„Ein Weg, der unbedingt weitergegangen werden sollte“

„Debizz“-Businessforum über Digitalisierung und Telemedizin im Gesundheitswesen

Der Superpicker – ein Gerät, getragen wie eine Armbanduhr – hilft bei der Orientierung im Medikamentenlager.

Seit zehn Jahren setzt sich Dr. Wargha Enayati für die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Rumänien ein, verrät der Arzt und Unternehmer, Gründer des landesweiten Kliniknetzes „Regina Maria“, auf dem Ersten Webinar des deutsch-rumänischen Wirtschaftsmagazins „Debizz“ zum Thema Gesundheitswesen („HealthCare Businessforum“, 22. Juli), an dem Experten aus Wirtschaft und Ministerien sich virtuell gegenübersaßen. Die Pandemie hat diese Entwicklung schließlich enorm beschleunigt – gezwungenermaßen. Es ist ein Weg, der unbedingt weitergegangen werden sollte, darin sind sich Privatwirtschaft und staatliche Verwaltung einig. Vor allem vor dem Hintergrund der Pandemie, die uns weiterhin an soziale Distanzierung und andere Auflagen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 bindet. Telemedizin reduziert aber nicht nur den direkten Kontakt zwischen Arzt und Patient als Schutz vor Covid-19, sondern spart Kosten, schafft Transparenz, trägt zur Effizienz des Gesundheitswesens bei, kann Personal sparen und Krankenhauskapazitäten frei halten. Ein generelles Zukunftsmodell also?

Paul Oprea, Staatssekretär  im Gesundheitsministerium, kündigt an: Im Bereich der öffentlichen Gesundheit soll alles digitalisiert werden – die Dienstleistungen, der Handel, die Verwaltung. Hausärzte sollen bald mit einer Plattform und einer Datenbank ausgestattet werden, um den Kontakt zum Patienten rund um die Uhr sicherzustellen.
Adina Năstase von der Versicherungsgesellschaft „Allianz-Țiriac“ meint, die Entwicklung von Telemedizin in den letzten Monaten sei auf jeden Fall eine gute. Auch den Mangel an Ärzten in ländlichen Gebieten könne man so auffangen.

Einige Modelle für Telemedizin sind bereits im Einsatz und veranschaulichen, wie es funktionieren kann: „Allianz-Țiriac“ hat durch eine Partnerschaft mit „MediCover“ telemedizinische Plattformen eingeführt. In diesem Monat wurde „DoctorChat“ lanciert, eine App, die rund um die Uhr per SMS oder Whatsapp zur Verfügung steht und qualifizierte medizinische Ratschläge erteilt. „MediCover“ nutzt auch „MediCall“ und „HomeDoctor“, Plattformen, die dem Patienten erlauben, per Laptop oder Handy von Angesicht zu Angesicht mit dem Arzt zu sprechen. 

Die Plattform „Sanopass“ hingegen vermittelt Abonnements für medizinische Leistungen im Paket über den Arbeitgeber für dessen Angestellte. Per App erhält der Kunde innerhalb von höchstens 48 Stunden Termine oder Online-Beratung bei Ärzten und in Kliniken. Ähnlich funktioniert auch „Docbook“. 

Pandemie als Beschleuniger

Die Pandemie hat die Rolle der Telemedizin im Gesundheitswesen bestätigt, so Staatssekretär im Gesundheitsministerium Liviu Rogojinaru: Sie hat vom Dezember 2019 auf März 2020 einen Zuwachs von 1% auf 25% erlebt. Die Regierung versuchte, sich anzupassen, es ging rasch. Ein weiterer Anstieg ist nötig, wenn wir keinen Lockdown mehr wollen, denn die unsichere Zeitspanne bleibt, bis die Wissenschaft eine Lösung zur Eindämmung der Pandemie gefunden hat.

EU-Gelder sollen die Lösung sein. 80 Milliarden Euro wurden Rumänien für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Corona-Krise in Aussicht gestellt – die Hälfte des rumänischen BIP, betont Rogojinaru. Für die Jahre 2021 bis 2027 weist die EU-Kommission der künstlichen Intelligenz eine besondere Bedeutung zu. Nun hängt es vom Geschick der Behörden und Unternehmen ab, mit sinnvollen Ideen aufzuwarten, um das Geld auch abrufen zu können, so der Staatssekretär. Rogojinaru glaubt, erste Mittel könnten bereits im September fließen. Die bedeutendsten Jahre werden jedoch 2021 und 2022 sein. „Bereiten Sie sich auf eine schnelle Reaktion vor“, rät er den Interessenten für eine Förderung von Regierungs- und privaten Projekten.

Reform des Gesundheitswesens vorausgesetzt

Die größten Ängste der Unternehmer zur Zeit der Pandemie sind eine neue Blockade und der Zusammenbruch der internationalen Aufträge. Ein Problem ist aber auch der akute Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Kann Digitalisierung hier Abhilfe schaffen?

Radu Atanasescu von Setrio, einer rumänischen Softwarefirma, die seit 15 Jahren elektronische Systeme für Ärzte, Apotheker und Krankenhäuser entwickelt, stellt als Antwort zwei Beispiele vor, die durch Erhöhung der Effizienz Personal sparen helfen. Eine Plattform für das Echtzeit-Management einer Klinik liefert auf Knopfdruck Zahlen, Säulen- und Tortendiagramme über jede Sparte und Abteilung. „Digitalisierung bringt mehr Transparenz in Verwaltung und Finanzen im Gesundheitssystem“, bemerkt er. 

