Spieglein, Spieglein an der Wand …

„Nimm dies. Vielleicht könnte es dich interessieren.“ Gabriel Stan drückt mir sein Büchlein in die Hand. Ich kenne ihn dank seiner Gemälde und seiner Kunstgalerie „Kron-Art“ in der Kronstädter Spitalsgasse/Str. Postăvarului. Er ist nicht nur einer der bedeutenden zeitgenössischen Maler Rumäniens, sondern auch ein aktiver und erfolgreicher Kunstmanager. Kunst und Marktwirtschaft schließen sich in seinem Fall nicht aus. Und er ist ein wortgewaltiger Redner, was er bei verschiedenen Anlässen immer wieder beweist. Als Gabriel Stan mir seine „Selfiefrenia“ (Kron-Art-Verlag, Kronstadt, 2017) schenkte, machte mich deshalb nicht nur der sonderbare Titel neugierig. Das Buch las ich schnell. Es hat tatsächlich mein Interesse geweckt. Mehr noch: Es lohnt sich, zu diesem Thema zu schreiben und darüber nachzudenken.

Eine Sucht wie keine andere

„Selfiefrenia“ ist Stans Wortschöpfung. Er bezeichnet damit ein Massenphänomen: ein von dem exzessiven Nutzen des Smart-phones verursachtes, krankhaftes Verhalten mit Folgen sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. „Selfie“ kennt heute jeder. Fotos von sich selbst, mit oder ohne Freunde oder VIPs, mit oder ohne spektakulären Hintergrund, unter banalen oder außergewöhnlichen Umständen aufgenommen und ins Netz gestellt, in der Hoffnung, möglichst viele „Likes“ zu sammeln. Anerkennung ist erwünscht, wie auch das Bestreben, ein Zeichen, eine Spur im Internet, in der virtuellen Welt, zu hinterlassen. Es ist ein Bild des Ichs, wie es auch ein Spiegel zeigen würde. Fotos mit dem Handy kann jeder im Handumdrehen schießen; solches Fotografieren und ins Netz Posten lassen die herkömmlichen Fotogeräte, Fotoalben, selbst Fotolabors alt und rückständig erscheinen. Jeder wird zum Fotoreporter. So weit, so gut. 

Das Selfie ist der Ausgangspunkt in dieser anregenden Abhandlung für Gedankengänge und Zusammenhänge, die den Leser bald auf eine höhere Ebene führen. Es geht um Begriffe wie „Bild“, „Wahrheit und Illusion“, „Bewusstsein“, „Verfremdung“, „Freiheit“, „Manipulation“. Der Spiegel ist dafür mehr als ein allen bekanntes Werkzeug und wird zum zentralen Symbol. Denn der Spiegel kann alles wiedergeben; er kann aber auch manches verzerren. Ein banales Beispiel: das wiedergegebene Bild ist seitenverkehrt. Kann das so allmächtige Internet ein Spiegel der großen Welt sein? Für den Kronstädter Künstler ist es eher der Zugang zur weiten Welt. Genauer gesagt, die Illusion, die Welt via Handydisplay zu erreichen. Vernetzung heißt das Schlagwort, Verfremdung und Abkapslung von der engeren Umgebung, von sozialen Kontakten, dies sind die Kehrseiten der Medaille, selbst wenn sich immer mehr Leute dem Zeitgeist angleichen, einem Herdentrieb folgen. Da kann die berühmte Metapher von Platons Schattenbildern in der Höhle nicht fehlen. Die „parallele Welt“ ist da. Sie ist nicht mit den Händen greifbar, aber sie nistet sich im Kopf ein.

Idylle und Dystopie 

Gabriel Stan wäre nicht er selbst, würde er in seinem Essay nicht auch einen Kunstgriff ins Spiel bringen. Eine Science-Fiction-Erzählung mit viel Dialog und voller apokalyptischer Bilder wird in den Text (der auch eine vom Verfasser konzipierte passende Buchillustration vorweist) eingebaut und durch Trennung sowie teilweise kursive Schrift gekennzeichnet. Es geht um Mathias (ein Fotoreporter!) und seinen Freund Omilian, sowie um die engelhafte Runa, die auf der Suche nach dem Jenseits sind und die verschiedensten Gefahren überstehen müssen. Dabei haben sie es auch mit der Verkörperung des Bösen, Bosifel, zu tun. Für Stan ist dieses skurrile, horrorreiche Intermezzo vielleicht ein Gegenstück zu einer idealisierten Welt, wie sie sich viele im Fernsehen, im Internet oder einfach in ihren Träumen suchen. Denn Telenovelas sind ebenfalls zur Massenerscheinung geworden. Es sind quasi „gemeinsame Träume“, Fluchtmöglichkeiten aus einem langweiligen Alltag in eine Scheinwelt.

Stan spricht klare Worte: „Ein Kind, das nie eine Sinfonie hören konnte, das nie ein wichtiges Buch lesen konnte, wird nur das verzehren, was ihm zu verzehren beigebracht wurde. Die Gestalten einer Telenovela werden dem Zuschauer vertrauter als die eigenen Verwandten und Freunde.“ Es wird auf starke Ersatz-Emotionen gesetzt. Die geschichtliche Vergangenheit wird oft als lächerlich dargestellt, denn sie ist ja grundverschieden von der Gegenwart. Aber die Gegenwart bleibt unverständlich, so dass auch die Zukunft als bedrohlich, gewaltbereit und hoffnungslos erscheint. Selbstverständlich geht es nicht nur um beliebte Fernsehserien, sondern auch um Schundliteratur und Kitsch in all seinen Erscheinungsformen. Leider richtet sich auch die Berichterstattung in den Massenmedien eher nach Einschaltquoten, Sensationellem, Unterhaltendem und Werbung. Die Presse als Wachhund der Demokratie oder als öffentliches Gewissen? Fehlanzeige. Hintergründe erklären und Zusammenhänge aufdecken sind zu schwierige Aufgaben für jene, die nur Schlagzeilen überfliegen und zuerst nach bunten Fotos suchen.

