„Ich baute auf die Einsicht, dass große Veränderungen nicht nur Unannehmlichkeiten bringen“

ADZ-Gespräch mit Dr. Petre Datculescu, Gründer und Leiter des Meinungsforschungsinstituts IRSOP

Dr. Petre Datculescu

Als König Michael abdankte, war Petre Datculescu vier Jahre alt. Amüsiert erinnert er sich an die Wochenschau im kleinen Zeidner Dorfkino. „Es lebe der König!“, rief der Knirps, als er den Regenten auf der Leinwand erkannte. Alle lachten. Nur seine Mutter flüsterte ihm zu: „Halt den Mund, Peter!“ An seine Kindheit in Zeiden/Codlea denkt der Sozialpsychologe und Leiter des Meinungsforschungsinstituts IRSOP gerne zurück: die Mutter Sächsin, der Vater Rumäne, zu Hause wurde Deutsch oder Sächsisch gesprochen. Als er zwölf war, zog die Familie aus beruflichen Gründen nach Bukarest: Gymnasium, Studium, erster Job. Schwester und Eltern wanderten aus, was ihm im Kommunismus berufliche Einschränkungen bescherte. Nach der Wende packte er dann den Stier bei den Hörnern und gründete mutig ein Meinungsforschungsinstitut – das erste in Rumänien. „Es war das, was ich am besten konnte.“ Erste Umfragen nach dem Kommunismus, erste Wahlberichterstattung, erste Studien zum sich entwickelnden freien Markt. Aktuelle Themen heute: zum Beispiel die Pandemie. Sein Leben ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte. Und ein Lehrstück in Sachen Flexibilität. Wie vielseitig die Aufgaben eines Meinungsforschers sein können, schildert Petre Datculescu auch anhand seiner Studien für die Evangelische Landeskirche und die Bukarester Kirchengemeinde im Gespräch mit Nina May.

Herr Datculescu, Sie sprechen Deutsch wie ein Deutscher. Wie kommt das? Können Sie ein wenig über Ihren Hintergrund erzählen?
Ja, gerne. Ich bin mitten im Zweiten Weltkrieg in Zeiden geboren. Meine Mutter war Sächsin, mein Vater Rumäne. Unsere Sozialisation – meine und die meiner jüngeren Schwester Corina – erfolgte ausschließlich auf Deutsch: Kindergarten, Schule, Kirche. Mein Vater konnte auch Deutsch. Die Kindheit in Zeiden ist mir stark in Erinnerung geblieben. Es war eine wirtschaftlich schwierige Zeit, aber als Kinder haben wir nichts davon gespürt. Weltpolitik kam schwer in die kleine Gemeinde. Doch gegenüber von unserem Haus gab es ein Dorfkino. Dort wurden zwar überwiegend russische Filme mit Kriegsthemen gezeigt, aber es gab eine Wochenschau am Anfang jedes Films, wo die Weltereignisse zusammengefasst wurden. An die Abdankung des Königs kann ich mich gut erinnern.
Eine andere schöne Erinnerung an Zeiden ist das Waldbad, das die Sachsen Anfang des 20. Jahrhunderts mitten im Wald gebaut hatten. Leider war es in meiner Kindheit gesperrt. Man erzählte sich, es habe einem kommunistischen Parteifunktionär namens Apostol, der einmal dort zu Besuch war, so gut gefallen, dass man es ihm als Privaterholungsort gewidmet hatte. Der ist nie wiedergekommen, aber das Waldbad blieb lange gesperrt. Uns Kindern gelang es manchmal, wenn die Soldaten unaufmerksam waren, für zwei, drei Minuten hineinzuspringen. Dann wurden wir verjagt und gingen wieder die fünf Kilometer nach Hause. Später haben sie gemerkt, der Apostol kommt nicht mehr und haben es wieder geöffnet, aber da war ich schon weg, in Bukarest. Mein Vater hatte dort einen Posten bekommen, in einem Institut für Land- und Weinwirtschaft.

