Ein reicher Schatz an Erinnerungen

Herbstfest, Erntedank, Buchvorstellung – kostbare Momente des Beisammenseins in Schäßburg

Erntedank-Gottesdienst in der Schäßburger Bergkirche Fotos: George Dumitriu

Dekoration zum Erntedank

Noch nie war die Festung so leer...

Martin Rill präsentierte auf dem Herbstfest den Bildband „Schäßburg und die Große Kokel“.

Ein treuer Fan: Frau Irén gesteht, mit der ADZ Deutsch gelernt zu haben – und schwärmt vom „herrlichen Geruch der gedruckten Zeitung“!

Langsam trudeln die Menschen in der Schäßburger Bergkirche ein. Dechant und Stadtpfarrer Bruno Fröhlich kommt uns lächelnd entgegen. „Der Pfarrer darf ohne Maske“, meint er entschuldigend und verweist auf die weit voneinander distanzierten Sitzkissen auf den Bänken. Die dreischiffige gotische Kirche ist hoch, die Fenster offen, man fühlt sich fast wie im Freien; Coronavirus hat unser Denken verändert, er bestimmt sogar das Erntedankfest. Doch Altar und Chor sind wie immer festlich geschmückt: Kornähren, Kürbisse, Zwiebeln und Paprika, Kartoffeln und bunte Chrysanthemen. Trotzdem ist die Freude an dem Kirchenfest und dem trotz Pandemie an jenem 11. Oktobersonntag zum vierten Mal stattfindenden Herbstfest des Demokratischen Forums der Deutschen in Schäßburg/Sighișoara vorerst nur verhalten zu spüren...

Zu gemischt sind wohl die Gedanken und Gefühle. Gesenkte Köpfe, hellblaue Masken, verstohlene Blicke. Distanz. Es ist, als wären alle Bande in dieser Gemeinschaft von der neuen Realität brutal durchschnitten worden. Sie hat jeden zurückgeworfen auf seinen eigenen kleinen Familienkreis, oder Ehepartner, wer noch einen hat… Gerade  ältere Menschen leiden unter der Distanzierung.

Dann setzt die Orgel ein – und das Wunder geschieht! Ist es wirklich – oder nur ein Gefühl? Unter den sonoren Klängen, die das Kirchenschiff füllen, beginnt die Luft zu beben. Sie überbrückt die künstliche Distanz, erfasst uns alle, wiegt uns gemeinsam zu den gewaltigen Tönen des himmlischen Instruments. Hebt unsere Seelen hoch und höher. „Nun danket alle Gott mit Herzen und mit Händen“, „Preiset alle Gottes Barmherzigkeit“ – diese Lieder werden seit vielen Jahren hier auf der 1858 in Schäßburg von Carl Schneider gebauten Orgel gespielt. Und wohl auch auf anderen Schneider-Orgeln in den Dörfern ringsum. Gleißendes Sonnenlicht flutet durch die schmalen Fenster hinter dem Altar. Es erleuchtet unsere Herzen, fegt die düsteren Gedanken fort.

Schätze aus der Vergangenheit

Meine Blicke schweifen zu den vorreformatorischen Fresken. Zu den geschnitzten Altarfiguren und den bemalten Altären – Klein-ode, die vor Plünderern und Vandalen gerettet wurden, als die auswandernden Sachsen ihre Dörfer verließen. Die Bergkirche wurde nach dem Diebstahl des Altars von Schweischer/Fișer ihr neues Heim: Kirche und Kirchenmuseum in einem. Hier steht der Altar des Heiligen Martin aus dem 16. Jahrhundert, bemalt von keinem geringeren als Johannes Stoß, dem Sohn des berühmten Nürnberger Meisters Veit Stoß. Mit seinem Vater sei er wohl wegen eines Auftrags angereist und dann in Schäßburg geblieben, erzählt der Historiker Martin Rill, der auf der anschließenden Feier in der „Casa Wagner“ den Forumsmitgliedern und Gästen im kleinen Kreis seinen neuesten Bildband vorstellt: „Schäßburg und die Große Kokel“.

Der Altar des heiligen Nikolaus, ebenfalls 16. Jh., aus Reußdorf/Cund – ist es Zufall, dass er jetzt in einer Nikolaus-Kirche steht? Das vorreformatorische Altarbild aus Felsendorf/Flore{ti mit der Kreuzabnahme Christi - ich erkenne es aus dem Bildband wieder. 1424 wurde es von den Brüdern Antonius und Markus Bethlen gestiftet. Vermutlich entsprang auch dieses Bild der Werkstatt von Johannes Stoß. Seit 2005 wird es aus Sicherheitsgründen in der Bergkirche aufbewahrt.

Die Orgelklänge verbindet sie alle: die hier anwesenden Siebenbürger Sachsen, die ausgewanderten, ihre Vorfahren und die zugewanderten Künstler, die ihre Altäre und Kirchenschätze schufen.

