Mild ist nicht harmlos

Auch Omikron kann überlastete Spitäler und Langzeitschäden verursachen

Die Zigarettenmarke „Milde Sorte“ musste 2003 in „Meine Sorte“ umbenannt werden: Eine EU-Richtlinie verbot die Bezeichnungen „light“ oder „mild“ für Tabakwaren, weil sie irreführend seien.
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Wenn von Omikron die Rede ist, heißt es meist „die hochansteckende neue Variante des Coronavirus“, gerne gefolgt von „die zu milderen Verläufen führt“. Dass ersteres den Tatsachen entspricht, führen die rasend steigenden Infektionszahlen vor. Was „mild“ angeht, ist die Sache weniger eindeutig: Denn das Attribut erweckt den Eindruck, dass die Sache mit etwas Halskratzen und Kamillentee überstanden wäre. Das mag für viele, vor allem Geimpfte, zutreffen – aber dennoch hat Omikron das Potential, langfristig mehr Schaden anzurichten als vorige Varianten.

Tatsächlich ist es so, dass bislang die Hospitalisierungsraten bei Weitem nicht so sehr in die Höhe schießen wie die Infektionsraten. Dies liegt einerseits daran, dass viele sich mit der Impfung vor schweren Verläufen geschützt haben. Der andere Grund ist, dass Omikron offenbar weniger tief in die Lunge eindringt und eher Erkrankungen der oberen Atemwege verursacht, sodass weniger Menschen stationär behandelt oder gar intubiert werden müssen.

Nicht nur eine Lungenkrankheit

Aber Covid-19 ist eben nicht nur eine Lungenkrankheit: Das Virus greift die Organe an, das Nervensystem und das Gehirn – und es gibt bislang keine Hinweise, dass Omikron in dieser Hinsicht weniger gefährlich wäre. Covid-19 verursacht dadurch Langzeitschäden, auch bei gesunden Menschen, auch bei leichten Verläufen. Bis zu 15 Prozent aller von Covid-19 Genesenen sind langfristig eingeschränkt, so die Einschätzung der deutschen S1-Leitlinie „Post-/Long-Covid“ vom Juli 2021. Die Angaben hierzu schwanken massiv – manche Studien gehen von 10 Prozent aus, manche von 40 Prozent.

Von denjenigen, deren Erkrankung einen Spitalsaufenthalt nötig machte, leidet sogar gut die Hälfte sechs Monate später an mindestens einem Long Covid-Symptom – so das Ergebnis einer Metaanalyse von 57 Studien mit insgesamt 250.351 Genesenen („Jama Network“, Oktober 2021, Destin Groff et al.). Die meisten Betroffenen nannten dabei Atembeschwerden, neurologische Störungen, Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, Bewegungseinschränkungen, Erschöpfungszustände oder Muskelschwäche.

Auch Organschäden lassen sich nachweisen: Am Universitätsklinikum Ulm etwa wurde im Februar 2021 eine Sprechstunde für Long-Covid-Patientinnen und Patienten eingerichtet, dabei war bei etwa 20 Prozent ein Organschaden festgestellt worden – meist an der Lunge oder am Herzen. Laut einer Studie der Goethe-Universität Frankfurt lässt sich bei drei Viertel von 100 Infizierten zwischen 45 und 53 Jahren eine Schädigung des Herzens nachweisen – auch wenn der Verlauf mild war. Die Betroffenen verspüren nicht unbedingt eine Einschränkung. Manche Schäden werden mit der Zeit vielleicht auskuriert, andere machen sich in Jahren oder Jahrzehnten erst bemerkbar.

Auch Jugend schützt nicht: Eine Studie aus Norwegen (veröffentlicht in „nature medicine“, Juni 2021, Bjørn Blomberg et al.) zeigt, dass über die Hälfte einer Gruppe von 247 Covid-Genesenen zwischen 16 und 30 Jahren, die nicht hospitalisiert wurden (also milde Verläufe hatten), sechs Monate später noch Symptome zeigten: 28 Prozent litten unter Geschmacks- und Geruchsstörungen, 21 Prozent unter Erschöpfungszuständen, 13 Prozent unter Konzentrations- und 11 Prozent unter Gedächtnisstörungen. 

Angriff auf Geschmack, Gedächtnis und IQ

Dominique de Quervain, Hirnforscher an der Universität Basel, hat auf seinem Twitter-Account Studien gesammelt, die sich mit neurologischen Schäden durch Covid-19 beschäftigen. Demnach steigt das Risiko für eine neurologische oder psychiatrische Erstdiagnose nach einer Infektion signifikant („The Lancet“, April 2021, Maxime Taquet et al.). Das Virus hinterlässt Schäden am Gehirn: Aufnahmen vor und nach einer Infektion zeigen, dass die „graue Substanz“ abnimmt, in den Hirnregionen, die für Geruch, Gedächtnis und Emotionen wichtig sind (Wellcome Centre for Integrative Neuroimaging, Juni 2021, Gwenaëlle Douaud et al.). 

