der Präferenzen landet“, so Dr. Tatu als Vortragender der Erörterung „Excurs comparativ asupra evolu]iei conceptului de enciclopedie” (Vergleichender Exkurs betreffend die Entwicklung des  Begriffs Enzyklopädie) am 19. Dezember im Blauen Haus.

1895 beschloss die ASTRA-Gesellschaft (Asociația Transilvană pentru Literatura Română și Cultura Poporului Român/Siebenbürgischer Verein für die rumänische Literatur und die Kultur der rumänischen Bevölkerung) die Erstveröffentlichung einer dreiteiligen Enzyklopädie in rumänischer Sprache. Dr. Alexiu Tatu erwähnte das Handbuch „De doctrina christiana“ (Von der christlichen Lehre) von Augustinus von Hippo (354-430) und die darin angeführte Anleitung zum Verstehen der Doppeldeutigkeit anhand des Beispiels der Schlange, die durch Opferung von Schuppen und Körperteilen ihren Kopf retten kann. Im Widerstreit von Verantwortlichkeit und Missbrauch fußt die Altlast der Menschheit. Dr. Tatu zufolge könne das Wort ‘Revolution´ auf soziale und wirtschaftliche Diskussionsstoffe angewendet werden, entspräche aber nicht dem Kulturbegriff, der sich aus Evolution speist.
Prof. univ. dr. Sabin Adrian Luca verdiente seinen Lebensunterhalt zum Zeitpunkt der Revolution 1989 als Angestellter des Kreismuseums Arad und pendelte regelmäßig über Temeswar nach Reschitza, dem Wohnort seiner Familie. „Rückschau sollte immer unter Besonnenheit und vollkommener Ruhe geübt werden. Leider konnten wir Răzvan Theodorescu nicht für einen Vortrag gewinnen. Er hätte einen versöhnlichen statt eines reißerischen Redetons gewählt.“

Es gibt kein hohes Führungsbüro Rumäniens, worin Dr. Radu Preda (Jahrgang 1972), Direktor des IICCMER von März 2014 bis Ende 2019, nicht vorgesprochen hatte. „Ich verzichte darauf, weiterhin auswärts vorzutragen und Ausländern zu erklären, was es mit dem Sturz des Kommunismus auf sich hat. Wichtig ist es, das autochthone Publikum zu kultivieren!“, sagte Dr. Preda am 20. Dezember 2019 im Blauen Haus Hermannstadt. Am 19. Mai 2019 wurde Dr. Preda in München zum orthodoxen Priester geweiht. Seither ist Bayerns Metropole sein Hauptwohnsitz. Dennoch will er „nicht aus dem rumänischen Raum desertieren. Die eigene Herde ist wichtiger als eine global undifferenzierte öffentliche Meinung. Dies sage ich nicht mit Verachtung, sondern im Sinne pastoraler Dringlichkeit (…) Auch nach dreißig Jahren haben wir immer noch dieselben drei Hürden vor uns: Menschen, die nichts wissen und konsistente Meinungen lostreten, Nostalgiker sowie eine Generation, die nichts von diesen Dingen hören will (…).“

Unbeliebt „reißerischer Redeton“ bietet trotzdem Vorteile. Dr. Radu Preda vertritt die These von der Französischen Revolution 1789 als Vorspann der Revolutionsbewegung 1848 und des Bolschewismus. „Im ‘Manifest der Kommunistischen Partei´ von Marx und Engels steht es ganz klar: ein nicht ausgelöschtes Bürgertum wird die Causa des Manifests kompromittieren. (…) Das Manifest legitimiert und akkreditiert Mord als politisches Instrument!“
Bezüglich des Gesetzes Nummer 157, das am 29. Juli 2019 in Kraft trat und zur Gründung des ‘Muzeul Ororilor Comunismului în România´ verpflichtet, bemerkt Dr. Radu Preda ohne Umschweife: „Ich sage es ganz klar, damit mich auch der Kulturminister hören kann (…) Das Museum darf nicht den Begriff ‘Oroare´ (rumänisch für ,Abscheu, Gräuel´) führen, da er als Geschmacksoption interpretiert werden kann (…) Die einzig richtige Wortwahl kann nur ‘Muzeul Crimelor Comunismului în România’ (Museum der Verbrechen des Kommunismus in Rumänien) lauten, da allein diese Bezeichnung ethisch und juristisch zugleich schlüssig ist!“

„Wir treten in das letzte Jahrzehnt ein, das uns noch erlaubt, dem Kommunismus die Schuld zuzuweisen (…) Das Rumänien von morgen wird nur dann unversehrt sein, wenn es die Lektion des Kommunismus verinnerlicht! Vielleicht erlaubt die neue Regierung mehr Gedächtniskultur. An Revolution glaube ich nicht. Revolutionen der modernen Epoche sind antichristlich. Mir scheint das deutsche Wort ‘Wende´ treffender. Gerne würde ich sehen, dass die Thematik sicher verwahrt wird. Aber es fehlt der politische Wille. Institutionelle Langsamkeit ist kriminell!“ Der Vortrag „Trei decenii de libertate. Trei decenii de neputință” (Drei Jahrzehnte Freiheit. Drei Jahrzehnte Unvermögen) von Dr. Radu Preda im Hermannstadt der letztjährigen Vorweihnachtswoche dauerte zwei Stunden. Ein am 28. Dezember 2019 auf dem Facebook-Account des Brukenthalmuseums veröffentlichter Eintrag leitet an die ersten 59 Minuten der auf Youtube abrufbaren Audio-Aufnahme weiter. Wenige Tage nach Freischaltung wurde die Möglichkeit zur Eingabe von Kommentaren deaktiviert. Ein Nutzer hatte das IICCMER der Subjektivität bezichtigt. Dass Premierminister Ludovic Orban Dr. Radu Preda am Abend des 14. Januar 2020 fristlos entlassen hat, erscheint kontrovers.