Mit dem Wanderstab Geschichten sammeln

Aus der reichhaltigen Gedankenwelt des Lehrers, Schriftstellers und Ethnografen Alexander Tietz

Für dieses Jahr hat sich Erwin Josef Țigla (links, mit Projektkoordinatorin Aurora Fabritius) vorgenommen, weitere Bücher von Alexander Tietz neu herauszugeben und ins Rumänische zu übersetzen.

Țigla (3. v. li) verteilte Alexander-Tietz-Medaillen an alle, die im Laufe der Jahre mitgeholfen haben, den Banater Schriftsteller bekannt zu machen. Von links nach rechts: der Vorsitzende des Altreichforums Dr. Klaus Fabritius, Schillerhaus-Direktorin Mariana Duliu, Unterstaatssekretärin Christiane Cosmatu, Aurora Fabritius, Dr. Carol König und Kunstprofessor Johann Stendl aus Reschitza, der Tietz noch persönlich kannte.
Fotos: George Dumitriu

Von der Wohnung geht er ins Büro und zurück, vielleicht auch mal ins Kino. Er verkehrt in einer kleinen Gruppe der eigenen sozialen Schicht. Eine enge Welt, ein Gefängnis – doch selbstgewählt. Die Natur kommt darin nicht vor. Der Mensch hat sie ausgesperrt, die Verbindung zum Kosmos gekappt! Sterne, Jahreszeiten oder die Dunkelheit der Nacht bedeuten ihm nichts mehr. So charakterisiert Alexander Tietz den „kollektiven Menschen“. Man möchte ihm seufzend beipflichten: Das ist eben die moderne Welt. Nur, dass Tietz kein Zeitgenosse ist: Was er beschreibt, ist die Welt von 1939.

Reschitza, ein Samstag irgendwann zwischen 1920 und 1959: Der Lehrer, die Woche über Respektsperson, verwandelt sich auf wundersame Weise. Tauscht Kreide, Schwamm und Zeigestock gegen derbe Schuhe, Rucksack, Wanderstab. Mit seinen Schülern streift er durch die Wälder des Banater Berglands. Sie machen Rast am grünen Ochiul-Bei-See, schlafen in duftenden Heuschobern, denn Hotels oder Pensionen gibt es noch lange nicht. Am Abend versammeln sie sich ums Feuer und lauschen den Geschichten, die die Dorfbewohner zum Besten geben. Lebensberichte, uralte Märchen, Volkslieder und Legenden, vieles wird aufgeschrieben. Das Wandern war damals noch nicht in Mode, niemand wäre auf die Idee gekommen, ohne Grund den Ort zu verlassen. Um mit einer Schulklasse den Wald zu durchqueren, brauchte man die Erlaubnis der Forstbehörde. Auch dies war die Welt von Alexander Tietz.

Der Lehrer aus Leidenschaft bemühte sich intensiv um die Bindung zu seinen Schülern. Neben den Wochenend-Ausflügen veranstaltete er musikalische Abende oder Singwochen in der Natur im nahen Franzdorf/Văliug. Auch sein Unterricht war ungewöhnlich. Die Tafel kritzelte er von oben bis unten mit bunter Kreide voll, zeichnete, was er erklären wollte – jede Stunde entstand ein Kunstwerk, viel zu schade, es einfach zu löschen. Seine Art zu lehren weckte Interesse: an der deutschen Sprache, die er unterrichtete. Am Wandern und der Natur. Auf seine Schüler übte er prägenden Einfluss aus. Er führte sie in den Naturschutz ein – ein Begriff, der erst viel später geprägt wurde – und „erfand“ den Kulturtourismus.

