Randbemerkungen: Der Krieg und der Psychiater

Der in Bukarest geborene, seit 1977 in der Schweiz lebende, heute 88-jährige Psychiater und Schriftsteller Ion Vianu hat jüngst in einem Zeitungsgespräch einige fachlich wohlfundierte Tatsachen zum Ukrainekrieg Russlands und über die russischen Eliten der Gegenwart, allen voran Putin, aber auch über die Russen als Volk herausgestrichen. U. a. heißt es da: „Der russische Imperialismus entdeckt die reaktionären Theorien der russischen Rassenüberlegenheit wieder. (…) einmal sind wir vom bolschewistischen Russland geschluckt worden. Jetzt schlägt man uns die Dominanz eines Russland vor, das von Gott getragen wird. (...) Betreffs der Massen Russlands, aus denen sich ihre barbarischen (Soldaten und) Heerführer rekrutieren – sie kommen aus einem Volk, das immer über alle Maßen unterdrückt war, zuerst vom alten zaristischen Regime, danach von den Bolschewiken. Die Brutalität, in deren Mitte du geboren wirst, prägt dich für den Rest deines Lebens als brutal.“

Diese Brutalität sei auch von der Unaufrichtigkeit der Motivation genährt, mit welcher die Muschiks in diesen (Bruder)Krieg geschickt wurden, der immer noch in Moskau als „Sonderoperation“ gilt: Sie seien ausgeschickt, um einige „Neonazi-Zellen“ zu liquidieren. Vor Ort dann: „Als sie sahen, dass eine ganze Bevölkerung ihnen feindlich gegenüberstand, haben sie die natürliche Schlussfolgerung gezogen, die alle seien Neonazis, dass es folglich ihre Aufgabe sei, sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu liquidieren. Hierzu passt sogar die Auszeichnung der motorisierten Brigade durch Putin. Für ihre ‚Waffentaten‘ und ihr ‚Heldentum‘.“ Andrerseits fehle dem Heer der Invasoren die Moral, dieses Heer kann nicht wirklich verstehen, wofür es kämpfen soll... Für welches und wessen Vaterland sie sterben sollen, denn immer noch gelte Horatius: „Dulce et decorum est pro patria mori...“

Die offizielle russische Militärdoktrin, die im Krieg gegen die Ukraine zur Anwendung kommt, sehe explizit die brutalsten und unmenschlichsten Maßnahmen vor: Annihilierung der Zivilbevölkerung, Vergewaltigung, Zerstörung von Wohnbauten, Wegrasieren von ganzen Ortschaften mittels Bomben, Raub – wobei die Rohheit der russischen Militärs kaum spezifisch für die Jetztzeit sei – immer schon sei die Modernität dann besonders brutal, aggressiv und unmenschlich, wenn die Moral von Fanatismus und von Ressentiments bestimmt ist.

Putin sei von der Macht korrumpiert, nach dem Prinzip, absolute Macht korrumpiere absolut. Der russische Autokrator folge einigen „Denkern seines Hauses“ (laut Michel Eltchaninoff sind das, u. a., Iwan Iljin, Nikolai Berdjajew, Wladimir Solowjow, lasse sich aber, nach Vianu, auch von den späten Dostojewskij und Solschenizyn inspirieren) und träume, erst Europa, dann die ganze Welt zu russifizieren – womit er meine, alle zur russischen Orthodoxie zu bekehren und mittels Mir Russkij umzuzivilisieren.

Russland habe ein Janusgesicht – einerseits europäische und Weltavantgarde der Kultur, andrerseits grenzenlose Barbarei. Höhlenmenschenmentalität. Das erklärt Ion Vianu so: „Niemand wird leugnen können, dass die russische Kultur wichtig ist. (…) in der Literatur, in der Kunst, in den Human- und Naturwissenschaften haben die Russen beeindruckende Beiträge. (…) Aber es gibt auch die Gegentendenz. Vorherrschend. Ihr gehören auch die späten Dostojewskij und Solschenizyn an. Russland habe die Rolle, die Welt zu retten. Es ist die Überzeugung vom russischen Messianismus. Von da der schwärzeste Despotismus, der Bigottismus, der nationalistische Fanatismus.“

Daraus zwingend die Erlöserrolle Russlands für die Welt. 1917 sei es soweit gewesen. 1945 auch. Und jetzt?

Vianu: „Der Test der Grenzen der Putin´schen Megalomanie ist, ob er, bevor er den Krieg verliert, Atomwaffen einsetzt. Oder nicht.“