Langweiliges Latein? Von wegen!

Dan-Slușanschi-Sommerschule für klassische Sprachen bessert Bildungslücke aus

Teilnehmer und Kursleiter aus Irland, der Türkei, Chile, Finnland, Deutschland, Indien, den Niederlanden, Italien, Ungarn, den USA, Frankreich und aus Rumänien machten während der Auflage 2020 der Dan-Slușanschi-Sommerschule für klassische Sprachen online miteinander Bekanntschaft. Foto: Facebook @DanSlusanschiSchool

Rumänien drängt Unterrichtsgegenstände wie Musik, Zeichnen und Latein an den Spielfeldrand, und das nicht erst seit gestern. Was im späteren Erwachsenenleben nur Profis Geld bringen kann und muss, braucht zukünftige Laien nicht im Geringsten zu interessieren, so der Tenor von Bildungsmassen, deren einzige Priorität auf Sicherstellung eines prall gefüllten Portemonnaies abzielt. Für ein Mindestmaß an Artikulationsfähigkeit in künstlerisch-humanistischen Belangen, das im Wörtchen Allgemeinbildung mitgemeint ist, hat Rumänien immer weniger übrig. Eingetrübte Sichtweisen auf den Alltag, in dem nunmehr allein Geld die Welt regiert, und politisch schier irreparable Fehlumstände rauben Groß und Klein die Zeit und Muße für Dinge, die den Appetit auf sinnstiftende Zerstreuung stillen, statt die Kühlschrankregale fett und schwer auffüllen sollen. Notenlesen, den tieferen Sinn eines Bildes erkennen können und in neuen Büchern alte Geschichten wiederentdecken? Ach, bleibt uns damit bloß vom Hocker, das ist doch nur etwas für Menschen, die das nach Schulabschluss zu ihrem Beruf machen wollen! So nährt Rumänien den Verlust seiner Mitte, auf die es vor nicht allzu langer Zeit noch recht stolz sein konnte.

Eine gebildete Mitte dafür besteht nicht nur aus Experten, die Qualitätsbeschäftigungsangebote erstellen und einem möglichst breiten Publikum zugänglich machen wollen, sondern auch und vor allem aus Menschen, die trotz nicht durchlaufener Ausbildung dennoch über ausreichend Vorbildung zum Reflektieren einer Kunstausstellung, einer Theateraufführung, eines klassischen Konzerts, eines Dokumentarfilms, einer literarischen Zeitschrift oder gar eines Romans verfügen. Dass Rumäniens kulturelle Offerte eine Vielfalt auf Lager hat, die selbst im unbehaglichen ersten Halbjahr 2020 auf Knopfdruck genutzt werden konnte, ist ein erfreulicher Fakt. Auch der Büchermarkt lässt sich nicht lumpen. Staatsbürger, denen der Sinn nach Kunst, Musik und Literatur steht, brauchen keine Trockenheit im Flussbett des autochthonen Angebots zu fürchten. In das Reservoir für die Befriedigung ihres Bedürfnisses wird fortwährend Nachschub eingespeist. Können sie jedoch eine kritische Masse formieren, die zahlenmäßig  stark genug ist, staatspolitisch ein Wörtchen mitzureden?

Leider spricht die nüchterne Antwort darauf kaum mehr als ein verhaltenes Jein aus. Seit Anfang August macht die Nachricht die Runde, dass der Stundenplan der Klassen fünf bis acht auf Anordnung des nationalen Bildungsministeriums die Unterrichtsgegenstände Musik und Zeichnen nur noch als Wahlfachoptionen beinhalten könnte. Schülerinnen und Schüler des Schuljahres 2020/2021 würden folglich aufgefordert, sich für eines der beiden Fächer zu entscheiden, so das erste von zwei möglichen Szenarien. Variante Nummer zwei sieht vor, den Latein-Unterricht komplett von der Liste zu streichen.

Beschneiden von Unterrichtsgegenständen, die das Künstlerische und Humanistische des menschlichen Daseins berühren, geht mit schwer wiedergutzumachenden Dauerschäden einher. Raluca Alexandrescu, ständige Mitarbeiterin der politisch unabhängigen Zeitschrift „Revista 22“ der Gruppe für Sozialen Dialog (Grupul pentru Dialog Social, GDS), nimmt im Artikel „De la ‘latina fără lacrimi‘ la școala cu polistiren“ (veröffentlicht am 11. August auf www.revista22.ro) gerechtfertigt kritischen Bezug auf den Vorschlag entscheidungsbefugter Gremien des rumänischen Bildungsministeriums, den Latein-Unterricht aus dem Curriculum der Klassen fünf bis acht zu nehmen. Und die sechs Leserkommentare auf den Artikel von Raluca Alexandrescu sprechen Bände für einen Zwiespalt, den Rumänien bislang nicht zu seinen eigenen Gunsten lösen konnte.