Lebendiges Vorbild

„Es gibt Menschen, die man nicht vergessen darf“, motiviert Erwin Josef Țigla, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen (DFBB), sein Bemühen, die Erinnerung an den Vorzeige-Pädagogen lebendig zu erhalten. Auf der Konferenzdebatte „Alexander Tietz und seine Welt: das Banater Bergland“, die anlässlich des 120. Geburtstages und 40. Todestages des Lehrers, Schriftstellers und Volkskundlers am 5. Juni im Bukarester Schillerhaus stattfand, stellt er Tietz als „Prototypen des Banater Berglanddeutschen“ vor. Das Bild ergänzte der Film von Alexandru Calcan „Alexander Tietz und sein Banater Bergland“. Der Pädagoge war vor allem ein Vorbild für die Jugend, die er entscheidend formte. Seine Liebe zu den Schülern war so groß, dass er, nachdem er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr Deutsch unterrichten durfte, innerhalb einer Woche sein Russisch aufpolierte, um den Lehrberuf in dieser Sprache fortzusetzen, erzählt der Vortragende.

In Reschitza sind die deutsche Bibliothek „Alexander Tietz“ und das zweisprachige Nationalkolleg „Diaconovici-Tietz” nach dem berühmten Banater benannt. Es gibt Gedenkmünzen zu Tietz und eine Büste des Bildhauers Horia Flămându. Jährlich wird zudem der „Alexander-Tietz-Preis“ des Demokratischen Forums der Deutschen in Karasch-Severin und des Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vortragsreihe Reschitza“ für besondere Verdienste zur Bewahrung und Förderung der deutschen Sprache und Kultur im Banater Bergland vergeben. „Eine der wichtigsten deutschen Auszeichnungen“, betont Țigla. „Leider habe ich ihn selbst nicht kennengelernt, er war eine andere Generation“, bedauert er. „Doch ging man vor 20, 30 Jahren durch Reschitza, hörte man an jeder dritten, vierten Ecke, wo Menschen zusammenstanden, den Namen Alexander Tietz.“

Komplexe Gedanken und Anekdoten

Neben seinen Aufzeichnungen über lokale Folklore – über tausend Lieder, Märchen, Geschichten und Balladen von Rumänen und den lokalen Minderheiten aus zehn Dörfern, sowie über die Gesellschaft der Zwischenkriegszeit und ihre Beziehung zur Industrie – hat er der Nachwelt auch ein eigenes, komplexes Gedankengut hinterlassen. Sein literarisches Debüt gab Tietz 1939 mit einer Serie von 13 Artikeln, „Scrisori de la sălaț“ (Briefe von der Alm), die zuerst auf Rumänisch in der Zeitschrift „Reșița“ erschienen. 1990 übersetzte sie der Schriftsteller Hans Liebhardt, damals Kulturredakteur beim „Neuen Weg“ (Vorgänger der ADZ), erstmals ins Deutsche und publizierte sie in der Zeitung.

Țigla präsentiert Gedankensplitter daraus, liest aus dem 12. „Brief von der Alm“: Es gibt deutsche Wörter, die man nicht übersetzen kann, sinniert darin der Autor. Versucht man es dennoch, kann man sie nur mit sehr langen Sätzen umschreiben. Drei Beispiele hat er ausgewählt: Heimat, Stimmung und Gemüt. Es gibt sie in keiner anderen Sprache, meint Tietz. Hier seine tiefsinnigen Definitionsversuche:

Heimat: Heimat ist nicht das Vaterland, nicht das Land der Staatsbürgerschaft, hebt er an. Auch nicht der Ort, an dem man geboren ist. Vielleicht sind die Eltern dort nur kurz vorbeigekommen? Heimat ist die Landschaft, in der du lebst – und die in dir lebt. Die innige Bindung an diese Landschaft ist das zu erreichende Ideal. Das Wort „Heimat“ ist eine Musik, in der Sehnsucht steckt. Es gibt Menschen, die an Heimweh sterben! Diese Sehnsucht erklärt auch das Bedürfnis des Menschen nach Religion: Solange er auf Erden lebt, fühlt er sich fremd, er sehnt sich nach der wahren Heimat.

