Ein unbetrübter Blick auf das schönste Land der Welt

Der deutsche Journalist Thomas Steinfeld porträtiert das fremde Italien

Thomas Steinfeld: „Italien. Porträt eines fremden Landes“, Rowohlt, 2020, 25 Euro

Es zirkuliert dieser Tage ein Kurzfilm im Internet, in dem eine bitter klingende Stimme sich im Namen Italiens vom Westen verabschiedet, von jenem Westen, den die italienische Kultur dermaßen stark geprägt hat, dass heute etliche Museen, von Kalifornien bis nach Brandenburg, mit italienischer Kunst gefüllt sind, italienisches Essen an jeder Ecke angeboten und italienische Mode überall auf der Welt heiß begehrt wird, der aber in der Stunde der bittersten Not, Italien, dem Lehrmeister des Westens, jedwede Hilfe verweigert haben soll.

Über die Botschaft des Videos mag man sicherlich streiten, über die Stimme auch, kaum aber darüber, dass Italien vielen als eine höhere, freundlichere und irgendwie bessere Form des Lebens erscheint. Oder zumindest bis in die Anfangswochen dieses Jahres erschienen ist. „Sei in un paese meraviglioso“, „Du befindest Dich in einem märchenhaften Land“, stand im vorigen Sommer auf großen Schildern geschrieben, die die Autobahnen Italiens säumten, jene Straßen, die Millionen Nord- und Mitteleuropäer seit Jahrzehnten ihren Traumurlaub näher gebracht haben: Zu den zwei Wochen in der Sonne, an der Adria oder in den Cinque Terre, auf Sizilien, in Apulien oder in Kampanien. In den vielen Dörfern und Kleinstädten, mit ihren Piazzas, den Pizzerias, den Osterias, den Cafés, mit den rapppelvollen mittelalterlichen Kirchen, dem Glockengeläut, das sonntags bereits um 6 oder 7 Uhr morgens Einheimische wie Touristen aufweckte.

Dass Italien, genauso wie jedes Urlaubsparadies der Gegenwart, mehr sein muss als Wärme und Sonnenlicht, traumhafte Küsten und Innenstädte wie aus dem Bilderbuch, liegt auf der Hand. Doch die Erkundung eines fremden Landes gestaltet sich als eher schwierig, trotz der Freundlichkeit und Nähe, die vor allem den aus dem kühlen, protestantischen Europa Angereisten derart faszinieren. Erprobt haben es schon viele, über kaum ein anderes Land gibt es eine derart umfangreiche Reiseliteratur, die sich mittlerweile über Jahrhunderte erstreckt. Einer der es unlängst getan hat, ist der deutsche Journalist, Literaturkritiker und Schriftsteller Thomas Steinfeld, früher Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, später Leiter des Literaturressorts und des Feuilletons bei der „Süddeutschen Zeitung“ und dann SZ-Korrespondent in Venedig. Im Februar veröffentlichte Steinfeld bei Rowohlt sein „Porträt eines fremden Landes“, das zwar kein Reisebegleiter im klassischen Sinne ist, aber als ein solcher dienen kann. Und weil über eine Reise nach Italien nicht die Rede ist, dürfte Steinfelds Buch eine Annäherung an ein in der Tat fremdes, ja fremd gewordenes Land bieten. Es ist ein Gesellschaftspanorama, das dem Leser nicht nur die Schönheit Italiens sondern vor allem auch seine Widersprüchlichkeit vor Augen führt, eine Vielfalt, die man vermutet, aber nicht immer mit bloßem Auge sieht, wenn sich der Blick lediglich auf Landschaften und Kulturschätze richtet, deren Anziehungskraft seit Jahrhunderten alle Besucher betört.

Steinfeld, der Journalist, bereist ganz Italien. Er hat ein Auge sowohl für Armut als auch für Wohlstand, er schreibt über prächtige Paläste und traurige Vorstädte, er vertieft sich in die Geschichte Italiens, er betrachtet den Glanz der Renaissance, lässt sich in seiner Einschätzung von Risorgimento und Faschismus nicht beirren, er verweilt in Cafés und Museen in Rom, Florenz und Venedig. Den wahren Reiz Italiens macht er in umbrischen Kleinstädten aus, in der verwinkelten Innenstadt von Neapel, in der nebligen Landschaft des Po oder im sizilianischen Hinterland.

Der Blick trübt sich von Anfang an, denn Steinfeld weiß genau, dass sich hinter den prächtigen Fassaden eine tiefsitzende Wut verbirgt, ja, gar eine Ratlosigkeit. Es ist die Ratlosigkeit einer Gesellschaft, die spätestens seit der Weltwirtschafts- und Finanzkrise von 2008 über kaum noch eine Gewissheit verfügt, außer derjenigen, dass sie einen außerordentlichen Beitrag zur westlichen Kultur und Zivilisation geleistet hat. Wenn Steinfeld über illegale Migranten schreibt, die auf süditalienischen Plantagen in sklavereiähnlichen Zuständen gehalten werden, oder über die Misserfolge des wirtschaftlichen Aufbaus des Mezzogiorno, über die Mafia in Sizilien oder aber über Padre Pio, den modernen Heiligen, über Kommunisten und Faschisten, über das System der überparteilichen Verständigung und über die Verunstaltung der Landschaft durch absurde Bauprojekte, dann übt er sich keinesfalls in der geist- und substanzlosen Kritik des geordneten Nordens an dem unberechenbaren Süden, sondern er vervollständigt dadurch ein Bild, welches seinen Reiz gerade deshalb beibehält, weil es so vielfältig ist wie in keinem anderen Land Europas. Aus diesem Grunde gelingt es dem deutschen Autor, die Geisteshaltung der Italiener zu entschlüsseln und seiner Leserschaft auf brillante Weise näher zu bringen.

Sein Fazit ist eindeutig: Was es noch in Italien gibt (jedoch nicht mehr nördlich der Alpen) ist ein Konservatismus, der sich vor allem in Gesellschaft und Kultur bemerkbar macht und dessen Ausdruck eine gewisse Melancholie ist, „im Angesicht einer Geschichte, die nie wirklich voranzuschreiten scheint“, wie Steinfeld schreibt. Sprudelnde Lebensfreude und tiefsitzende Melancholie zugleich – wer eine Erklärung für das Singen auf den Balkonen sucht, wie die Italiener es in diesem März 2020 erprobt haben, der wird sie in diesem Buch sicherlich finden.

Steinfelds Werk ist ein ausführliches und detailreiches Italien-Porträt; es ist sinnlich und reflektiert zugleich, denn Steinfelds Sätze sind klug durchdacht und meisterhaft auf den Punkt formuliert. Geschrieben und veröffentlicht noch vor Ausbruch der Coronavirus-Epidemie und den tragischen Ereignissen in Italien, bietet es eine fesselnde Lektüre in unwahrscheinlichen Zeiten.