Ein anderes Beispiel ist die Semi-Automatisierung beim Sortieren und Lagern von Medikamenten mithilfe einer intelligenten Armbanduhr, dem sogenannten „Superpicker“. Das Gerät erlaubt den effizienteren und personalsparenden Betrieb eines Depots.

Umfassende Digitalisierung setzt jedoch eine Reform im Gesundheitssystem voraus. Wenn man ein schlecht aufgebautes System digitalisiert, verstärkt man nur dessen Ineffizienz, warnt Wirtschaftsjournalist Daniel Apostol von „Debizz“, der die Diskussion moderierte.

Private Vorbilder

Zum generellen Reformbedarf des Gesundheitswesens kommt die aktuelle Pandemie-Situation. Zwischen April und Mai sei die medizinische Leistung für Nicht-Covid-Patienten auf 30 Prozent der Gesamtkapazität zurückgegangen. Telemedizin könne helfen, diesem Versorgungsengpass entgegenzuwirken. Aber auch die Anzahl an Patienten in Krankenhäusern könnte verringert werden, erklärt der Vertreter der Firma „Helios“. Diese befasst sich mit Lösungen für den virtuellen Ablauf von Leistungen im Gesundheitswesen und elektronische Fernüberwachung von Patienten. „Wir sind eine virtuelle Klinik, man kann den Arzt sieben Tage die Woche erreichen. Eine Krankenschwester prüft den Fall telefonisch, dann wird er an den Arzt weitergeleitet für Diagnose und Empfehlungen. Unter bestimmten Bedingungen können auch Rezepte ausgestellt werden.“ Für letzteres aber müsse die Gesetzgebung noch angepasst werden, fügt er an.

Auch die „Wiener Privatklinik“ setzt vor dem Hintergrund der Pandemie auf eine Umstellung auf Online-Beratung und den Abbau von stationären Behandlungen. Stattdessen soll die Tagesklinik weiterentwickelt werden. „Wir sind eine rein private Gesellschaft und bekommen keine Förderungen, müssen daher die Verbindung von Medizin und Wirtschaft im Auge behalten“, erklärt Geschäftsführer Nikolaus Winkler. „Vor etwa eineinhalb Jahren hatten wir in Bukarest eine Konferenz über den limitierten Zugang von Krebspatienten aus Zentral- und Osteuropa zu modernen onkologischen Therapien. Damals hat man nicht daran gedacht, dass Covid-19 das Phänomen noch weiter verstärkt“, erklärt Prof. Dr. Christoph Zielinski, der Leiter der Onkologieabteilung. Diagnosen würden verschleppt, Operationen oft erst spät durchgeführt. Eine Kooperation mit Rumänien soll Abhilfe schaffen: In Bukarest und Temeswar/Timișoara betreibt die „Wiener Privatklinik“ ein Büro, wo der Patient in seiner Muttersprache anrufen kann, so Winkler. „Viele rumänische Patienten kommen zu uns, um eine zweite Meinung einzuholen. Sie sollen dann aber trotzdem in Rumänien weiterbehandelt werden.“ Hierfür arbeite man mit rumänischen Onkologen und Kliniken zusammen, etwa mit „Regina Maria“. Die Kooperation umfasst diagnostische, aber auch chirurgische Leistungen, molekularbiologische Analysen und ab Herbst Strahlentherapie, verrät Winkler. Zielinski fügt an, ein Problem vieler Krebstherapien sei, dass diese die Anfälligkeit für eine Ansteckung mit Covid-19 erhöhen. Also sei man bemüht, Methoden zu finden, bei denen dies nicht der Fall ist. „Das wird sehr genau getestet“, betont er.

In die Privatunternehmer, die als Vorbilder für das staatliche Gesundheitssystem dienen können, reiht sich auch Dr. Wargha Enayati ein. Mit dem neuen 60-Millionen-Euro-Projekt „Medical City“ der „Enayati Group“ stößt er in eine Marktlücke. Es geht dabei um ein integriertes Konzept aus Onkologie, Geriatrie und Altenheim. „Im Moment alles 100 Prozent privat“, versichert der Manager. Es umfasst Chirurgie, Radiotherapie, Isotopentherapie, 50 Wohnungen für Senioren und 80 Geriatrie-Betten. „Es ist ein Innovationsprojekt“, sagt Enayati. „Ich hoffe auf mehr Fonds in Zukunft. Und auf Unterstützung der Behörden“, fügt er an.

Wie geht es weiter? Die Digitalisierungsstrategie für  2021 bis 2027 muss noch dieses Jahr erarbeitet werden, betont Oprea. Ein immer noch ungelöstes Problem ist der Ärztemangel durch Abwanderung. Enayati meint, das neue Entlohnungssystem habe viel verbessert, vor allem in den Großstädten. Auf dem Land sieht die Lage anders aus. Doch gäbe es Tausende Ärzte aus Drittstaaten außerhalb der EU, die in Rumänien studiert haben: „Die würden gerne zurückkommen, aber man kann sie aus bürokratischen Gründen nicht einstellen.“

Der Arzt aus dem Sudan, der vom Studium her noch perfekt Rumänisch spricht, aufs Dorf zieht und per Whatsapp Patienten auf den abgelegenen Höfen ringsum berät… sofern das Internet funktioniert. Warum eigentlich nicht?