Ungebremstes Wachstum, harter Aufprall: Rumäniens wirre Aufholjagd

Eine Rückschau auf ein spannendes Jahrzehnt in Wirtschaft und Gesellschaft

Zehn Jahre seit dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union (II)

Als Rumänien am 1. Januar 2007 der Europäischen Union beitrat, hatte das Land eine siebenjährige Wachstumsphase bereits hinter sich, die mit einem zarten Plus des Bruttoinlandsprodukts von 1,3 Prozent im Jahr 2000 durch die damalige Regierung des unabhängigen Ökonomen Mugur Is˛rescu eingeleitet wurde. Dieser hatte im Dezember 1999 ein heillos zerstrittenes Kabinett von seinem PN}CD-Vorgänger Radu Vasile geerbt, die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union im Februar 2000 eröffnet und ein bisschen Ordnung in das ökonomische Chaos der Jahre 1997 bis 1999 bringen können. Bis 2006 ging es in Rumänien bergauf und auch die ersten beiden Jahre im europäischen Bündnis bescherten dem Land ein starkes Wachstum und eine sinkende Inflation. Doch kurz danach kam die Weltwirtschaftskrise, der Kollaps konnte nur unter besonderen Anstrengungen vermieden werden. Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt bleibt Rumänien trotz eines beeindruckenden Wachstumsrhythmus Schlusslicht bei zahlreichen Schlüsselindikatoren, den europäischen Durchschnitt hat es noch nicht erreicht. Die ADZ setzt heute ihre dreiteilige Serie über Rumäniens erstes EU-Jahrzehnt fort, im Rampenlicht stehen diesmal Wirtschaft und Gesellschaft.

Wenn die Geschichte es gut meint

In- und ausländische Unternehmer, Ökonomen und Geschäftsleute hatten am 1. Januar 2007 allen Grund, optimistisch in die wirtschaftliche Zukunft des Landes zu blicken. Im Jahre 1 nach dem EU-Beitritt war die Privatisierung staatlichen Eigentums bereits abgeschlossen, natürlich mit einigen Ausnahmen, die sich auch heute noch in Staatshand befinden: die Eisenbahn, TAROM, Kernbereiche der Energieversorgung, die Staatsbank CEC sowie wenige Fabriken. Die Rückgabe ehemaligen Privateigentums hatte bereits die PSD-Regierung Adrian Năstase eingeleitet, obwohl erst unter Călin Popescu Tăriceanu die Kirchen, die Vertretungen der nationalen Minderheiten und auch Nachfahren von Großunternehmern von vor 1945 so richtig zum Zuge kamen. Alles in allem: Der Staat hatte sich um 2007 als direkter Akteur aus dem Wirtschaftsleben größtenteils zurückgezogen. Wichtige Bereiche der Volkswirtschaft hatte er ebenfalls stabilisieren können, das Banken- und Versicherungswesen war 2007 eindeutig gesünder als ein Jahrzehnt zuvor. Große Bankenpleiten gab es während der 2000er Jahre nicht mehr, Rumäniens Notenbank hatte im großen Stil aufgeräumt. Sicher: Auch nach dem EU-Beitritt mussten Skandale der Vergangenheit abgearbeitet werden, so zum Beispiel die Pleite des Investmentfonds FNI. An schmutzigen Geschäften mit Staatseigentum hat es weder vor 2007 noch danach gemangelt, aber darum soll es hier und jetzt nicht gehen.

Im Strudel der Wirtschaftskrise

2007 schien der internationale Rahmen endlich zu passen. Auch Rumänien wurde mit Billiggeld überflutet, Hunderttausende Rumänen entdeckten um das Datum des EU-Beitritts das süße Leben auf Pump. So entstanden neue Häuser, so wurden Haushaltsgeräte gekauft und der erste Auslandsurlaub finanziert. Auch das erste Handy, der erste Internetanschluss, das erste Auto, auch wenn es nur ein gebrauchter Vierer-Golf aus Deutschland war. Tatenlos sah damals die Notenbank der Kreditflut zu, 2008 - 2009 litten dann die teilweise hoch verschuldeten Rumänen schon. Genauso wie ihre Nachbarn im restlichen Mitteleuropa.

Auf die Verantwortungslosigkeit der ausländischen Banken, des Notenbankgouverneurs und der Regierung Tăriceanu folgte 2009 der Milliardenkredit des IWF und der Weltbank, auf den Milliardenkredit ein Jahr später dann die harte Sparpolitik mit den 25-prozentigen Lohnstreichungen und sonstigen Maßnahmen, die auf die Kürzung des Haushaltsdefizits und die Drosselung des Privatkonsums abzielten.
Auf die harte Tour musste also ein nicht unerheblicher Teil der Rumänen die Lektionen der Marktwirtschaft und des Kapitalismus lernen. Geholfen hat ihnen selbstverständlich niemand, am eigenen Leibe musste das Volk begreifen, dass US-amerikanische Kapitalflüsse, der Wert deutscher Staatsanleihen und die Krise in Griechenland den Preis der Wohnungen in Bukarest durchaus beeinflussen können.

