Lieber dienen als herrschen

Beim Ausbruch der Russischen Revolution im Jahre 1917 wurde der russische Zar, einer der mächtigsten Machthaber Europas, zur Abdankung gezwungen. Er musste auf Krone und Reich verzichten. Was muss das auf den Träger der Zarenkrone für einen erschütternden Eindruck gemacht haben, als er, der bisher auf einer der Höhenspitzen der Menschheit gewandelt war, plötzlich in die Tiefe des gewöhnlichen Menschenlebens hinab gerissen wurde! Was muss es für eine Überwindung für ihn gewesen sein, märchenhafte Reichtümer mit bitterer Armut zu vertauschen! Welche Gefühle für einen Herrscher, wenn er Krone und Zepter, vor denen sich früher Tausende und Millionen im Staube bückten, aus der Hand legen muss, um im Strudel des Alltags zu versinken, wenn er auf alle Vorrechte, auf Ehren und Auszeichnungen verzichten musste‚ um sich in Gehorsam dem Willen und dem Gesetz anderer zu beugen!

Wir Menschen möchten gerne auf der Erfolgsleiter emporsteigen, aber keiner will freiwillig von oben herabsteigen. Keiner? Das hat aber einer fertiggebracht: Jesus Christus! Er, der Herr der Herrlichkeit, stieg, nicht gezwungen, sondern aus freiestem Willen herab in das Land der Sterblichkeit. Der Apostel Paulus beschreibt dieses einmalige Ereignis in seinem Brief an die Philipper so: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz!“ Es ist von keiner großen Bedeutung, ob ein Sterblicher im Leben ein paar Stufen höher oder niedriger steht, ein Mensch bleibt er immer noch und unter die Menschenwürde kann ihn niemand degradieren. Hier aber hat sich der Allerhöchste in einer unbegreiflichen Selbsterniedrigung degradiert. Der Schöpfer wurde ein Geschöpf, Gott wurde Mensch! Er beanspruchte keinen Thron, keine Herrscherkrone, keine Befehlsgewalt. Seinen Aposteln erklärte er: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen!”

Würden alle, die an der Macht sind, sich als Diener an ihren Mitmenschen betrachten und ihre Macht entsprechend ausüben, würde unsere Welt viel freundlicher und vor allem viel friedlicher aussehen. Aber nicht nur Menschen, die Macht ausüben, sollen diese als Dienst an den Mitmenschen betrachten, auch wir, die Kleinen, sollen an einander in diesem Sinne handeln. Da gibt es aber eine große Hürde zu überwinden, die viele nicht übersteigen wollen, das ist das aufgeblähte „Ich“. Was bläht das Ich auf? Die Selbstüberschätzung! Sie suggeriert: „Ich, immer Ich, Ich vor allem, Ich als erster im Weltall, Ich vor der ganzen Menschheit, Ich sogar vor Gott!“ Die Selbstanbetung ist wohl der verbreitetste Götzendienst. Welche Geistesfrüchte bringt ein Mensch hervor, der nicht dienen will? Das veranschaulicht uns der dänische Denker Jürgensen in einer Parabel.

Der wilde Weinstock war ursprünglich ein junger üppiger Zweig an einem edlen Weinstock und war bestimmt, süße Früchte zu bringen. Er aber, der junge Sprössling, war mit einem solchen Los nicht zufrieden. „Wer hat gesagt“, so fragte er trotzig, „dass meine Bestimmung ist, den Menschen zu dienen? Ich will nicht dienen, will keine Trauben für die Menschen tragen. Ich will mich hoch an der Mauer wiegen, frei von der Sklaverei des Gitterwerks, an das der Mensch mich gekettet hat. Ich will mich nicht von tyrannischen Händen aufbinden und beschneiden lassen, sondern allein für mich und nach meinem eigenen Geschmack mein Leben führen und gestalten!“ So wuchs der wilde Wein über den Rand der Mauer hinaus und löste sich von seinem Mutterstamm. Seit dieser Zeit ist er viel in der Welt umhergewandert. Er wächst schnell in die Höhe, aber Trauben trägt er nicht. Der edle unscheinbare Weinstock hingegen bringt Jahr um Jahr die köstliche Ernte, die sich der wilde Weinsprössling versagte.
Das ist das anschauliche Bild des Egoisten, der nur an sich denkt und sich über andere erhebt. Solche Dienstverweigerer am Mitmenschen werden sich nie zu Wohltätern umgestalten. Nehmen wir uns den „dienenden Christus“ zum Vorbild. Er hat uns mit seinem aufopfernden Dienst erlöst. Von seinem Geist erfüllt, helfen wir als Dienende mit, die Welt besser zu gestalten. Es sei unsere Devise, von Christus inspiriert: „Lieber dienen als herrschen!“