„Ich gebe niemals auf!“

Eine Geflüchtete baut sich ein neues Leben in Kronstadt auf

Hanna, hier mit ihren Töchtern auf der Hochzeit rumänischer Bekannter in Ploie{ti, achtet sehr auf ihr Äußeres, „denn das macht mich glücklich“. Anfangs war es ihr peinlich, sich als Geflüchtete hübsch zu machen. Irgendwie schien es nicht zum Kontext zu passen. Doch dann merkte sie, dass ihr gutes Aussehen seelisch gut tut.
Foto: privat

Hannas Gurke, die auf dem Balkon in Kronstadt wächst
Foto: Hanna Dunschenko

Mit Olessia, der Managerin des „Kids Club”, vor dem Eingang ihres kleinen Unternehmens
Foto: Laura Căpățână Juller

Anfang März ist Hanna Dunschenko mit ihren beiden Töchtern Ljuba und Dascha aus Odessa geflüchtet. Über die Republik Moldau ist sie, per Bus, nach Kronstadt/Bra{ov gereist. Ein rumänischer Bekannter hatte ihr eine Wohnung hier vermittelt, wo sie kostenlos wohnen durfte. In den ersten Wochen war sie als Freiwillige beim Flüchtlingszentrum Cattia und bei der Polizei tätig, dolmetschte zwischen Ukrainern und den rumänischen Behörden. Seit Mai arbeitet sie fest bei einer rumänischen Firma. Nebenbei hat die gelernte Anwältin und Ingenieurin eine Sommerschule gegründet, wo ihre und andere Flüchtlingskinder sowie auch Kronstädter Kinder ihre Freizeit verbringen.

Hanna ist 36 Jahre alt, wenig über 1,60 Meter groß und sehr entschlossen. Am 9. August werden es bereits sechs Monate, dass sie in Kronstadt lebt. Sie wohnt im vierten Stockwerk eines Wohnblocks mit Blick auf die Zinne und zieht am Balkon eine kleine Gurkenpflanze, die sie Tag für Tag gießt. Ihre Mädchen, 8 und 10 Jahre alt, hat sie in die Schule eingeschrieben, sie hat eine Vollzeitstelle im Bereich Personalmanagement gefunden und betreibt eine Sommerschule „Kids Club Bra{ov” (Fabriciistraße). In nur wenigen Monaten hat sie ein neues Leben angefangen. „Ich muss es. Für die Kinder”, sagt Hanna.

Die Entscheidung, zu flüchten war sehr schwer. Ganze neun Tage seit Ausbruch des Kriegs hat sie gebraucht, um den Entschluss zu treffen. „Odessa ist mein Zuhause. Ich habe die ganze Welt bereist, aber meine Wohnung habe ich ausgerechnet in Odessa gekauft. Dort gefällt es mir am besten”. Vor dem Krieg in der Großstadt hat sie sich im kleinen Bunker des Hauses ihrer Mutter versteckt. „Wir haben alle dort gewohnt, meine Mutter, mein Ex-Mann, die Kinder und ich. Dann sind noch einige Bekannte hinzugekommen“, erinnert sie sich. „Ich versuchte, die Mädchen ständig zu beschäftigen, wir haben viel gesungen, gezeichnet und gespielt. Aber man hörte trotzdem die Sirenen heulen und Lärm”. Sie wollte dennoch zu Hause bleiben. Erst vor wenigen Monaten hatte sie ihr eigenes Appartement gekauft und war so glücklich.

