Nicht Stadt, nicht Dorf, aber dafür geschichtsträchtig

Gäbe Rumänien mehr auf Kulturerbe, stünde Elisabethstadt anders da

Sobald ein Traktor über den Hauptplatz von Elisabethstadt rattert, kann man sein eigenes Wort kaum noch verstehen.

Im Apafi-Schloss zu Elisabethstadt wartet ein Stück rumänisches Kulturerbe darauf, aus seinem Dornröschenschlaf hochgeschreckt zu werden. Fotos: der Verfasser

Die hochbetagte Frau im geblümten Sommerkleid, die sich mit Handtasche, breitkrempigem Strohhut und langer Perlenkette um den Hals über den Hauptplatz von Elisabethstadt/Dumbrăveni müht und der brütenden Mittagshitze in bedächtigem Schritttempo zu enteilen versucht, ist nicht die einzige einheimische Dame ihres Schlages. Obwohl die Jahr um Jahr schneller dahinrauschende Zeit auch im selbstgenügsamen Ort auf halber Strecke zwischen Schäßburg/Sighișoara und Mediasch/Mediaș voranschreitet, wagt sie es dennoch nicht, keine Rücksicht auf Aneurysmen und Herzrhythmusstörungen Alteingesessener zu nehmen. „Anders rauschen die Brunnen, anders rinnt hier die Zeit“, befand Adolf Meschendörfer 1927 in der „Siebenbürgischen Elegie“, die für Elisabethstadt noch heute das Maß aller Dinge zu sein scheint.

Man gönnt es den vom greisen Alter gezeichneten Einheimischen liebend gerne auf der Stelle, dieses gemächliche Flanieren ohne ruhelose Hetze und Mobiltelefon. Hier hat die andernorts bereits verstummte Saite der großbürgerlichen Welt von Autoren wie Stefan Zweig, Miklós Bánffy und Constantin Noica ihren letzten Ton nicht unwiderruflich ausgehaucht. „Am Ende der Welt möchte ich in Wien sein, weil dort alles 25 Jahre später eintrifft“, soll Komponist und  Intendant Gustav Mahler (1860-1911) gesagt haben, als er für einige Jahre schmollend nach New York an die Metropolitan Opera ging, da ihm bald nach der  Jahrhundertwende Österreichs Hauptstadt nicht mehr so richtig gefallen wollte. Trotzdem schaffte er es gerade noch rechtzeitig, an seinem Wunschort auf dem alten Kontinent aus dem Leben zu scheiden.

Etliche Musikfreunde wollen gewusst haben, dass Gustav Mahlers wienerischer Instinkt auf 50 statt 25 Jahre Anpassungsverspätung hoffte. Die genaue Zahl ist jedoch gar nicht mehr so wichtig. Je weiter die Zeit sich fortentwickelt, desto größer und letztlich nicht länger fassbar wird die Distanz zu einer verklingenden Welt, deren letzte Zeitzeugen das Erinnerungsbewusstsein kommender Generationen nur noch äußerst gering zu prägen vermögen. Sogar Wien hat keine Chance, unverändert auf die Zukunft zuzusteuern. Komisch, aber wahr: Elisabethstadt, 865 Kilometer weiter östlich gelegen, darf sich wider Erwarten noch einiger zusätzlicher Eisen im Feuer rühmen.
Kostenlos einfache Gemütlichkeit

Auch den drei Herren im fortgeschrittenen Rentenalter auf einer Bank im Kleinpark vor der armenisch-katholischen Kirche am Hauptplatz von Elisabethstadt ist es genehm, dass ihr Ort dem Weltstress nicht 25 oder 50, sondern ganze 75 bis 100 Jahre nacheilt. Sie erachten es nicht für nötig, vor dem stupide steigenden Wohlstand der Wachstumsgesellschaft die Hüte zu ziehen, knöpfen stattdessen ihre kurzärmligen Hemden auf, was den Blick auf wohlgenährte Bäuche freigibt, und gehorchen allein der Sonne. Erst wenn diese den Schatten vertreibt, gucken sich die Männer ein neues Gesprächsquartier aus. Bis das getan werden muss, vergehen Stunden. Eine Blumenverkäuferin nebenan bietet weiße Tuberosen (Agave polianthes) feil, die schon zu Zeiten des österreichisch-ungarischen Imperiums im Nachbarort Halwelagen/Hoghilag kultiviert wurden.

