Ein Leidensbuch über die Deportationsopfer

Jahrmarkter Seelsorger legten ein separates Sterberegister für Russland-Tote an

Kopie des Vorblattes des besonderen und separaten Jahrmarkter Kirchenregisters für die Opfer der Deportation in die Sowjetunion. Das Original befindet sich im Archiv der Römisch-Katholischen Diözese Temeswar.

In der nun genau 300-jährigen Geschichte der schwäbischen Gemeinde Jahrmarkt/Giarmata gibt es für 250 Jahre eigene Kirchenbücher. In den ersten Jahren vor der Pfarreigründung 1730 erfolgten die Eintragungen im nahen Temeswar, für die letzten Jahrzehnte als Filiale wurden sie in der Pfarre Dumbrăvița (Ujszentes) geführt. Diese Matrikeln sind für die katholische Gemeinschaft die wichtigsten und vielseitigsten Erstquellen. Einige Bände sind „Leidensbücher“, nämlich die Sterberegister aus den großen Seuchenjahren (Pest, Cholera, Malaria). Das letzte derartige und gesondert geführte Sterbebuch – in der Ortsforschung nicht bekannt und auch nicht im Ortssippenbuch verdeutlicht und ausgewertet – ist dem Leiden und Sterben der in die Sowjetunion verschleppten Zwangsarbeiter gewidmet.

Der separate Vordruck-Band der langen erhaltenen Reihe „Matrikelbuch der Verstorbenen“ mit den Eintragungen nach den für die Zwischenkriegszeit üblichen Rubriken (viersprachig) hat einen eigenen Titel auf der Vorderseite: „Verzeichnis der in Russland Verstorbenen“. Später wurde darunter in Klammer vermerkt: Jahrmarkt (und) Überland. Interessant sind die weiteren handschriftlichen Vermerke auf dem Vorblatt, wo die Zahlenberechnungen für die Opfer der beiden Weltkriege und die in der Deportation nebenei-nander gestellt werden: 1. Weltkrieg 170 Tote, 2. Weltkrieg 232 und in der Sowjetunion 127. Der Schrift nach zu urteilen sind es Vermerke von Kaplan Kräuter, obwohl die meisten Papiere der Zeit von Dechant-Pfarrer Nicolaus Anton unterzeichnet wurden oder vom Kaplan Paul Lackner. Der Neu-Priester Kräuter trat erst im Oktober 1946 sein Amt in Jahrmarkt an, die Einträge gehen jedoch bis 1949, vielfach mit Nachträgen. Da ist die Kräuter-Schrift deutlich zu erkennen.

Dem Konvolut ist zudem eine vierseitige maschinenschriftliche Namensliste mit den Russland-Toten angehängt mit Namen, Geburts- und Sterbejahr. Es handelt sich um 130 Personen, die wohl nicht amtliche Endziffer auf dem Vorblatt belegt 127. Ebenfalls beigelegt ist eine 19 Namen umfassende Opferliste für Überland, das als Filiale zur Pfarrei gehörte. Dass die Erstellung dieser Verzeichnisse vom Diözesanbischof Dr. Augustin Pacha angefordert worden war, kann momentan nur vermutet werden, weil eine ähnliche Aktion vom Bischof der Evangelischen Landeskirche für alle evangelischen Gemeinden A. B. eingeleitet und durchgeführt worden war. Diese Listen liegen alle im Teutsch-Archiv in Hermannstadt vor.

Wodurch unterscheiden sich nun die „trockenen“, informationsarmen Listen vom Jahrmarkter Totenbuch?

Wie die damals üblichen Banater katholischen Sterbematriken brachten sie Namen, Vornamen, bei Verheirateten den Namen des Ehepartners, den Beruf, Ehe- und sozialen Stand, Alter, Wohnort mit Hausnummer, Konfession, Todesursache, Sterbeort und zuletzt die Rubrik Bemerkungen.

Die Besonderheiten erscheinen im Vergleich zu den üblichen Sterbematrikeln nicht nur durch die Angabe der Lager oder Lagerorte, sondern vor allem bei den Sterbeursachen, die es so bis dahin für Leute im mittleren Lebensalter nicht gab: die häufigsten lauten „Allgemeine Schwäche“, Unterernährung, Ruhr, Entkräftung, Tuberkulose, Grubenunglück, Arbeitsunfall, Typhus, Kräfteverfall, Wassersucht, Schwäche, Gestorben als Schwerkranker auf dem Heimweg noch in Russland oder in der „Ostzone“, im Lager in Frankfurt an der Oder, im Spital, im Lager in Rumänien etc. Aus diesen Listen erfahren wir auch, wer nach dem in Jahrmarkt wegen Verweigerung erschossenen ersten Opfer der Zwangsverschleppung das chronologisch zweite war: Im Zug verstarb auf dem Hinweg am 7. Februar 1945 Susanna Mack von Hausnummer 379, die Ehefrau von Peter Bauer, an „Entsetzen“. Sie war 26 Jahre alt (Jahrgang 1919) und wurde in Charkow (Ukraine, Charkiw) „ausgeladen und begraben“. Während eines (angeblichen) Fluchtversuchs wurde der 34-jährige Josef Csinicsek (Hausnummer 843) 1945 in Orechov erschossen, im heutigen ukrainischen Orichhiv im Saporoscher Bezirk. Interniert war er ursprünglich im Lager Saparosche. Ob seine Frau Elisabeth, geborene Krämer, die im selben Lager war, dort vom Tod ihres Mannes wusste, kann nicht mehr eruiert werden. Die Ehefrau und Mutter kehrte zu ihren Buben zurück. Eine vermerkte Besonderheit aus dem letzten Jahr der Zwangsarbeit findet sich in Zusammenhang mit dem „Grubenunglück“ von Elisabeth Kronenberger, geborene Howacker, von Hausnummer 344, am 7. August 1949 in Kriwoi Rog, Lager 1403. Die 29-jährige Witwe – ihr Mann war im Krieg gefallen – und Mutter zweier Töchter hatte das erste Begräbnis in der Deportation mit Blasmusik und zählte zu den letzten Opfern unter den Jahrmarktern in „Russland“.