„Denk an deine Kinder!“

Dieser Satz eines Freundes löste die Änderung aus. So konnte es nicht weitergehen. Es war weder sicher noch menschenwürdig, im Bunker in Angst zu leben. Einige Kleider, einen Wintermantel von ihrer Großmutter und ein Stück Schweinespeck aus dem Eiskasten war alles, was sie in ihren Koffer packte. Die Mädchen haben auch ihre rosafarbenen Kindertrolleys mitgenommen, auf denen Eiskönigin Elsa abgebildet ist: Je ein Lieblingsplüschtier, einige der Lieblings-Filzstifte und einige Lieblingsklamotten waren unabdingbar. Eine viertägige Reise mit dem Auto in die Republik Moldau folgte. „Die Straße war kilometerlang leer. Vorne kein Auto. Hinten kein Auto. Weit und breit kein Auto. Das war sehr erschreckend”, beschreibt die zweifache Mutter. „Ich hab auf das Gaspedal gedrückt, Vollgas gegeben.” Die kilometerlangen Warteschlangen an der Grenze erschreckten sie ebensosehr. Sie suchte einen anderen Grenzpunkt auf. „Es war ein Wunder, es waren kaum Autos dort. Solange man unsere Dokumente überprüft hat, sind etliche Fahrzeuge gekommen, eine lange Schlange bildete sich hinter uns”. Aus der Republik Moldau reisten sie mit dem Bus weiter mit dem Endziel: Kronstadt. „Es war fürchterlich kalt, minus 25 Grad, wir haben gefroren. Die Reise war sehr schwer”. Mitten in der Nacht erreichten sie die Stadt, die Hanna ein einziges Mal, als Touristin, besichtigt hatte. Eine Kronstädterin brachte sie in eine Wohnung und versorgte sie mit Essen. „Alexandra kannte uns nicht, wir haben nur einige SMS gewechselt. Sie ist mitten in der Nacht gekommen und hat uns in ein Luxusappartement gebracht, das sie gewöhnlich vermietet“, erinnert sich die Geflüchtete mit Tränen in den Augen. „Ich habe jetzt eine Schwester in Bra{ov, Alexandra.” Hanna ist beeindruckt von der Güte dieser Unbekannten, von der Güte der Kronstädter, die sie mit warmen Herzen aufgenommen haben. „Sie mussten es nicht tun, aber sie haben es getan. Es hat so viel ausgemacht.“

„Schau auf die Landkarte!”

„Anfangs bin ich nur in der Ecke des Apartments gesessen. Es war zu viel für mich. Ich konnte nicht verstehen, was passiert war. Dann habe ich mich zusammengerissen und alles neu begonnen.” Erst hat sie beim Flüchtlingszentrum Cattia und bei Behörden freiwillig gedolmetscht. Andauernd kamen Flüchtlinge aus der Ukraine, Hanna hatte alle Hände voll zu tun. Sie machte das alles, um nicht an den Krieg und dessen Folgen zu denken. Wie viele Ukrainer hat sie gehofft, dass sie bald wieder nach Hause reisen wird. „Als ich einen Freund, der Politiker ist, gefragt habe, wie lange der Krieg denn noch dauern würde, hat er einfach nur geantwortet: Sei nicht dumm. Schau auf die Landkarte!“ So hat sich Hanna Dunschenko entschieden, vorerst für längere Zeit in Kronstadt zu bleiben.

Sobald das klar war, bewarb sie sich für eine Arbeitsstelle, schrieb die Kinder in die Schule ein. Sie hat an Programmen für Flüchtlinge teilgenommen, die von der Kronstädter Gemeinschaft oder von unterschiedlichen Vereinen veranstaltet wurden, und Möglichkeiten gesucht, ihre Mädchen zu beschäftigen und zu integrieren. Dasha und Ljuba nehmen seit zwei Monaten an einem kostenlosen Breakdance-Unterricht für ukrainische Kinder teil. Dort traf Hanna einen Unternehmer, der sie anstellte. „Wir wollten ihr helfen, haben sie angestellt und gehofft, dass sie etwas machen kann, was wir in der Firma brauchen. Aber sie ist so gut und zuverlässig, dass wir sehr glücklich sind, sie bei uns zu haben“, sagt Claudiu, ihr Vorgesetzter. Parallel zu diesem Job arbeitet die Anwältin online noch für ihre Kunden aus der Ukraine.