Der SF-Sequenz bleiben auch aktuelle politische Entwicklungen nicht fern, wie z.B. Ausspionieren persönlicher Daten (der Fall Cambridge Analytica), Massenmigration, Massendemos, Fernsehjustiz, Fake-News. Stan spricht von überzeugend-absurden Schritten in einer SF-Weltpolitik, um die Menschheit zu kontrollieren: zuerst die gelben Chips für Rinder, um gesunde Kühe vom Rinderwahnsinn fernzuhalten. Dann nicht über Chips, sondern über Handys und Stromfelder Menschenmassen beeinflussen, einer Mehrheit die Illusion einer Freiheit einflößen und sie im Namen der neu errungenen Freiheit intolerant gegenüber all jenen auftreten zu lassen, die andere Meinungen teilen. Letzte Etappe: eine virtuelle Währung einführen und so die politische und soziale Kontrolle erhalten, denn niemand könnte stehlen, bestechen, Geld waschen. Alle wären gleich, Freiheiten in Sachen Moral und Sex seien kein Problem. Der „neue Mensch“ wäre da. Hitler und Stalin würden vor Neid erblassen, weil zu ihrer Zeit die technischen Möglichkeiten von Kontrolle und Propaganda noch nicht so weit waren.

Zu Narziss gehört auch Echo

Der in sein Spiegelbild verliebte Narziss starb, weil er sich nicht bewusst war, dass er sein eigenes Bild im Wasser vor Augen hatte. Ihm fehlte das Bewusstsein der eigenen Person, die Psyche. In Narziss verliebte sich bekanntlich die Bergnymphe Echo. Eine göttliche Strafe traf sie, so dass ihre Zunge nur die letzten Silben aussprechen konnte, die sie zu hören bekam. Auch das ist eine Widerspiegelung, diesmal klanglicher Natur. Es geht um den Klang, ums Wort und nicht um das Bild. Der Maler Gabriel Stan erweist sich nicht als ein Verfechter der Bildvorherrschaft. Er weiß sehr wohl, dass Bilder am besten täuschen können. Das hängt von den Lichtverhältnissen ab, von der Brille, die wir uns aufsetzen. Dabei meint er nicht allein das Sehgerät, sondern auch gewisse Vorurteile, die uns beeinflussen, angefangen von der seelischen Verfassung bis zur beruflichen Ausbildung. Für ihn bleibt das Wort die innere Stimme eines Gedanken, der Baustein für die Bewusstseinsbildung, selbst wenn dabei auf die Schrift - also auf das Wort in seiner bildlichen Form – zurückgegriffen wird. Wer auf die Magie des Wortes zugunsten des Bildes verzichtet, weiß nicht, wie viel er dabei verliert. Es geht um feine Nuancen der Weisheit, der Wahrheit, sogar der seelischen und geistigen Harmonien. Wörter sind auch Bausteine für Bilder, wenn man an Vergleiche, Metaphern, an die Sprache der Dichter denkt. 

Verba volant; Wörter hinterlassen keine Spuren. Damit ist Stan (dessen Vorname Gabriel übersetzt „Vermittler einer guten Botschaft“ bedeutet) nicht einverstanden. Biblische Überlegungen widersprechen dem: „Am Anfang war das Wort“ oder die Tatsache, dass Jesus Christus keine einzige Zeile hinterlassen hat und trotzdem nach 2000 Jahren seine Botschaft und sein Werk genau so lebendig wie damals geblieben sind. Bilder haben ihre Grenzen, weiß der Maler. Komplexe Kunstwerke können nicht in Worte gefasst werden. Dafür können Wörter ganz komplizierte philosophische Wahrheiten darstellen. Aber mit Wörtern können auch Irrlehren verbreitet werden, Gehirnwäsche, effizienter als über Bilder betrieben werden.

Symbole und Zeichen haben die Kraft der Worte, vermitteln ihre eigene Sprache. In einer Hinsicht erweist sich Gabriel Stan als sehr skeptisch. Die Tattoo-Mode spricht ihn nicht an. Das sei ein Selfie als Gruppe – ein Zeichen der Zugehörigkeit zu einer „Herde“. Nicht zufällig werden ja auch Tiere gekennzeichnet. Er nimmt einen Vergleich von Ileana Vulpescu auf, für die Tattoos „auf die Haut eingekerbte Manele-Musik“ sind.

Smartphones sind heute nicht aus unserem Alltag wegzudenken. Sie erleichtern unser Leben, helfen, Verbindungen zu Freunden und Bekannten von nah und fern aufrecht zu erhalten, sind eine erfolgreiche Alternative für CD, Radio, Fotogerät, ja sogar zu Fernsehen und Zeitung. Aber sie sind letztendlich ein Mittel, um zu kommunizieren. Wenn sie unser Verhalten und Denken zu einschneidend bestimmen, dann könnte Stans Skepsis in „Selfiefrenia“ als berechtigte Warnung gelten.