Schwindende ethnische Kulturen Südosteuropas im Fokus

Thede Kahl und weitere Autoren betrachten Phänomene des Identitätswandels

Silvia Irina Zimmermann hat Carmen Sylvas Märchen und Geschichten für Kinder und Jugendliche 2013 neu herausgegeben.

Thede Kahl/Peter Mario Kreuter/Christina Vogel (Hg.), „Vergessen, verdrängt, verschwunden“. Aufgegebene Kulturen, Beziehungen und Orientierungen in der Balkanromania, Berlin: Frank & Timme Verlag 2018, 364 S., ISBN 978-3-7329-0255-2 (= Forum: Rumänien 35)

Die multiethnischen Gesellschaften und Kulturen des Balkans und Südosteuropas befinden sich in stetem Wandel. Gerade nach der Wende von 1989 haben sich hier nach der konservierenden Epoche des Kommunismus viele ethnische Prägungen, Identitäten und Orientierungen verändert. Viele der schwindenden Kulturen der Balkanromania sind seit Langem in Vergessenheit geraten, andere durchlaufen gerade einen grundlegenden Wandel oder werden verdrängt, wieder andere aber erfreuen sich reger Pflege oder sogar Wiederbelebung. Ein neues Buch von Thede Kahl, Peter Mario Kreuter und Christina Vogel beleuchtet nun solche Phänomene kulturellen Identitätswandels und auch entsprechender Beziehungen aus kultur-, literatur-, geschichts- und sprachwissenschaftlicher Perspektive.

Mit einer Definition ethnisch-kultureller Identität leitet Rudolf Windisch ein. Er macht deutlich, dass diese nie individuell, sondern immer kollektiv geprägt sei, denn „jedes Individuum ist durch seine Einbindung in eine bestimmte Gruppe/Gemeinschaft einer staatlich-administrativen organisierten Ordnung geprägt, an deren Kultur, Geschichte, intellektuell-geistigen Werten oder sozialen Verhaltensnormen es teilnimmt“ (S. 17). Identitäten würden dann auch sprachlich kollektiv zugeschrieben (z. B. „typisch deutsch“ oder „streng katholisch“). 

Gleichzeitig seien diese Identitäten niemals eine statische und permanente Qualität einer Person, sondern ein „dynamisches Phänomen“. Es gehe dabei immer auch um Selbstbestätigung, Selbstverwirklichung und das Streben nach einem „Selbst-Image“ (S. 19). Windisch dekliniert seine Thesen zum Zusammenhang von Sprache, kultureller und ethnischer Identität schließlich unter anderem am Beispiel der Repu-blik Moldau durch.
Nach diesen einleitenden grundsätzlichen Erwägungen geht Herausgeber Thede Kahl auf den Sprachverlust in der Balkanromania ein und stellt entsprechende Forschungsprojekte vor. Experten der UNESCO gehen davon aus, dass über die Hälfte der fast 7000 heute noch weltweit gesprochenen Sprachen und Dialekte in den nächsten hundert Jahren nicht mehr verwendet werden. Kahl konstatiert: „Minderheiten können unter dem massiven Einfluss der Staats- und Verwaltungssprachen an Differenziertheit, Aussagekraft und Wortschatz verlieren.“ (S. 36) Der Slawist aus Jena beschreibt die Stufen des Sprachsterbens. Dieser Fokus auf den Sprachschwund ist für die Gesamtthematik durchaus relevant, hat doch laut Kahl unter den vier heute lebendigen Varianten des „Balkanromanischen“ bzw. „Südostromanischen“ – Dakorumänisch, Aromunisch, Meglen-Vlachisch und Istro-Vlachisch – lediglich das Rumänische eine Nationalsprache ausbilden können. 

