Hunger contra Virus

Über Unkenntnis und Unverständnis hinsichtlich des Problems rumänischer Erntearbeiter

Erntearbeiter als Hausbauer

Eine Feier wird vorbereitet. Fotos: Cristian Sencovici

Zu einer Skandalgeschichte artete vor Kurzem eine Sendung beim rumänischen Fernsehsender B1-TV aus, als eine Journalistin das Problem der Erntearbeiter zur Diskussion stellte. Hunderte von Rumänen, die sich zur Erntearbeit nach Deutschland gemeldet hatten, belagerten den Klausenburger Flughafen, und wieder einmal war die Organisation total mangelhaft. Keiner hatte sowas vorausgesehen, keiner der anwesenden Politiker wusste Genaueres, aber jeder hatte eine Meinung, die daneben ging. Es bewies sich ein weiteres Mal, dass in Rumänien Sachen laufen, die erst zur Sprache kommen, wenn eine „Katastrophe” darauf aufmerksam macht. Wie kommen diese Menschen dazu loszufahren, warum arbeiten sie nicht hier im Land, warum sind die Verträge voller Sprachfehler usw. usf.? Kein Erntearbeiter war gerufen worden, um seine Entscheidung zu motivieren! Demnach fischten die Politiker im Trüben und ihre Argumentationen waren oft peinlich. Denn das Hauptproblem kam kaum zur Sprache: dass diese arbeitslosen Menschen seit Jahren nur durch ihre Arbeit im Ausland ihre Familien über Wasser halten können und die Staatskasse im Laufe der Jahre mit Milliarden Euro bereichert haben!

Weiß noch jemand, wie alles losging? Nehmen wir Siebenbürgen, wo man alles hautnah erleben konnte. Es begann vor gut 25 Jahren, als die ersten “Werber” aus dem “Goldenen Westen” in Rumänien auftauchten und Arbeitskräfte suchten. Über Mundfunk und Presse kamen die ersten Angebote für Babysitter, dann folgten die Zirkus-Betreiber, die Männer zum Zelt- und Budenaufstellen brauchten, weil die Rumänen als gute Handwerker galten. Denn inzwischen waren im Land viele Fabriken und Betriebe pleite gegangen, Arbeitslosengeld gab es begrenzt, viele Arbeiter kehrten in ihre Heimatdörfer zurück, aber was tun? Denn genau zur gleichen Zeit erhielt die rumänische Landwirtschaft den Todesstoß! Durch das Iliescu-Bodengesetz wurde der Boden zerstückelt und an Menschen verteilt, die keine Bauern mehr waren. Und die Romabevölkerung, die sich im Kommunismus stark vermehrt hatte, war als Wandervolk nie im Besitz von Boden gewesen. Als dann auch die Staatsfarmen aufgelöst und die Weingärten privatisiert wurden, fiel das Land in ein tiefes Loch. Damals wanderten enttäuscht auch die letzten sächsischen Bauern aus. Eine trostlose Periode begann. Als Tagelöhner konnte man am Land nicht überleben, Elend breitete aus, kinderreiche Familien versuchten, sich durch Betteln durchzuschlagen. Damals begann der Ausverkauf des rumänischen Bodens, später wurden Europäer und auch Araber, oft auf dubiose Weise, neue Bodenbesitzer, Korruption begann sich wie ein Virus im ganzen Land auszubreiten. Der große Reichtum Rumäniens, der fruchtbare Ackerboden, die herrlichen Wälder und der gesamte Naturreichtum, wurde zum Spielraum für gewissenlose, korrupte Politiker. Der „wilde” rumänische Kapitalismus war eine Eigenerfindung und schien das Land in einen Abgrund zu führen.