Wie verlief dann Ihre berufliche Karriere im Kommunismus?
In den 60er Jahren, als ich das Studium der Sozialpsychologie abgeschlossen hatte, gab es eine gewisse Öffnung. Es wurden Bücher gedruckt, Nachrichten gebracht, die Sozialwissenschaften wurden ein bisschen angekurbelt, wenn auch unter strenger Parteiaufsicht, aber man konnte weiter blicken als nur in den eigenen Hof. Ich habe dann in einem Forschungsinstitut für Jugendfragen angefangen und bin dort bis zur Wende geblieben. Natürlich wurden wir ständig beaufsichtigt von der Regierung, aber man konnte Untersuchungen machen und sich methodisch ausbilden.

War Ihr sächsischer Hintergrund jemals ein Hindernis?
Nicht direkt der sächsische Hintergrund, aber die Tatsache, dass meine Schwester Corina einen Deutschen geheiratet hatte und ich dadurch Verwandte in Deutschland hatte. Aus diesen Gründen durfte ich nicht promovieren.

Haben Sie oder Ihre Eltern damals ans Auswandern gedacht?
Meine Eltern natürlich. Sie sind in den frühen 80er Jahren, nachdem sie bei meiner Schwester zu Besuch waren, in Deutschland geblieben. Das war ein zusätzlicher Grund, warum ich nicht einen günstigeren Weg nach oben gefunden hatte. Ich bin dann alleine in Bukarest zurückgeblieben. Doch als die Wende kam, schlug auch die Stunde für mich. Da dachte ich: Jetzt kann man etwas anfangen! Das war spannend für mich.

Wie kamen Sie auf die Idee, nach dem Kommunismus ausgerechnet ein Meinungsforschungsinstitut zu gründen?
Ich baute auf die Einsicht, dass große Veränderungen nicht nur Unannehmlichkeiten bringen, sondern auch Chancen. Zweites war das mein Beruf, das, was ich am besten konnte. In den ersten Wochen nach der Wende habe ich mein Umfeld betrachtet und festgestellt, dass die neue Regierung sehr chaotisch vorging. Die alten Informationsketten waren zusammengebrochen, sie hatten keine Ahnung, wie die Leute dachten oder was sie von der Zukunft erwarteten. Es gab keine Methoden, um Informationen zu gewinnen über Lage und Stimmung im Land. Da hab ich gedacht, ich mache eine Umfrage auf eigene Kosten. Aus Kreisen und Städten haben wir Stichproben zusammengestellt und brennende Fragen an die Bevölkerung gestellt.

Waren die Leute nicht misstrauisch?
Es war gemischt. Die meisten waren euphorisch. Sie dachten, sie hätten es überwunden, es könne nichts mehr passieren, sie hätten es geschafft und seien frei. Sie waren froh, ihre Meinung sagen zu können, nachdem sie fünfzig Jahre keiner danach gefragt hatte. Wir fragten, wie sie zum Kommunismus stünden: Gibt es noch Unterstützung dafür? Soll die Todesstrafe beibehalten werden? Was soll mit den Mitgliedern der kommunistischen Regierung geschehen, die waren damals alle im Arrest. Der Vergeltungsdrang in der Bevölkerung war sehr hoch. Sie wollten, dass jemand bezahlt für all die Jahre der Unterdrückung. Die Umfrage hat gezeigt, dass keinerlei Unterstützung für den Kommunismus mehr vorhanden war. Die Todesstrafe sollte abgeschafft und das Regime verurteilt werden. Dieses Ergebnis hab ich an die provisorische Regierung geschickt, mit ein paar Kommentaren und der Idee, eine Einrichtung für Meinungsforschung zu gründen. In ein paar Tagen hatte ich dann eine Einladung des Premierministers.

Hat man Ihnen bei der Gründung des Instituts geholfen?
Sie sagten zu, für einzelne Umfragen zu bezahlen. Das hat ein paar Monate ganz gut funktioniert. Sie haben viele Umfragen bestellt und die Reformen waren sehr interessant in der ersten Zeit. Sie haben offene Fragen gestellt, an alle möglichen Gruppen der Bevölkerung. Wir hatten wirklich den Eindruck, dass wir etwas Nützliches tun. Wir haben dann ein Team zusammengestellt, nach einem Jahr hatte ich ungefähr 20 Mitarbeiter.

