Systemische Gesundheit für die Gesellschaft: So einfach und doch schwer

Für Hausärztin Dr. Loredana Piloff steht Kommunikation an erster Stelle

Eine Hausärztin mit ernstem Blick weiß aus langer Erfahrung, worin der eigene medizinische Auftrag besteht. Foto: privat

Patienten, die sich von Medizinerinnen und Medizinern wie Dr. Loredana Piloff in Hermannstadt/Sibiu untersuchen und helfen lassen, bekommen nicht längere Sprechstundenzeit als bei anderen HausärztInnen. In einer zunehmend schnelllebigen Welt, die aktuell leider auch eine Pandemie zu bewältigen hat, muss Dr. Loredana Piloff trotz mehr als 30 Jahren Berufserfahrung mit ihrer Zeit noch strenger als üblich haushalten. Seit 1999 leitet sie ein hausärztliches Kabinett in einem ruhigen Wohnblockviertel nahe des Zentrums von Hermannstadt. Sobald man aus dem Warteraum ins Kabinett gerufen wird, sind meist nur knappe zehn Minuten Begegnung drin. Aber es wirkt entspannend, von Hausärztinnen  und Hausärzten ihres Schlages beraten zu werden. Dr. Loredana Piloff hat zu einer Zeit Medizin studiert, als man in Rumänien von Mobilfunk und digitalen Medien nur träumen konnte. Dafür aber ist es für sie selbstverständlich, den Erfolg von Behandlung nicht ausschließlich im Medikamentenrezept zu suchen. ADZ-Redakteur Klaus Philippi hat Dr. Loredana Piloff kurz vor Weihnachten 2020 schriftlich interviewt.

Warum bevorzugen Sie die Allgemeinmedizin vor vielen anderen medizinischen Fachbereichen, in denen es mindestens genauso interessant oder gar noch spannender als in Ihrem Beruf zugehen kann?
In der traditionellen Allgemeinmedizin wurde 1979 die Familienmedizin neu als Spezialfachbereich definiert, nachdem sie zwecks Anpassung an den modernen Lebensalltag strukturell, methodologisch und organisatorisch umgeändert worden war. Das Gesundheitssystem Rumäniens hat sich dieser Änderung erst 1990 angeschlossen. Die Familienmedizin deckt sämtliche medizinische Teildisziplinen ab, äußert sich aber im Unterschied zu den Teildisziplinen in einer komplexeren Sprechstunde, die sowohl den Gesundheitszustand an und für sich als auch den Übergang vom gesunden Befinden zu einer Krankheit unter die Lupe nimmt. Prophylaktisches Eingreifen, optimale Kommunikation und Beratung nicht nur im medizinischen Problemfall, sondern auch in psychologischen, sozialwirtschaftlichen und kulturellen Fragen spielen in der Familienmedizin eine große Rolle. Familienmedizin bedeutet übergreifende Langzeitbegleitung vom ersten Kontakt an, ist auf den Patienten zentriert und auf die Gesellschaft ausgerichtet. Die damit verbundene Herausforderung, aber auch Genugtuung hat meine Entscheidung für eine allgemeinmedizinische Laufbahn maßgeblich beeinflusst.

Wie hoch oder niedrig fällt heute in Rumänien das Interesse künftiger Ärzte am Fachbereich Allgemeinmedizin aus? Womit kann die Bereitschaft für ein Ärzteleben zuliebe jener Patienten aufrechterhalten werden, die statt nach einem vom Facharzt verschriebenen Rezept zuerst jeweils ihren Hausarzt um Rat fragen?
Überall in der Welt nimmt das Interesse junger Menschen an der Medizin ab. Eine Tendenz, die auch die Allgemeinmedizin betrifft. Gründe dieses Trends sind der lange Zeitaufwand für die Berufsausbildung, mehr aber noch die zunehmend steigenden Beanspruchungen und Verantwortungen. Das Interesse für die Allgemeinmedizin kann bereits während des Medizinstudiums genährt werden, unterliegt aber auch dem gesellschaftlichen Einfluss. Gute Kommunikation vom Bürger zum Hausarzt führt sicher zu Effizienzsteigerung eines Gesundheitssystems, das zu 80 Prozent auf Leistungen der Allgemeinmedizin baut. Wertschätzung und Verankerung der Allgemeinmedizin im Zentrum des Gesundheitssystems, und nicht zuletzt auch entsprechende Entlohnung können die Zufriedenheit von Patienten und Ärzten bedeutend erhöhen.
Leider ist unser Gesundheitssystem in Rumänien noch weit von der Erfüllung solcher Maßstäbe entfernt. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass viele junge Ärzte in andere Länder abwandern, wo der Beruf Hausarzt vom einzelnen Bürger über die breite Gesellschaft bis hin zu den politischen Entscheidungsträgern vergleichsweise höher als in Rumänien wertgeschätzt wird.