Eine großangelegte Untersuchung („The Lancet Diabetes and Endocrinology“, November 2021, Waldemar Kanczkowski et al.) an Covid-Toten zeigt, dass das Virus die Nebennieren angreift, was zu einer Störung der Cortisol-Produktion und Stressregulation führen und neurologische Symptome auslösen könnte. 

Klüger macht die Covid-Erfahrung auch nicht: Eine im Juli 2021 von „The Lancet“ veröffentlichte Studie, bei der die kognitiven Fähigkeiten von über 80.000 Menschen getestet wurden, zeigt, dass Genesene signifikant schlechter abschneiden als Menschen, die nie infiziert waren – vor allem in den Bereichen logisches Denken und Planen sowie Sprache (Wortfindungsstörungen treten häufig auf). Je schwerer die Erkrankung verlaufen war, desto gravierender der Effekt – Menschen, die beatmet werden mussten, verloren im Schnitt sieben Punkte ihres Intelligenzquotienten.

Das Coronavirus kann auch, ebenso wie etwa das Influenza-Virus, ME/CFS auslösen – Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Die Symp-tome gehen dabei über Erschöpfung weit hinaus, Betroffene gelten als hochgradig körperlich behindert: Kleinste Alltagsaktivitäten, selbst Zähneputzen, können zu tagelanger Bettruhe zwingen. Laut einer Studie der Aalborg Universität aus dem Jahr 2015 kann ein Viertel aller Betroffenen das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen. Geschätzt über 60 Prozent sind arbeitsunfähig.

Folgen sind erst langfristig absehbar

„It’s complicated“ – es ist kompliziert, heißt es auf der Homepage der „Patientenorganisation Long Covid Schweiz“ zur Diagnose. Nicht nur diese ist aufgrund der Bandbreite an Symptomen schwierig, sondern auch Vorhersagen: Wie lange Symptome anhalten, ob sie je verschwinden, kann nicht gesagt werden – schließlich konnten Patientinnen und Patienten nicht länger beobachtet werden als seit Ausbruch der Pandemie. Daher ist auch noch nicht klar, ob und in welchem Ausmaß die Impfung, die sich als äußerst effizient im Schutz vor schweren Verläufen erwiesen hat, auch vor Long Covid schützt. Erste Studien zeigen aber, dass doppelt Geimpfte 28 Tage nach einer Infektion deutlich seltener über Symptome klagen als Ungeimpfte („The Lancet“, September 2021, Michaela Antonelli et al.)

Die Pandemie scheint sozialdarwinistischen Ideologien Aufschwung verliehen zu haben – nicht wenige scheinen den Tod kranker und vulnerabler Mitmenschen billigend in Kauf zu nehmen. Während aber die Gefahr eines schweren Verlaufes oder Todesfalls weitgehend ältere, vorerkrankte und vor allem ungeimpfte Menschen betrifft, ist vor Long Covid niemand wirklich sicher. 

Durch die Durchseuchung wird es nach Corona weitaus mehr chronisch Kranke und Behinderte geben als vorher, auch unter jungen, vorher gesunden Menschen. Da das Coronavirus auch noch einmal deutlich gemacht hat, dass „die Wirtschaft“ oft mehr zählt als Gesundheit und Leben, sei darauf verwiesen, dass die stark steigende Anzahl arbeitsunfähiger, teils pflegebedürftiger Menschen auch volkswirtschaftliche Folgen haben wird.

Weniger Tote durch mildere Verläufe?

Zu Beginn der Pandemie machte sich etwas Erleichterung breit, als bekannt wurde, dass nur etwa ein Prozent der Infizierten an Covid-19 sterben. Dann hat uns das Virus vorgeführt, was das bedeutet: Bei dementsprechend vielen Infizierten können sehr viele Menschen sterben. Omikron verursacht weniger schwere Verläufe, aber viel mehr Ansteckungen. Im schlimmsten Fall könnte dies zu mehr Toten führen als in vorherigen Wellen – vor allem bei niedriger Impfquote.

Hinzu kommt: Auch wenn weniger Menschen stationäre Behandlung benötigen, ist es wahrscheinlich, dass durch die rasante Ausbreitung viele Menschen zur gleichen Zeit medizinische Hilfe benötigen. Was das bedeutet, haben wir in der vierten Welle gesehen, als eine Ärztin des Matei-Bal{-Spitals in Bukarest die Situation gegenüber Digi24 als „apokalyptisch“ beschrieben hat. In den USA, wo Omikron sich früher ausgebreitet hatte, mussten während dieser Welle mehr Menschen stationär behandelt werden als bei allen vorherigen Wellen. Dort sind 63,6 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft, in Rumänien 41,15 Prozent.