Fragile Zentren hoher Kunst

Versetzen wir uns in die Zeit dieser Altäre, kostbaren Orgeln, Teppiche und Abendmahlkelche, die Rill in seinem Bildband Schäßburg und weiteren 18 Orten zuordnet: Um 1300 war die Besiedlung des Gebiets südlich der Großen Kokel weitgehend abgeschlossen. Nachdem Schäßburg 1324 zum Verwaltungszentrum erhoben wurde, blühten dort und im Marktort Keisd/Saschiz  Handwerk und Zünfte auf. Schäßburg entwickelte sich mit Goldschmieden und Zinngießern, Malern und Schreinern zu einem Zentrum für Kunsthandwerk von europäischem Rang, dessen Entwicklung im 16. Jh. einen Höhepunkt erreichte. Die Siedler, auch jene in den umliegenden Dörfern, konnten sich stattliche Sakralbauten mit reichhaltiger Ausstattung leisten.

Die Fotografien vermitteln spürbar einen gewissen Reichtum und Wohlstand. Das Landleben war keines-falls nur primitiv. Und doch liegen die Dörfer wie einsame Perlen in einem weiten Land verstreut, in dem man sich erst mal behaupten musste: es urbar machen,  das Dorf gegen Angreifer verteidigen. Die Gegenüberstellung von Flugaufnahmen des Kirchenburgensembles, eingebettet in die Landschaft, und den überaus kostbaren Kirchenschätzen, die diesen Orten zuzuordnen sind, vermittelt spontan ein tieferes Verständnis für die damalige Welt. Die Zusammenführung dieser beiden für den Besucher  unzugänglichen Perspektiven – die Luftansicht auf trutzige Wehrensembles, die weggeschlossenen oder woanders-hin geretteten Schätze – verdeutlicht: Mit einem Schlag konnte man den schwer erreichten Wohlstand im Angriffsfall verlieren!

Gigantisches Archivierungsprojekt

Auf der Veranstaltung rollt Rill die Entstehungsgeschichte seiner Siebenbürgen-Bildbandreihe auf. Es begann mit einem wissenschaftlichen Archivierungsprojekt von 251 siebenbürgischen Dörfern und Städten, der „Denkmaltopografie Siebenbürgen“, nach der Wende. An dem vom Bundesministerium für Wirtschaft finanzierten Projekt beteiligte sich auch das rumänische Denkmalschutzamt (darunter George Dumitriu, der diesen Artikel illustriert), sowie Universitäten aus Deutschland und in Rumänien. Sämtliche vor Ort erhobenen Daten, einschließlich die über 8000 Flugaufnahmen von Georg Gerster, flossen in die Datenbasis des leistungsstarken Archivierungssystems LARS ein und sind in Gundelsheim sowie an weiteren drei Standorten, auch in Rumänien, vorhanden. Geplant waren damals 26 wissenschaftliche Bildbände, von denen bisher jedoch erst fünf veröffentlicht wurden.

Jeder Text über jedes Dorf wurde auch vor Ort hinterlegt, erklärt Martin Rill. Doch klagten die zuständigen Pfarrer und Burghüter, das Material sei zu wissenschaftlich. So entstand die Idee, allgemeinverständliche Bildbände herauszugeben. Nach dem Einstiegsband „Siebenbürgen im Flug“ veröffentlichten Rill und Gerster weitere Werke über das Burzenland, Hermannstadt, das Repser und das Fogarascher Land, das Zwischenkokelgebiet und nun Schäßburg. Die Bildbände lösten in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit aus. Der Band über Hermannstadt führte direkt zur Ernennung als Kulturhauptstadt. Eine Flut an Spenden kam der Restauration von Kirchenburgen zugute. Als Beispiel nennt Rill die Zweieinhalb -Millionen-Spende aus den USA, veranlasst vom ehemaligen US-Botschafter Hans Klemm.

Auch für die Aufnahme des sächsischen Kulturerbes in die Liste der UNESCO war die Dokumentation seinerzeit entscheidend. Heute gehören nicht nur die Festung von Schäßburg, sondern sieben weitere  Dörfer mit Kirchenburgen – Kelling/Câlnic, Tartlau/Prejmer, Deutsch-Weißkirch/Viscri, Dersch/Dârjiu, Keisd/Saschiz, Birthälm/Biertan und Wurmloch/Valea Viilor – zum Weltkulturerbe Rumäniens.

Wahrer Reichtum liegt im Herzen

Die Bergkirche wuchs im 13. Jh. an der höchsten Erhebung des Schäßburger Burgbergs empor, umgebaut im 14., 15. und 19. Jahrhundert. Doch archäologische Ausgrabungen verrieten, dass hier schon im 12. Jh. eine Kirche gestanden hat. Der Ort ist ein Energieplatz – davon ist Pfarrer Fröhlich überzeugt, liegt doch die Festung genau an der Kreuzung zwischen dem Schaaser Bach und der Großen Kokel.

Umgeben von kostbaren Kirchenschätzen aus verschiedenen Orten und Zeiten, auf dem Altar symbolisch der  Erntereichtum, lauschen wir seinen Worten: Er spricht von „Schätze sammeln“ und „trotzdem nicht reich sein bei Gott“. Ringsum leuchtende Gesichter, trotz Masken.

Bei dem anschließenden gemütlichen Beisammensein weicht dann die Geschichte den persönlichen  Alltagsgeschichten. Eine ältere Dame fasst mich plötzlich an der Hand und lächelt gerührt: „Wissen Sie, was das einzig Schöne ist am Altwerden? Man hütet einen immer reicheren Schatz an Erinnerungen...“