Wie konnten Sie die finanziellen Herausforderungen eines so großen Instituts bewältigen?
Was uns geholfen hat, waren die ersten Wahlen. Ich hatte mit meiner Schwester darüber gesprochen und sie meinte, ich sollte doch einmal zusehen, wie die Wahlberichterstattung im deutschen Fernsehen verläuft: Umfragen, Prognosen, Hochrechnungen. Ich kannte so etwas nicht und sie sagte, komm nach Deutschland – es gab gerade Wahlen – und schau dir das an. Das war faszinierend für mich. Ich habe ein deutsches Wahlforschungsinstitut kontaktiert  – Infas in Bonn – und gefragt, ob ich mehr erfahren könnte über die Methodik. Sie sagten mir, wenn Sie Wahlforschung in Rumänien machen wollen, dann kommen wir mit und helfen. Wir haben dann bei den ersten Wahlen zusammengearbeitet. Das war natürlich ein großer Aufwand: die Vorbereitungen, die Umfragen und Hochrechnungen. Man zählte sehr lange aus und die Leute dachten oft, das wären schon die Ergebnisse. Bei den nächsten Wahlen haben wir wieder mit Infas zusammengearbeitet. Das hat uns sehr geholfen, bekannt zu werden.
Doch dann haben wir den Bereich Politikforschung verlassen.Wir konnten uns wirtschaftlich nicht halten, nur mit Wahlberichterstattung alle vier Jahre. So sind wir zur Marktforschung übergegangen. Das war eine richtige Entscheidung und wir konnten viele Jahre davon leben. Wir haben das Feld entwickelt und neue Richtungen eröffnet. Dann mussten wir vor zwei bis drei Jahren wieder eine strategische Entscheidung treffen. Wir orientierten uns zurück auf den sozialen Bereich. Denn zum einen war die Marktforschung durch die Digitalisierung und Online-Quellen stark zusammengeschrumpft. Zum anderen war die Konkurrenz durch ausländische Einrichtungen sehr stark geworden. Heute haben wir als Schwerpunkte neben Marktforschung auch Sozialforschung und Unternehmensberatung.

Welche Experten haben Sie dafür?
Wir haben Experten zu vielen Bereichen im eigenen Haus: Soziologie, Statistik, Psychologie. Doch für Spezialthemen müssen wir Industrieexperten von außen nutzen, etwa, wenn jemand eine Untersuchung zu Finanz- oder  Energieproblemen verlangt.

Wer hat die letzten Studien über die Reaktionen der Bürger in der Corona-Krise veranlasst, die wir auch in der ADZ veröffentlicht haben?
Das haben wir auf eigene Kosten gemacht. Denn als Meinungsforschungsinstitut müssen wir in der Öffentlichkeit präsent sein, wenn wichtige Ereignisse stattfinden. Es war auch interessant für uns – und für die Kunden, die Marktforschung betreiben. Wir schicken ihnen solche Studien kostenlos.

