Sollten wir den Deutschen trotz ihres Egoismus dankbar sein?

Bei den Bestellungen von Impfstoffen gegen Covid-19 wollten die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ihre Einigkeit demonstrieren. Die Europäische Kommission führt die alleinigen Verhandlungen mit den Herstellern und gibt die erworbenen Kontingente nach einem bevölkerungsbezogenen Schlüssel an die Mitgliedsstaaten weiter, welche als Endkäufer die Vakzine direkt beim Hersteller erwerben. Auch die Impfpolitik würden die Länder entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip eigenständig bestimmen. Diese Strategie hatte die Kommission am 17. Juni 2020 vorgestellt.

Öffentliche Kritik gab es von den Mitgliedsstaaten nicht. Der Kampf um Schutzmasken im Frühjahr hatte gezeigt, zu welchen Rivalitäten es kommen kann, wenn in einer Pandemie jeder Staat nur auf sich selbst schaut. Den ersten Vorkaufvertrag für einen Impfstoff unterzeichnete EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides schließlich am 27. August 2020 mit AstraZeneca.

In der vergangenen Woche wurde nun allerdings bekannt, dass die Bundesrepublik Deutschland sich schon früh der europäischen Solidarität entzogen hatte. Bereits im Sommer schloss das deutsche Gesundheitsministerium bilaterale Vorverträge mit BioNTech/Pfizer und CureVac ab. Die Kommission folgte erst im November. Bekannt wurden die Käufe zwar schon im Dezember, doch da klang es vonseiten des deutschen Gesundheitsministeriums, als habe das Land diese erst kurz zuvor getätigt. Dem „Spiegel“ bestätigte das Ministerium nun allerdings, dass die Vorverträge schon am 8. September und 31. August unterzeichnet wurden.

Hatte Deutschland die Erfolgsaussichten des Präparats von BioNTech/Pfizer schon frühzeitig erkannt, konnte die anderen Mitgliedsstaaten aufgrund des vergleichsweise hohen Preises aber nicht vom Kauf überzeugen? Die Antwort auf diese Frage – also eine Erklärung des Handelns – steht bisher aus.

Insgesamt haben sich die Deutschen nach eigenen Angaben zusätzliche 30 Millionen Impfdosen bei BioNTech/Pfizer, 20 Millionen bei CureVac sowie 5 Millionen bei IDT Biologika gesichert – außerhalb der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung der EU. Dabei ist entsprechend der EU-Vereinbarung schon die Aufnahme von Verhandlungen mit Herstellern nicht gestattet. Keine zwei Stunden bevor das deutsche Gesundheitsministerium am 8. Januar den Alleingang in einer Pressekonferenz bestätigte, hatte EU-Kommissionspräsident Ursula von der Leyen noch erklärt, dass die EU-Vereinbarung rechtlich bindend sei und „es keine parallelen Verhandlungen, keine parallelen Verträge geben wird.“

Den Verhandlungsvorteil einer Staatengemeinschaft mit etwa 450 Millionen Einwohnern gegenüber Ländern mit wenigen Millionen Einwohnern hatte die belgische Finanzministerin Eva De Bleeker bereits im Dezember öffentlich gemacht. Dementsprechend zahlen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union für den Impfstoff von BioNTech/Pfizer lediglich 12 Euro pro Dose – nach Informationen von „Reuters“ 15,50 Euro, während Israel nach Informationen von „Reuters“ etwa 24 Euro bezahlt. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten im Juli einen Vertrag für 16 Euro pro Dose abgeschlossen. Und die Europäische Union hat es im aktuell herrschenden Verkäufermarkt sogar geschafft, sich dem US-Konzern Pfizer zu widersetzen, der auch bei selbstverschuldeten Mängeln keine Haftung übernehmen wollte. Vielleicht aus diesem Grund konnte der Vertrag zwischen BioNTech/Pfizer und der EU erst im November abgeschlossen werden.

Dass die Bundesrepublik die zusätzlichen Impfdosen erst nach der Auslieferung der Bestellungen der EU erhält, ändert schließlich nichts daran, dass das Land sich wiederholt unsolidarisch verhält und gemeinschaftliche Vereinbarungen unterläuft. Ferner hat der deutsche Alleingang dazu geführt, dass nun auch andere Staaten aus der gemeinsamen Impfbeschaffung ausscheren wollen. Am vergangenen Wochenende verkündete der zypriotische Präsident Nicos Anastasiades, dass er den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu darum gebeten habe, die Möglichkeit zu prüfen, Impfstoff für das Land bereitzustellen. Dabei sollte den EU-Staaten noch in Erinnerung sein, dass im Frühjahr unter anderem deutsche und französische Regionalpolitiker amerikanischen Händlern unterstellt hatten, für sie bestimmte Schutzmasken kurzfristig zu einem höheren Preis aufgekauft zu haben. Und die italienische Gesundheitsbehörde warf Polen und Tschechien sogar vor, chinesische Hilfslieferungen beschlagnahmt zu haben.

Ein deutscher Alleingang wäre auch gar nicht notwendig gewesen, denn die EU-Kommission hat Vorverträge mit sechs Herstellern abgeschlossen: BioNTech/Pfizer, Moderna, AstraZeneca, CureVac, Johnson & Johnson und Sanofi. Insgesamt sicherte sie sich auf diese Weise fast zwei Milliarden Impfdosen. Für die 450 Millionen Einwohner ist das selbst dann ausreichend, wenn nicht alle Präparate schlussendlich auch zugelassen werden. Vielmehr muss sich die EU der Kritik stellen, egoistisch zu handeln. „Reichere Nationen haben genug Impfstoff aufgekauft, um ihre gesamte Bevölkerung knapp dreimal bis Ende 2021 zu impfen, wenn alle Impfstoffe, die sich aktuell in klinischen Studien befinden, zugelassen werden“, heißt es in einer Erklärung von „The People’s Vaccine Alliance“, einer Koalition von globalen und nationalen Hilfsorganisationen.

Vielleicht ist das deutsche Vorgehen aber auch der Preis der kleinen Mitgliedsstaaten dafür, dass das Land massiv in die schnelle Entwicklung eines Impfstoffes investiert hat. Man stelle sich nur einmal vor, Rumänien wäre bei der Impfstoffbeschaffung auf sich alleine angewiesen: Ab Sommer 2017 waren für einige Monate keine Medikamente mit Immunglobulinen auf dem rumänischen Markt verfügbar. Das war eine Katastrophe für die etwa 1000 Patienten, die an einem primären Immundefizit leiden. Mehrere Menschen starben damals an einfachen Infektionskrankheiten.