Diskussionen um das Für und Wider von Impfungen sind bereits vor der Coronavirus-Pandemie aufgeflammt. Auch hier gibt es eine kleine, aber laute Minderheit der „Impfgegner“ – vor allem Eltern sind besorgt, wenn es um die medizinische Versorgung ihrer Kinder und Nebenwirkungen von Impfungen geht. Worin sehen Sie die Gründe dafür? 
Was ich vorhin angesprochen habe, bestätigt sich auch in der Antwort auf diese Frage: Wir haben es damit zu tun, dass ärztliche Kompetenz und Expertise nicht wertgeschätzt werden. Viele Eltern stehen in einer nicht selten gefährlichen Beziehung zum „Doktor Google“ und zu Influencern, die ihr Denken beherrschen. Von daher ist es den Impfgegnern gelungen, sich Gehör zu verschaffen – entgegen aller medizinisch versierten Empfehlungen aufgrund einer wissenschaftlich starken Datenbasis, die schon allein für sich selbst genommen genügend Beweise für die Wichtigkeit von Schutzimpfungen am Individuum und der Gesellschaft liefert.

„Querdenker“ und Verneiner sind auch in Rumänien aktiv. Verschwörungsmythen, denen zufolge eine Covid-19-Impfung gar in das Erbgut des Patienten eingreift, breiten sich auch in unserem Land aus. Was ist an solchen Ängsten und Befürchtungen dran? 
Dass Fragen zur Covid-19-Schutzimpfung aufkommen, ist irgendwie verständlich. Strenge Ausmaße einer derart heftig sich ausbreitenden Infektion haben wir so noch nicht erlebt. Die Schutzimpfung dagegen unterscheidet sich sowohl strukturell als auch in der Methodologie der Anwendung von anderen bisherigen Schutzimpfungen. Aber auf all diese Fragen haben wir auch eine Antwort in der Datenbasis wissenschaftlicher Beweise für statt gegen die Effizienz, die Sicherheit und den Wert des breiten Impfschutzes zur Kontrolle der Infektion.

Trotz Impfung werden wir noch eine Zeitlang die Maskenpflicht befolgen müssen. Dass nicht alle Menschen identisch große Geduld dafür haben, ist verständlich, verlängert jedoch die Krise. Was raten Sie Fußgängern, die korrekt Maske tragen und bemerken, dass andere Personen aus der Gegenrichtung kommend nicht Maske tragen? Sollte man solchen Mitmenschen ausweichen oder sie etwa doch ansprechen?
Am besten ausweichen oder zumindest größtmögliche Distanz halten. Ansprechen aus sicherer Entfernung kann aber trotzdem hilfreich sein, denn für gesellschaftliche Erziehung sind wir alle verantwortlich.

Wie kann ein Hausarzt bzw. eine Hausärztin telefonisch die Heilung eines mit SARS-CoV-2 infizierten Patienten unterstützen, der sich selbst zuhause auskuriert und keinen Krankenhausaufenthalt benötigt?
Die Möglichkeit, leichte Covid-19-Krankheitsfälle zuhause am Wohndomizil zu behandeln, ist sowohl für die Patienten als auch für das Gesundheitssystem von Vorteil. Das zu befolgende Behandlungsschema gibt der Hausarzt vor. Es muss auf jeden einzelnen Patienten individuell abgestimmt werden. Jeder Patient kann Nebenerkrankungen mitbringen und spricht vom Typ her anders auf Behandlungen an. Deswegen ist der Therapieansatz gesondert auf den jeweiligen Patienten abzustimmen. Der Hausarzt nimmt täglich telefonisch Kontakt zum isoliert zuhause wohnenden Patienten auf, erkundigt sich nach dessen Befinden und verordnet eine entsprechende Behandlung.