Polen, ebenfalls Sorgenkind der Europäischen Union, stellt sich in der Frage des Latein-Unterrichts ein klein wenig geschickter an. Daniel Tilles, Gastdozent für Geschichte an der Pädagogischen Universität Krakau und Chefredakteur des 2014 vom britischen Cambridge aus gegründeten Medienportals „Notes from Poland“ (NfP, notesfrompoland.com), informiert in einer am 21. Juli veröffentlichten Nachricht über die Neuerung, dass Latein und die Kultur klassischer Antike mit Beginn des Schuljahres 2020/2021 dem Herzstück des Curriculums für Polens Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse hinzugefügt werden. „Der Zweck besteht darin, Schülern die Wirkung der lateinischen Sprache und der Kultur griechisch-römischer Antike auf die europäischen Sprachen und die Kultur späterer Jahrhunderte zu zeigen. Griechisch-römisches Kulturerbe ist als das konzeptuelle und materielle Fundament westlicher Zivilisation und polnischer Kultur zu verstehen. Das Herzstück des Curriculums führt Latein als eine Art Code, den europäische Eliten jahrhundertelang verwendet haben“, so der gesetzliche Wortlaut, demzufolge Polens Schülerinnen und Schüler „mit den Werkzeugen zum Lesen einfacher lateinischer Texte ausgestattet sein sollen“. Doch die Bildungsneuerung hat einen Haken: denn Latein und die Kultur klassischer Antike ist einer von vier wählbaren Unterrichtsgegenständen, die jeweils mit einer einzigen Wochenstunde Unterrichtszeit belegt sind. Polens Neuntklässler müssen sich für nur einen entscheiden; Philosophie, Kunst und Musik stehen mit zur Auswahl. Was tun Staaten wie Polen und Rumänien, wenn Jugendlichen so eine Entscheidung schwerfällt, weil sie auf keine der vier Teildisziplinen verzichten möchten?

Cristian Iosif Mladin, Museumsfachkraft am altehrwürdigen Batthyaneum in Karlsburg/Gyulafehérvár/Alba Iulia, der berühmtesten siebenbürgischen Filiale der Nationalbibliothek Rumäniens, ist einer von 64 jungen Theologen, Philosophen, Historikern, Philologen, Kunstgeschichtlern und Studierenden exakter Wissenschaften, die im Zeitraum 6. Juli - 7. August von einem oder mehreren Kursangeboten der 2. Auflage der Dan-Slușanschi-Sommerschule für klassische Sprachen Gebrauch gemacht haben. Unter der Schirmherrschaft der Lucian-Blaga-Universität Sibiu (ULBS) und des ihr angehörenden Instituts für Ökumenische Forschung Hermannstadt (IÖFH) wurde intensiv Altslawisch, Altgriechisch und Latein gelernt und geübt. Hätte man die Rechnung ohne Corona-Pandemie machen können, würde die Sommerschule in Hermannstadt stattgefunden haben. Stattdessen trafen Kursleiter und Teilnehmer einander online. Sogar Orte wie Oxford, Princeton und Harvard waren unter ihnen vertreten. Vom Anfängerniveau ohne jegliche Vorkenntnis über mittleres Können bis hin zu fortgeschrittenem Niveau wurden fünf unterschiedliche Schwierigkeitsgrade berücksichtigt. In Hommage an Dan-Mihaiu Slușanschi (1943-2008), der Rumäniens Szene klassischer Philologie zu internationalem Ruhm verholfen hat. Antoaneta Sabău, Florin Călian und Sebastian Mateiescu, im Auftrag des IÖFH Forschende, haben Slu{anschi persönlich gekannt und wollen durch jährliche Veranstaltung der nach ihm benannten Sommerschule erreichen, dass Rumänien den mühevoll erarbeiteten Anschluss weiterhin behält.

Ein schwieriges Unterfangen, wenn die staatliche Bildungspolitik hinterherhinkt. Umso mehr bedeutet die Initiative der drei genannten Fachkräfte des IÖFH ein überaus willkommenes Lernangebot. Denn was Institutionen dieser Art leisten, nützt nicht nur den direkt daran beteiligten Eliten, sondern indirekt auch der gesamten Sozialwelt ringsum. Aleksandr Sizikov, Leiter des Biblischen Departements an der Staatlichen Universität St. Petersburg, Mihail Mitrea, aus Hermannstadt stammend und Forscher am Institut für Südosteuropäische Studien der Rumänischen Akademie, Mircea Grațian Duluș, Alumnus der Universitŕ degli Studi di Napoli „L´Orientale“ und der Zentraleuropäischen Universität Budapest, Octavian Gordon, Dozent für Altgriechisch und Latein an der Universität Bukarest, Ștefan Colceriu, Forscher am Institut für Linguistik der Rumänischen Akademie, Michail Konstantinou-Rizos, Mitglied des internationalen Thomas-von-Aquin-Forschungsprojekts der Universität Patras und der Universität London, und Antoaneta Sabău haben die Dan-Slușanschi-Sommerschule 2020 als Dozenten begleitet.

Dan Koski, gebürtiger US-Amerikaner mit viel Lebenserfahrung in Israel und Europa und seit Herbst 2019 Verwaltungsbeauftragter des IÖFH, sorgte für fließende Kurskommunikation vor, während und nach der allseits bereichernden Dan-Slușanschi-Sommerschule für Altslawisch, Altgriechisch und Latein. Wer sich geeigneten Lehrmeistern und Kollegen anschließt, wird mit seinem Latein bestimmt niemals am Ende anlangen. Letzteres geschieht – sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinn – traurigerweise noch immer dem rumänischen Staat. Schrumpfende Schnittmengen zwischen Bildung und Staat kann Rumänien nicht brauchen. Das Gegenteil hiervon ist nötig, und zwar so rasch wie möglich. Nicht nur europäische Geldgeschenke, die leicht und gerne erfolglos verprasst werden, sondern auch wertbeständige Ressourcen, die sich durch Teilen vermehren. Lateinkenntnisse zum Beispiel. Die gehören einfach mal nicht über Bord geworfen!