Edda Binder-Iijima fragt nach dem Konzept einer „Balkanunion“ unter Rückgriff auf Ideen des griechischen Aufklärers Rhigas Velestinlis zur politischen und gesellschaftlichen Neuordnung des Balkanraumes, die dieser schon 1797 fast prophetisch in seiner Schrift „Neue politische Staatsverwaltung“ vorlegte. Sie hält fest: „Für Rhighas Velestinlis stand die Einheit des Balkanraums außer Frage; die ethnische und religiöse Vielfalt bildete einen ihm vertrauten Bestandteil des Raums. Nicht in der Diversität bestand das Problem, sondern dies sah er in dem von Willkürherrschaft, Ungleichheit, Gewalt und Gesetzlosigkeit regierten Osmanischen Reich“ (S. 61). 
Entlang der historischen Entwicklung bis ins 20. Jahrhundert zeigt die Autorin auf, welche Gestalt diese Idee annahm und auch deren Scheitern nach dem Ende der Großreiche: „Von den auf den Trümmern der multiethnischen Reiche der Habsburger, der Romanovs und Hohenzollern neu entstandenen Staaten konnte man wohl nicht verlangen, nach der gerade errungenen Selbständigkeit gleich wieder Souveränitätsrechte an einen föderalen Bund abzutreten.“ (S. 67) 
Der Band eröffnet dem Leser viele Einblicke und macht mit bisher selten erörterten Personen und Themen vertraut. So stellt etwa Horst Fassel in seinem Beitrag den heute weithin vergessenen König-Carol-Verlag aus Bukarest vor, der zwischen 1917 und 1918 aktiv war. Er listet auch die Publikationen dieses kurzlebigen Verlags auf. In einem weiteren Beitrag beschäftigt er sich mit dem rumänischen Autor Vasile Alecsandri (1821-1890) und zeigt, wie sehr zeitgeprägt dessen Werk zwischen Vormärz und der Phase der Staatswerdung war.

Jürgen Kristophson thematisiert die kulturellen Beziehungen zwischen Dalmatinern und Rumänen, Ilina Gregori Leben und Werk von Matila C. Ghyka, ebenfalls ein vergessener Literat, Anita Andrea Széll den Autor und protestantischen Prediger Gáspár Heltai und seine sehr religiös geprägten Hundert Fabeln (Száz fabula) als „eine wesentliche Leistung der Erzählkunst Heltais“ (S. 232). Renate Windisch-Middendorf porträtiert den Dichter Manfred Winkler, der aus der Bukowina stammt und zum zweisprachigen Dichter in Israel wurde, wo er 2014 fast 92-jährig verstarb.

Die sprachwissenschaftlichen Analysen widmen sich sehr speziellen Themen wie dem Schicksal des lateinischen Neutrums im romanischen Sprachgebrauch sowie der Turzismen und Gräzismen im modernen Rumänisch, aber auch des antikisierenden Griechisch im 19. und 20. Jahrhundert als „Ingredienz des Nationalismus“ (S. 345 ff).
Einer der interessantesten Beiträge widmet sich einer echten literarischen Kulturentgrenzung, wenn Silvia Irina Zimmermann die rumänischen Märchen der deutschen Königin Rumäniens, Elisabeth („Carmen Sylva“, 1843-1916) untersucht. König Carol I. selbst schätzte die schriftstellerische Tätigkeit seiner Gemahlin, zog diese doch internationale Aufmerksamkeit auf das neue Königreich Rumänien. Auslöser war dabei zunächst die Übersetzung rumänischer Dichtungen ins Deutsche als „therapeutische Maßnahme“ nach dem Tod des einzigen Kindes, Prinzessin Maria (S. 255).

Mit ihren „Pelesch-Märchen“ vermittelte die Königin „das Exotische und Rätselhafte der rumänischen Karpatenlandschaft und der rumänischen Landbevölkerung im Ausland“ (S. 256). Zimmermann fragt nach rumänischen und volkstümlichen Aspekten in den Pelesch-Märchen. Für sie sind es „eigene literarische Produktionen“, die die Phantasie der Autorin mit Motiven der Volksliteratur verbinden. Zimmermann stellt außerdem Verbindungen her zum Bau des Schlosses Pelesch. König und Königin hätten so baulich und literarisch Pelesch zum „Symbol der neuen Dynastie“ machen wollen (S. 268).