Sie haben Umfragen für die Evangelische Landeskirche und die Bukarester evangelische Kirche durchgeführt. Was war der Anlass  – und was kam dabei heraus?
Mit einer landesweiten Studie für die Evangelische Landeskirche haben wir vor drei, vier Jahren begonnen, und zwar wegen des Rückgangs der Mitglieder durch Auswanderung, aber auch wegen großen Veränderungen im sozialen und wirtschaftlichen Umfeld. Man wusste nicht genau, wie sich diese Veränderungen auf die Gemeinde und die Überlebensfähigkeit der Kirche auswirken. Es hieß: Wenn das so weiter geht und die Mitglieder alle weg sind, was machen wir dann? Bleiben wir dann nur mit den Kirchenburgen und der Erinnerungskultur?
Befragt wurde sowohl die deutsche Gemeinschaft als auch das rumänische Umfeld. Wir wollten ein Bild bekommen, wie die deutsche Gemeinde aussieht, ihre Beziehungen zum rumänischen Umfeld, die Stärken und Schwächen der evangelischen Kirche, Per-spektiven und Risiken. Dabei kamen wir zu drei wichtigen Erkenntnissen. Die interessanteste war: Obwohl die deutsche Gemeinde klein ist, ist das soziale Kapital sehr groß. Darunter versteht man die Anzahl der Bindungen, Vernetzungen, Zusammenhalt, Tradition, gemeinschaftliche Hilfe. Wenn das soziale Kapital hoch ist, dann ist das Vertrauen unter den Mitgliedern hoch, die Gemeinde stark und ein wichtiger Stützpunkt für die Kirche. Das gilt allgemein für die Landeskirche und war sehr wichtig damals, denn das hat gezeigt, dass man auf dieser Gemeinde weiter aufbauen kann.
Das zweite Ergebnis war jedoch, dass Ressourcen von Kirche und Gemeinde schwach sind. Darunter versteht man nicht nur materielle, sondern auch biologische Ressourcen. Das Alter der Gemeinde ist fortgeschritten, soziale Ressourcen schwach, finanziell ist die Gemeinde nicht gut ausgestattet. Doch die intellektuellen Ressourcen sind wiederum hoch, die deutsche Gemeinde liegt weit über dem Bildungsgrad der Durchschnittsbevölkerung. Das dritte Ergebnis, in Bezug auf die Mehrheitsbevölkerung, war, dass das Ansehen der Sachsen bei den Rumänen  nach wie vor sehr hoch ist.

Was kann man aus alledem schließen?
Wenn man alle drei Ergebnisse im Zusammenhang sieht, kann man interessante Schlüsse ziehen. Erstens: Eine Chance für die Evangelische Landeskirche wäre die Öffnung für die Mehrheitsgesellschaft. Wenn man so ein gutes Ansehen hat, wäre es schade, es nicht zu nutzen! Zweitens: Wenn man zu wenige Mitglieder hat, braucht man Institutionen –  nicht unbedingt kirchliche, sondern zusätzliche, etwa im Gesundheitsbereich, Altersheime, Schulen, wirtschaftliche oder kulturelle. Nicht nur Trachtenparaden, sondern Institutionen mit Angestellten und breiter Teilnahme, offen auch für die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft. Diese könnten dann ein Rückgrat bilden für die weitere Stärkung der Gemeinde.
In Bukarest ist die Lage ähnlich, nur ist die Kohäsion in der Bukarester Gemeinde schwach, weil die Mitglieder so verstreut sind. Zusammenhalt ist nur möglich, wenn sie sonntags in der Kirche erscheinen, sonst sehen sich diese Leute nirgends. Und wieder komme ich auf Institutionen zurück: In Bukarest gibt es derzeit keine, außer dem Schillerhaus und dem Goethe-Institut.

Welche Rolle könnte die ADZ hierbei spielen?
Die ADZ könnte helfen, indem sie institutionelle Initiativen begleitet  – Ideen, was man für die deutsche Minderheit in Bukarest tun kann, außer Kindergärten gründen. Wenn dieses Gespräch in Gang kommen könnte, auch durch die ADZ, dann könnte man die einzelnen Initiativen zusammenbringen zu richtigen Institutionen. Aber das ist ein Prozess. Der muss von unten beginnen, mit Menschen, die Neugier, Lebens- und Schaffensfreude einzelner Gruppen und Personen stimulieren, um daraus etwas Konkretes aufzubauen.

Sie selbst sind auch aktives Mitglied des Presbyteriums?
Ja, ich bin Mitglied, aber mein Beruf und die Arbeit beschäftigen mich voll, ich bin ja nicht in Rente. Ich habe auch außerhalb des Instituts viel zu tun, schreibe Bücher. Aber es macht mir Freude, im Presbyterium mitzuwirken und mir gefällt die Atmosphäre. Die Mitglieder sind ganz verschieden, unsere Visionen, die Sprache, die wir sprechen. Sie ist nicht immer dieselbe –  aber das ist auch sehr interessant! Wir besprechen Projekte, haben verschiedene Meinungen und pflegen die Auseinandersetzung. Das empfinde ich als bereichernd.

Haben Sie ein Lebensmotto?
Ja. Wie kannst du besser sein!

Vielen Dank für das interessante Gespräch.