Elisabethstadts aktenkundige Präsenz geht bis auf das Jahr 1332 zurück. Die Volkszählung von 2002 informierte über eine Stadtbevölkerung von 8400 Personen. Neun Jahre später war die Zahl um mehr als tausend Menschen gesunken. Demnach steuert Elisabethstadt, das 1977 unter Diktator Ceau{escu fast die Zehntausend erreicht hatte, mittelfristig auf seine Halbierung zu. Am rostfreien Türschild des nicht mehr bewohnten römisch-katholischen Pfarrhauses kann man ablesen, dass knapp zwei Prozent der Stadtbevölkerung, die laut Statistik ihren Glauben im Ritus der größten christlichen Weltkirche artikulieren, vor nicht allzu langer Zeit bei täglichem Bedarf einen vor Ort wohnenden Priester um Rat und Beistand bitten konnten. Und das in den drei Sprachen Rumänisch, Deutsch und Ungarisch. Um die Ecke steht noch die Kirche der römisch-katholischen Stadtgemeinde. Aber auch hier kommt der schärfer schneidende Zahn der Globalisierung der wackligen Krone großer Vergangenheit zu-vor. Vergessene Orte haben es schwerer denn je, auf ihre Bedeutsamkeit aufmerksam zu machen.

Eigentlich könnte die Erhabenheit der armenisch-katholischen Kirche von Elisabethstadt diesen Punkt auf der siebenbürgischen Landkarte zu einem touristischen Anziehungsort ohneglei-chen  erweitern, ihn aus der Unscheinbarkeit befreien. Für das neu gedeckte Dach der berühmten Pilgerstätte am Hauptplatz konnten immerhin Geldmittel aufgetrieben werden. Doch die Risse im halbrunden Deckengewölbe des stattlichen Gotteshauses, die beim Betreten des Innenraumes auch ohne genaues Hinschauen sofort auffallen, und die mürrisch-geizige Wortkargheit des Hausherrn, die im Nu in das Gegenteil von zeitgebender Gastfreundlichkeit mutieren kann – beides zusammen hält Scharen von Besuchern fern. Wer die dringend renovierungsbedürftige Kirche nicht besucht, weil eher abweisend statt einladend, erfährt folglich auch nichts Näheres über ihren gefährdeten Zustand. Zwar steht das Kirchportal offen und erlaubt ein paar Schritte hinein, jedoch darf nur richtig ins Schiff, wer dem knorrigen Hausherrn zufällig über den Weg läuft. Der wiederum ist erst glücklich, wenn er nach knappst bemessenen Minuten in seinen Wagen springen und abdüsen kann.

Einander nicht stören ist schon viel

Ansonsten geht es in Elisabethstadt ungleich ruhiger und mit einer satten Portion Entspannung zu. Zu entspannt, möchte man meinen. Den hier lebenden Städterinnen und Städtern aller Altersklassen ist das offenbar gerade recht.  Fast jeder dritte Mensch ist auf dem Fahrrad unterwegs, und auch ein Fahrschulauto, das langsam über uraltes Kopfsteinpflaster rollt, ist mit von der Partie. Eine Angestellte des Rathauses tritt neugierig eintretenden Gästen entgegen und weiß klar Bescheid: „Ja, wir haben hier eine ruhige Stadt, in der alle gut miteinander auskommen!“ Unwillkürlich fragt man sich: Möchte das Elisabethopolis des 18. Jahrhunderts heute Stadt oder Dorf sein?
Im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt, den hier noch knapp 70 Menschen sprechen, heißt Elisabethstadt „Eppeschdorf“. Um sie kümmert sich Ulf Ziegler, Pfarrer der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) in Birthälm/Biertan und elf umliegenden Gemeinden.

