Flüchtlingskind im Nachkriegs-Wien

Der Münz-Rebell: Anton Gerstner präsentiert seine ausgefallene Lebensgeschichte in Buchform

Es ist keine gewöhnliche Geschichte, die Anton Gerstner zu Papier gebracht hat. Es ist nicht der Leidensweg des vom Krieg eingeholten Do-nauschwaben, der in einem Vernichtungslager in Jugoslawien beginnt. Vielmehr ist es das Schicksal eines Jungen, der als Dreijähriger mit seiner jungen Mutter aus einem Dorf im kroatischen Syrmien 1945 in Wien ankommt und auf die schiefe Bahn gerät. Als er Mitte der 1970er Jahre sein Leben ändert, stellt er fest: „Was ich in meinen bisherigen 35 Lebensjahren erlebt hatte, war ein wenig Glück, garniert mit viel Hölle“. Die Mutter des 1941 geborenen Toni muss sehen, wie sie sich und den Jungen im zerbombten Wien durchbringt. Die junge Witwe heiratet zum zweiten Mal und 1947 bekommt Toni eine Schwester. Die junge Mutter hat kaum Zeit, sich um Toni zu kümmern, der deshalb in schlechte Gesellschaft gerät. Doch was schwerwiegender ist: Der Junge hört sehr schlecht, er ist „derrisch“, und muss auf eine Sonderschule wechseln. Er kann sich nicht anpassen, wird auffällig. Mit acht Jahren wird er in ein Heim gesteckt. Er kommt von einem Heim ins andere, bricht immer wieder aus. Erzieher verprügeln ihn dauernd. Im Heim gibt es eine Rangordnung. Die Stärksten haben das Sagen. In den Schlägereien um die Rangordnung mischt auch Toni mit. Während die meisten Heimjungen einen Volks- oder Hauptschulabschluss schaffen, beendet Toni lediglich die Hilfsschule. Trotzdem lernt er in acht Jahren lesen, schreiben und rechnen.

Mit 15 ist er weg aus dem Heim, eine Gärtnerlehre endet rascher, als sie begonnen hat. Toni arbeitet neun Monate lang, doch er treibt sich herum und fällt wieder auf. Nun kommt er in ein Erziehungsheim. Eine Maurerlehre muss er schon gleich zu Beginn abbrechen, weil er wegen seines Hörschadens im Unterricht nicht mitkommt. 1960 ist Toni volljährig. Er wird an seinem Geburtstag aus dem Heim als unerziehbar entlassen. „Nun war ich also heraußen. Frei. Doch meine Kindheit und Jugend hatte man mir genommen. Ich stand so gut wie ohne Schul- und Berufsbildung da (…). Ich lebte, aber meine Seele hatte in den Kinderheimen der Stadt Wien tiefe Verletzungen erlitten.“ Toni treibt sich ab sofort mit ehemaligen Heimkollegen herum. Einer verleitet ihn zu einem Einbruch, Toni kommt ins Gefängnis. Insgesamt drei Jahre wird er in Gefängnissen sitzen, bis er auf den rechten Weg findet. Bis ins Rentenalter wird er als Hilfsarbeiter auf dem Bau ein hart erworbenes Einkommen haben. Doch nicht nur seine Schwerhörigkeit belastet ihn weiter, sondern auch das Schicksal seiner Familie: „Mich traf es besonders, dass ich keine richtige Heimat hatte. Ich war als Deutscher, als Donauschwabe, aus einem Land vertrieben worden, das ich – wahrscheinlich wegen der Vertreibung und Ermordung meiner vielen Landsleute – ablehnte.“ Dann der Wandel, er kommt mit dem Tag, an dem Toni auf einer Baustelle einen Sack voller alter Münzen findet. Er will nicht zum Münzsammler werden. Er hat die Idee, die Münzen als gestaltendes Element zu verwenden. Toni beginnt Münzen in Vasen, Bilderrahmen oder Möbel zu integrieren, die zu Kunstobjekten werden. Seine Werke entstehen in seiner Freizeit. Mit der Zeit füllen sie seine ganze Wohnung.

Nun wendet sich Toni an die Presse, die Interesse an seiner Kunst findet. Die Zeit ist reif, eine Galerie zu eröffnen. Doch die Geschäfte laufen nicht so gut, dass Toni davon leben könnte. Nach 18 Monaten gibt er die Galerie auf, ohne einen Verlust zu haben. Aber die Presse lobt ihn weiter; sie bezeichnet ihn als größten Münzdesigner oder Münzenkaiser.
1993 erscheinen seine Erinnerungen als Buch unter dem Titel „Kopf und Zahl: Lebensprägungen eines Außenseiters“ in gekürzter Form. Toni ist unzufrieden. Das Buch bewirkt aber, dass er und seine Kunst erneut in die Schlagzeilen kommen. Die österreichische Fachzeitschrift „Die Münze“ sieht in ihm sogar den größten Münzdesigner überhaupt.
Anton Gerstner ist überzeugt, dass nur der Erfolg haben kann, der in der „Bussi-Bussi-Freunderlwirtschaft“, der Vetternwirtschaft, mitmischt. Wenn ihm das große Geschäft versagt geblieben ist, so hat sein Hobby ihm den Weg in ein neues Leben geebnet, viel Genugtuung und auch Auszeichnungen gebracht. Wien kürt ihn 1990 zu Österreichs originellstem Künstler. Auf der Welser Erfindermesse wird er mit der Urkunde „Sondergeistesblitz“ und der Medaille in Gold ausgezeichnet. 1992 verleiht ihm der Österreichische Patentinhaber- und Erfinderverband die Große Medaille in Gold für die Innovation. 1988 nimmt der Alte Souveräne Templer-Orden ihn in die Tafelrunde der Templer auf. Ein Jahr später verleiht ihm die italienische Accademico Internazionale Greci-Marino den Ehrentitel Ritter und Professor.
Das jetzt unter dem Titel „Der Münz-Rebell“ herausgebrachte Buch ist die überarbeitete Version seiner vor 20 Jahren verlegten Lebensgeschichte. Was ihm fehlt: Das eine oder andere Komma.

Anton Gerstner: „Der Münz-Rebell. Vom Kriegsflüchtling, Heimkind und Häftling zum großen Künstler“, Eigenverlag, 2015, ISBN: 978-3-9504103-0-3, Preis: 19,50 Euro