Hanna lächelt ständig, geht leicht auf Menschen zu und redet zu jedem Thema mit, sei es auf Russisch, Englisch oder Deutsch. Ihre Entschlossenheit scheint Türen zu öffnen, Chancen zu bringen. So kam es zum „Kids Club”, einer Sommerschule, die sie selbst auf die Beine gestellt hat. Einige Wochen lang hat sie mit ihrem Freund, einem Hermannstädter, und mit ihren beiden Töchtern einen Raum eines ehemaligen Kulturzentrums gereinigt und an die Bedürfnisse ihres Geschäfts angepasst. Im Garten stand das Unkraut hüfthoch. Mit viel Arbeit brachten sie auch diesen auf Vordermann. Elf Kinder besuchen die Schule bereits. Eines davon ist Rumäne, die anderen Ukrainer. Die Lehrkräfte sind zu fast 90 Prozent Kronstädter. Sie arbeiten freiwillig für Hanna, unterstützen ihr Vorhaben. Allein die Managerin wird bezahlt. Sie ist ebenfalls aus Odessa in die Zinnenstadt geflüchtet. “Sobald wir Geld verdienen, werden alle bezahlt. Es ist mein Team, ich will es gut behandeln”, sagt Hanna.

„Nachts weinen wir manchmal zusammen”

Auch wenn Hanna Dunschenko und ihre Töchter sich in ihrer Adoptivstadt wohl zu fühlen scheinen, Freunde haben, ausgehen, Konzerte besuchen, aktiv sind, aber auch Reisen im In- und Ausland unternehmen, erklärt die Mutter, dass sie erst alles verarbeiten müssen, was passiert ist. „Neue Sprache, neue Stadt, neue Kultur. Alles ist neu hier. Nachts weinen wir manchmal zusammen. Die Mädels sagen mir, wie sehr sie das Zuhause vermissen.“ Sie treffen ihren Vater und die Großmutter täglich on-line, singen ukrainische Lieder und bevorzugen ukrainische Kinder zum Spielen. Vergangene Woche ist Hannas Mutter aus Odessa zu Besuch gekommen. Die Freude war riesengroß. Die 59-jährige Oma hat ihrer Tochter die Lieblingsschuhe und -kleider gebracht, den Mädchen das Spielzeug und die Filzstifte von zu Hause, die sie so gern hatten. Sie will in zwei Wochen wieder in ihre Heimat fahren. „Die Mädchen bleiben mit meiner Mutter. Ich fahre für einige Tage nach Odessa. Ich muss. Ich will die Wände meiner Wohnung umarmen, meine Freunde treffen, das Meer sehen. Mein geliebtes Meer. Ich muss noch einige Sachen erledigen, einiges abschließen.“ Hanna ist derzeit auf dem Weg nach Odessa. Sie hört Sirenen heulen, ihre Stimme klingt ernst. Videos darf sie nicht machen, sie schickt ihrer Familie in Kronstadt Audioaufnahmen.

Auch ukrainische Politiker schuld

„Nicht nur die Russen haben die Ukrainer vertrieben. Unsere Politiker waren es auch!“ sagt Hanna empört. Die Gehälter seien gesunken, die Preise gestiegen, die Menschen könnten kaum noch überleben. Dafür aber hätten die Politiker ihre Gehälter verdoppelt. Das findet Hanna unglaublich. „Ich werde diese Menschen nie unterstützen, nie für sie stimmen”, sagt sie. Trotzdem will sie nach Kriegsende vielleicht wieder in die Hafenstadt in ihr neues Appartement ziehen. Gleichzeitig hat sie aber auch ein Visum für Kanada beantragt und erhalten. Sie ist offen für alles was kommen mag. „Ich habe den Sonnenschein täglich vor meinen Augen (Anm. d. Red.: ihre Kinder) und werde alles tun, damit es meinen Mädchen gut geht, egal was das bedeutet! Ich gebe niemals auf.“