Gute Optionen gibt es  hingegen in Sachen Bildung. Elisabethstadts schulische Infrastruktur ist gar nicht mal so schlecht aufgestellt. Bereits 1847 wurde das Lyzeum ungarischer Sprache gegründet, das 1919 zum Theoretischen Timotei-Cipariu-Lyzeum erklärt wurde – das mehrstöckige Schulgebäude in unmittelbarer Nachbarschaft der armenisch-katholischen Kirche ist von einer Größe, die auch in Mediasch oder Schäßburg alle Blicke auf sich ziehen könnte. Ebenso nicht vergessen werden darf das Schulzentrum für Inklusive Bildung (Centrul Școlar de Educație Incluzivă Dumbrăveni, www.csei.ro), dessen Kinder und Erwachsene heute in einem zu Ende des 19. Jahrhunderts gebauten Gerichtsgebäude ein- und ausgehen.

Leider ist das herrschaftlich weiträumige, aber auch stark baufällige Apafi-Schloss nicht für den Besucherverkehr freigegeben. Mauern und Hof des über 500 Jahre alten Anwesens lassen sich allenfalls von außen durch Rundgang entlang der meterhohen Fassaden des vierseitigen Schlossgürtels erspähen. Um Schlüssel und Begleitung muss im Rathaus angefragt werden. Interessierten ist anzuraten, auf neutrales Äußeres zu achten, da sonst die Ausrede fällt, der Schlüssel sei nicht vorhanden, sondern nur bei einem Pächter aufzutreiben. Also weg mit Kameratasche und Accessoires, auf denen Slogans der NGO „Declic“ oder anderer bürgerrechtlicher Vereine stehen! Fünf Parteien sind im vierzehn Sitze vereinenden Stadtrat vertreten, den PSD und PNL zahlenmäßig beherrschen. Wäre Rumäniens Presse wirklich von schlechten Eltern, wie oft und gerne kritisiert, würden die Herren vom Elisabethstädter Rathaus auch nicht Lunte riechen und keinen Bammel vor journalistischem Besuch haben.

Gerade mal gut genug zum Feiern und Zechen...

Für den Mittagstisch empfiehlt sich die leckere Küche der „Bistroteca Baum“, deren schattiger Sommergarten in herb-süßem Kontrast zum schlaftrunkenen Städtchen steht. Die Bedienung legt jedem Gast ein A3-Plakat vor, auf dem in rumänischer und englischer Sprache ein halbes Jahrtausend der spannenden Chronik von Elisabethstadt nacherzählt wird. Das kulinarische Angebot erfüllt alle erdenklichen Wünsche und reicht von 12 Lei bis ins Dreistellige. Aber jetzt mal im Ernst: Warum nur müssen Zebra-Steak, Filet vom Känguru und Krokodil in Elisabethstadt auf die Speisekarte?

Ein Blick auf die papierene Tischdecke führt zur Antwort – die Gaststätte läuft unter dem Namen der 1993 gegründeten GmbH für Glücksspielautomaten S.C. BAUM S.R.L, die vor Ort eine Fabrik betreibt. Bei genauerem Hinsehen auf der Fotogalerie der Homepage www.bistrotecabaum.ro stellt sich heraus, dass das Lokal beliebter Nachttreff der Gesellschaft neureicher Partylöwen ist. Da bleibt einem doch glatt die Spucke weg. Elisabethstadt hat auf der Tudor-Vladimirescu-Straße ein verlockendes Glücksrad stehen, kommt aber nicht dazu, selber daran zu drehen. Zum Henker mit solch übertrieben schnödem Mammon, der die Seele kleinstädtischen Reichtums missachtet!