Stimmung: Betrachtet man die Welt durch buntes Glas, sieht man sie jeweils in anderem Licht. Eine rote Welt vermittelt andere Gefühle als eine blaue. Es ist nicht nur ein optisches, sondern auch ein magisches Spiel, betont Tietz: Wenn das Licht sich ändert, ändert sich die Welt! Unsere Realität ist daher immer subjektiv, durchdrungen von einer bestimmten Färbung.
Gemüt: Gemüt hat mit Seele und Gefühlen zu tun. Gefühle zeigen sich in zwei Dimensionen: flammende Intensität und stille Tiefe. Das Gemüt ist keine Flamme, sondern eine sentimentale Haltung, geprägt von Ruhe und Intimität. Es ist ein Spiegel, der nicht den reflektiert, der hineinsieht, sondern dessen Welt. Jedes Ding in dieser Welt hat seine eigene Melodie. Mit dem Gemüt erspürt man die verborgene Melodie aller Dinge.

Aber auch Lustiges findet Eingang in seine Werke. Țigla gibt zwei Anekdoten zum Besten: Bergarbeiterstreik 1905; die Frauen und Kinder der Bergarbeiter demonstrieren vor der Bergwerksverwaltung. Es verläuft nicht gerade zu ihrer Zufriedenheit. Als der Leiter nicht einlenkt, macht eine kräftige Frau kurzen Prozess mit ihm. Sie packt ihn, hebt ihn hoch – und setzt ihn unter dem Gejohle der Zuschauer in einen großen Erntekorb voller Kirschen! Auch aus der Zeit der großen Hungersnot 1863, über die ihm die Alten berichteten, gibt es eine charmante Geschichte: „Die Kuh hat nichts mehr zu fressen“, klagt ein Mann seiner Frau, die daraufhin rät: „Binde sie doch am Weg an einen Baum und häng ihr den Viehpass um den Hals – vielleicht stiehlt sie einer?“ Der Bauer führt den Vorschlag aus. Doch nach einer Weile drückt ihn das Gewissen. Er geht und sieht nach seiner Kuh. Die steht immer noch dort – und neben ihr sechs weitere Rinder, angepflockt, alle mit dem Viehpass um den Hals...

Pionier des modernen Europa

Alexander Tietz liebte das Leben, die Menschen – und besonders seine Muttersprache. Bereits sein Vater Josef Tietz war Lehrer in Temeswar gewesen, vermutlich ein Vorbild. Als dieser Schuldirektor wurde, zog die Familie nach Reschitza. Die Mutter, Therese Tietz, Rumänin, geborene Diaconovici, stammt ebenfalls aus gebildetem Umfeld. Ihr Bruder Corneliu Diaconovici war der Herausgeber der ersten rumänischen Enzyklopädie. Der junge Alexander studierte Germanistik in Klausenburg/Cluj-Napoca und Budapest, die Welt stand ihm offen. Er jedoch entschied, den Kampf für die Bildung der Kinder im Banater Bergland fortzusetzen. Diese Verwurzelung mit der Heimat zeigt sich auch in seinen Schriften: In „Briefe von der Alm“ bekennt er mit großer Sensibilität, wie schön es doch sei, den Geschichten eines alten Schäfers zu lauschen. Dennoch bewahrt er sich eine gewisse Vielseitigkeit: Neben bäuerlicher Folklore legte Tietz die Basis für eine „Arbeiterfolklore“ der beginnenden Industrialisierung, sammelte zudem Dokumente zur Sozialdemokratie, die in der Zwischenkriegszeit ihr Zentrum in Reschitza hatte, und zeigte die Symbiose der Ethnien im Banater Bergland auf, wo Rumänen, Deutsche, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Serben und Italiener lebten. Mit den Ausflügen mit seinen Schülern in die Dörfer der Minderheiten gelingt es ihm, sie für Toleranz und gegenseitiges Verständnis zu sensibilisieren. So kann man ihn wohl auch als Pionier eines modernen, multikulturellen Europas betrachten.

Es gibt Menschen, die man nicht vergessen darf. Doch nicht nur um ihrer selbst willen. Sondern weil sie daran erinnern, dass auch ein Einzelner in seinem Umfeld nachhaltige Veränderungen bewirken kann.