Die anderen ehemaligen sozialistischen Länder hatten auch ihre Probleme mit dem Übergang in eine neue Gesellschaftsordnung, aber sie fanden bessere Lösungen. So wurden z. B. in der gewesenen DDR die Landwirtschaftsbetriebe nicht einfach aufgelöst, sondern in GmbHs umgewandelt und von erfahrenen Fachleuten den neuen Bedingungen angepasst. Was ihnen fehlte, waren die Erntearbeiter, und die fand man in den Nachbarländern. Zuerst in Polen, danach in Bulgarien und Rumänien. Es hat sicher auf zwischenstaatlicher Ebene Vereinbarungen gegeben, aber gekannt hat diese niemand. Alles ging über Nacht durch Mundpropaganda los. Einer, der anfangs damit zu tun hatte, war ein bekannter Bukarester Geschäftsmann, auch als Politiker aktiv. Um im Ausland zu arbeiten, musste man zunächst persönlich nach Bukarest fahren, sich bei dieser Firma einer ärztlichen Kontrolle unterziehen und 100 Euro blechen. Mit der ausgefolgten Bescheinigung konnte man losfahren. Dass alles nur Formsache war, merkten die Schlauesten bald, nur noch einer fuhr mit einer Liste los, zahlte die Euro und kam „kerngesund für alle” wieder zurück. Das artete aus, Hunderte von Leuten aus dem ganzen Land belagerten das Gebäude am Cișmigiu-Park in Bukarest. Die Dienststelle wurde über Nacht sang- und klanglos aufgelöst und die Angelegenheit von Vermittlern vor Ort übernommen. Die ersten Moldauer und Maramurescher fuhren nach Frankreich, die Siebenbürger und Banater nach Deutschland oder Österreich, die meisten Rumänen nach Italien und Spanien, um bis zuletzt über ganz Europa verteilt zu sein. Erntearbeiter brauchte man vor allem in der europäischen Landwirtschaft, hier konnten die Rumänen einspringen. Ein Großteil von ihnen entstammte der Romabevölkerung, die als Tagelöhner schon immer in der Feldarbeit beschäftigt gewesen waren. In Siebenbürgen hatte jeder sächsische Bauer seine „Zigeuner”, wie sie bei uns auch heute noch bezeichnet werden. Sie waren besser als ihr Ruf, aber das wussten nur jene, die mit ihnen gearbeitet hatten.

Das nächste Angebot, in Deutschland Pflegefälle zu übernehmen, kam später hinzu, weil man dafür unbedingt Deutsch sprechen musste. Auch das wurde überbrückt, denn bald lernten rumänische und Roma-Frauen, sich mit Hilfe von Wörterbüchern durchzuschlagen. Die Österreicher waren die ersten, die diese Schwarzarbeit legalisierten, sie als Schwerarbeit einstuften und besser bezahlten. Deshalb waren sie ungehalten, als über EU-Beschluss vor drei Jahren Kindergeld für dieses Hilfspersonal verpflichtend wurde. Für die kinderreichen Romafamilien war das eine unverhoffte Glückssträhne. Sie bauten und vergrößerten ihre Häuschen. Das war alles gut, hätte es nur nicht die leidigen Papiere bei den rumänischen Behörden gegeben, die kaum jemand verstand (obwohl es keine Sprachfehler gab). Kein Beamter machte sie darauf aufmerksam, dass für das im Ausland erhaltene Kindergeld Steuern an den rumänischen Staat abzugeben waren. Erst als das Geld alle war, flatterte der Gerichtsbescheid ins Haus, Tausende von Lei waren nachzuzahlen, und das zu Winterbeginn, wenn die Kasse leer ist.

Noch hat sich niemand darangemacht, über dieses Kapitel der migrierenden Erntearbeiter eine Dokumentation zu erarbeiten. Es handelt sich um ein Stück Zeitgeschichte, das mehr Veränderungen mit sich gebracht hat, als man ahnte. Vieles änderte sich durch diesen wirkungsreichen Austausch. Rumänische Arbeiter kamen in einem unbekannten Land erstmals in Kontakt mit einer anderen Lebensweise. Man musste sich durchschlagen und anpassen. War der neue Lebensstil annehmbar oder sollte man lieber die alten Traditionen bewahren, war die Frage, die unbewusst gestellt wurde. Die Globalisierung begann, sich in die Dörfer einzuschleichen, Traditionelles wurde durch Neues ersetzt, das Fernsehen manipulierte die Unentschlossenen. Vieles wurde umgemodelt, mal fein, aber oft auf brutale Weise.