Was könnte der Abwanderung junger Ärzte aus Rumänien entgegenwirken? Allein in der Frage der Entlohnung hält Rumäniens Gesundheitssystem einem Vergleich mit dem Westen nicht stand. Und selbst an einzelnen Krankenhausabteilungen, wo die medizinische Leistung westliche Standards erfüllt, bleibt der finanzielle Anspruch der Ärzte zwar nicht komplett, aber doch fühlbar auf der Strecke. Welche Argumente können mehr als das finanzielle Argument wiegen? Dass Rumänien immer zu wenig finanzielle Ressourcen vorrätig haben wird, scheint schon beinahe unumkehrbar...
Das Gesundheitssystem Rumäniens ist unterfinanziert, ja, und das Budget für Allgemeinmedizin kommt da nicht mal auf die Hälfte des EU-Schnittwertes. Was sich jedoch auch ohne Geld beheben ließe, ist die mangelhafte Organisation und Zusammenarbeit der einzelnen Sektoren des Gesundheitssystems. Genauso auch eine gerechte und korrekte Bewertung jeder einzelnen Fachkraft. Die jungen Ärzte gehen ins Ausland, weil sie sich in ihrer Arbeit systemisch und gesellschaftlich gleicherma-ßen unzureichend unterstützt fühlen. Aber auch wenn das finanzielle Argument wichtig ist, braucht es dennoch nicht entscheidend zu sein. Ein gut strukturiertes höheres Bildungssystem und Anerkennung seitens der Gemeinschaft könnten Abhilfe schaffen und die jungen Ärzte mit überzeugen, ihren Beruf in Rumänien auszuüben.

Wie schauen Sie auf die Revolution vom Dezember 1989 zurück?
Wenn ich mir jetzt vor Augen halte, was seither alles geschehen ist, kann ich sagen, dass alle damals Beteiligten viel mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt bewundernswert, geeint, effizient und in tiefer Hingabe gehandelt haben, und dass die Patienten aufmerksamer, kooperativer und respektvoller waren. Es war eine wichtige Lebenslektion für uns alle. Es hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir synchron und stimmig zusammenarbeiten... und dass so eine Vorstellung von Mannschaftseinsatz in die Tat umgesetzt werden kann. Genau jene Disponibilität und Bündelung der Kräfte und die Abstimmung im Einsatz des medizinischen Teams hat uns effizient agieren lassen. Darum hat sich auch Dankbarkeit eingestellt, der ärztlichen Berufung verantwortlich nachgekommen zu sein.­


Schlägt man den Begriff „Allgemeinmedizin“ im Wörterbuch nach, so erhält man als rumänische Übersetzung sowohl „medicin² general²“ als auch „medicin² de familie“. Auch in anderen Sprachen, etwa im Englischen, wird zwischen „family medicine“ und „general practice“ nicht unterschieden. Allerdings bezeichnet „Familienmedizin“ im Deutschen ein spezielles Teilgebiet der Allgemeinmedizin. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) definiert den Begriff als „die Betreuung des Patienten im Kontext seiner Familie oder sozialen Gemeinschaft, auch im häuslichen Umfeld. (…) Familienmedizin ist eine wichtige Aufgabe in der hausärztlichen Versorgung. Eine generationenübergreifende und den sozialen Kontext einbeziehende Versorgung der Bevölkerung erfordert Wissen um die familiären Lebensbedingungen. (...) Immer stehen dabei aber die Patienten, ihr Lebensumfeld sowie dessen Auswirkungen auf ihre Gesundheit im Zentrum. Dabei kann die Beziehung sowohl zum individuellen Patienten in seinem familiären Kontext als auch zur Familie als Ganzes, als System, bestehen.“

Als eigenständiges Fachgebiet wird die Familienmedizin erst im 20. Jahrhundert entwickelt: Zunächst in den USA durch das 1945 erschienene Werk „Patients have families“ von H. Richardson. Darin heißt es:  „Die Feststellung, dass Patienten Familien haben, ist wie die Feststellung, dass ein krankes Organ Teil eines Menschen ist.“

In Europa griff Frans J. A. Huygen aus den Niederlanden das Konzept auf, 1978 erschien sein Werk „Familienmedizin: Aufgaben für den Hausarzt“. In Deutschland schließlich legte Hans Hamm 1980 das Werk „Die Familie als Einheit ist der Patient“ vor. 1981 schließlich definierte die DEGAM die Familienmedizin als einen von 12 Forschungsschwerpunkten der Allgemeinmedizin.