Eine Abmachung zwischen den Regierungen der westeuropäischen Länder und Rumänien hat es anfangs bestimmt gegeben, sonst wäre nichts gelaufen. Aber niemand wurde informiert, auf keinen Fall die Bürgermeisterämter in den Dörfern. Der Staat und die amtlichen Stellen hatten praktisch kaum etwas mit dem Problem der Erntearbeiter zu tun. Nur Sozialhilfeempfänger mussten sich abmelden, hie und da Stempel auf eine Liste gedruckt werden. Die deutsche Seite verlangte eine Bestätigung vom jeweiligen Kreisamt, dass Erntearbeiter über kein Gehalt und keinen Bodenbesitz verfügten. Das war alles, was  „Papa Staat” zu besorgen hatte. Der Rest blieb jedem selbst überlassen. Über Nacht entstanden Privatfirmen, die ein Geschäft witterten und Verbindung mit deutschen Landwirtschaftsbetrieben aufnahmen. Am Anfang meldeten sich wenige, aber bald Hunderte von Arbeitswilligen. Sie durften in der Landwirtschaft bis zu drei Monaten arbeiten, fuhren im Frühling oder Herbst los und schickten zwischendurch Geld an ihre Familien. Für die Privatfirmen wurde es ein Supergeschäft. Man zahlte eine Vermittlungssumme, kam auf eine Liste mit den nötigen Daten und wurde per Sonderbus direkt zum Arbeitsplatz gefahren. Untergebracht wurde man in Wohnräumen oder Containern, man arbeitete organisiert und kriegte einen genau festgelegten Lohn, der sich ständig vergrößerte. Es hat auch Fälle gegeben, wo man auf einen Gangster hereinfiel oder ein Unternehmer unehrlich war, aber schlimmer war es, wenn rumänische Aufseher das Sagen hatten, weil sie als einzige die deutsche Sprache beherrschten und ihre Stellung ausnützten.

In all den Jahren gab es kaum Presseberichte darüber, und das nur, wenn in Italien ein besonders krasser Betrug aufgedeckt wurde, weil Menschen wie Sklaven behandelt wurden. Betrügereien hat es bestimmt auch anderswo gegeben, aber wer riskiert schon seinen Job, wenn es ums Überleben geht. Sich wehren muss man erst lernen, dafür braucht man eine gewisse Erziehung und Erfahrung, die diesen Lohnarbeitern abging. Sie waren die Ärmsten der Armen, meistens ohne Schulbildung und anerzogenes Betragen, besaßen aber große Familien und viel Arbeitswillen. Viele von ihnen waren Roma, die schon immer am Rand der Zivilisation gelebt hatten.

Durch einen Zufall hineingeschlittert, habe ich mit meinem Mann Cristian Sencovici jahrelang eine Roma-Gruppe betreut, die unsere Hilfe brauchte. Es war nicht einfach, weil hier zwei Welten aufeinanderstießen. Der Arbeitgeber stellte seine Bedingungen, damit die Feldarbeit reibungslos verläuft, wir mussten unsere Roma davon überzeugen. Sie lernten schnell, nur mit der Lebensweise kamen sie schwer zurecht. Die Zimmer sauber zu halten, war zu Hause Frauenarbeit gewesen, Küche, Badezimmer und Waschmaschine reihum zu benützen, im Haus nicht zu rauchen und beim Biertrinken Maß zu halten, das war zu viel auf einmal. Anfangs waren sie nicht aus dem Badezimmer zu kriegen; Musik leise zu stellen, waren sie auch nicht gewöhnt. Aber sie hatten viel Glück. Der Arbeitgeber und seine Frau bemühten sich sehr um sie. Wir hatten sie über die Zustände in Rumänien informiert, sie halfen viel. Zuerst übernahmen sie die Transportkosten im Vorhinein. Denn kein Roma fährt los, ohne einen Schuldenberg zu hinterlassen: Vermittlungssumme, Transportkosten, neue Kleider und Schuhe, Reiseproviant und eine Reserve für die Familie war das mindeste, Geld musste geliehen werden. Schon vom ersten Arbeitstag an erhielten sie eine Geldsumme zum Einkaufen. Der Chef fuhr sie zum Kaufladen und zeigte ihnen, wie man günstig einkauft. Für den Fernseher im Aufenthaltsraum besorgte er ein Modem für rumänische Sender; Kleiderpakete wurden verteilt. Das Arbeitsprogramm war genau festgelegt: acht Arbeitsstunden mit je einer halben Stunde Pause für Frühstück und Mittagessen. Bezahlt wurde nach Stundenlohn, jeder erhielt einen Zettel mit der jeweiligen Leistung. Wer sich krank fühlte, wurde sofort zum Arzt gebracht, am schlimmsten war es mit den Zahnschmerzen. Man konnte in Deutschland nicht verstehen, warum nicht jeder Ort in Rumänien einen Zahnarzt hatte.

Wir hatten es schon zu Hause ausgemacht: Wer sich was zuschulden kommen lässt, wird von der Liste gestrichen! Es war die beste Methode: Wenn einer zu klauen versuchte, wenn er sein Geld am Spielautomaten verlor, wenn Zankereien in Schlägereien ausarteten, vor allem aber, wenn einer am Arbeitsplatz die Disziplin missachtete, dann wurde er nach Hause geschickt. Es ist nur einmal geschehen.