Und trotzdem: Während der gesamten Wirtschafts- und Finanzkrise, zwischen September 2008 und dem Jahresanfang 2012 blieb es verhältnismäßig ruhig im Land, das rumänische Volk schien die Sparmaßnahmen einer teilweise verbrecherischen Regierung (die Affären um Elena Udrea, der Entwicklungsministerin im Boc-Kabinett, und um andere hochrangige Regierungsvertreter sind bereits Schnee von gestern!) mit Gelassenheit zu ertragen. In der Tat, verglichen mit den Transformationskrisen der 1990er Jahre handelte es sich nun fast um ein Zuckerschlecken. Aber nur deshalb, weil 2008 bereits zwei Millionen Rumänen im westeuropäischen Ausland lebten, inzwischen dürfte ihre Zahl auf 3,5 Millionen gestiegen sein. Allein 1,1 Millionen leben wahrscheinlich in Italien, etwa 700.000 bis 900.000 in Spanien. Eine halbe Million mindestens sind es in Deutschland. So blieb also die Arbeitslosigkeit während des vergangenen Jahrzehnts relativ gering, nie erreichte die Rate der Arbeitslosen die erschreckenden Prozentsätze, die man aus Griechenland oder anderen hart erprobten Krisenländern vernimmt.
Und der Staat blieb halbwegs funktionsfähig, auch wenn er in der Krise kaum in der Lage war, Wachstumsimpulse zu schaffen. Nicht einmal das EU-Geld konnte im entsprechenden Maß ausgegeben werden, die Brüsseler Milliarden hätten einiges mehr an Leid, Armut und Unterentwicklung bestimmt lindern können.

Demografie und Bildung

Hier soll es aber um eine Bilanz gehen, eine kurzfristige und eine langfristige. Die eine fällt positiv aus, die andere weist den einen oder anderen Schatten auf. Zehn Jahre sind seit dem EU-Beitritt vergangen und das Land ist reicher. Der Durchschnittsrumäne lebt etwas besser als 2006, deutlich besser als 1996, von 1986 ganz zu schweigen. Eine Konsumgesellschaft ist zweifelsohne entstanden, Supermärkte und Einkaufszentren sind überfüllt, Großstadtstraßen sind viel enger geworden und in vielen europäischen Hauptstädten trifft man am Wochenende auf City-Breaker aus dem Heimatland.

Aber die Entwicklung, die eindeutig festgestellt werden kann, ist unregelmäßig verlaufen, regionale Ungleichgewichte sind bestehen geblieben, einige haben deutlich zugenommen. Stadt und Land driften auseinander, der Osten ist arm geblieben, der Westen und die Hauptstadt sind deutlich wohlhabender. Bukarest zum Beispiel hat den EU-Durchschnitt bereits hinter sich gelassen. Kleinstädte, Dörfer, monoindustrielle Kreisvororte, die an keiner Hauptstraße liegen, haben sich kaum erholen können, viel brachte der EU-Beitritt nicht. Mehr noch: Er hat die Entvölkerung beschleunigt: Wer nicht in eines der Wachstumszentren Bukarest, Klausenburg/Cluj-Napoca, Temeswar/Timişoara, Kronstadt/Braşov, vielleicht auch Jassy/Iaşi, gegangen ist, der ist bestimmt in den ersten Billigflug nach Irgendwo in Westeuropa gestiegen. Und ist natürlich weg. Die Mär, dass Hunderttausende Auslandsrumänen zurückkehren werden, glauben allein diese, sonst hätten sie nicht von der Bukowina bis ins Banat, von der Maramureş bis nach Oltenien mit dem im Ausland verdienten Geld Häuser gebaut, die selbstverständlich leer stehen.

Die Schattenseite der langfristigen Bilanz des ersten EU-Jahrzehnts also – die Demografie: 23,4 Millionen soll das Land 1989 gezählt haben, knapp 20 Millionen waren es 2011, die Auslandsrumänen mitgezählt. Wie viele Menschen sehen überhaupt noch jeden Tag die Sonne über diesem Land aufgehen? Sind es 16, sind es 17 Millionen? Keiner weiß es so genau und die Politik spricht nicht besonders gerne über den massiven Bevölkerungsrückgang, den Rumänien erlebt und den der EU-Beitritt nicht aufhalten konnte. Denn Lösungen hat die Politik keine. Die Zahl der Angestellten erreicht die Sechs-Millionen-Marke nicht, jene der Rentner liegt bei etwa fünf Millionen. Und pro Jahr werden inzwischen weniger als 200.000 Kinder geboren; wer als Dreißig- oder Vierzigjähriger jetzt an seine Rente denkt, müsste dafür sorgen, dass noch zusätzliche 100.000 Kinder jährlich geboren werden. Aber das Thema ist heikel, politisch stark geladen und deshalb in der öffentlichen Diskussion allzu gemieden. Ab und zu schlägt das Demografie-Institut der Rumänischen Akademie Alarm, eine Tagung wird veranstaltet, ein Regierungsbeamter im Arbeitsministerium spricht von Strategien zur Entlastung der Mütter und das war´s. Dabei hatte die Regierung Boc das Muttergeld stark zurückgefahren, zwei-drei Jahre später sank die Zahl der Neugeborenen unter 200.000. In einem Land, dessen Bevölkerung auf den Stand von 1966 gefallen ist. Das also ist und bleibt Problem Nr. 1.

Problem Nr. 2: das Bildungswesen. Rumäniens Schulen sind und bleiben in einem desolaten Zustand, die Qualität nimmt Jahr für Jahr ab. Bedingt durch globale Entwicklungen, erleben die rumänische Gesellschaft und der Lebensstil im Lande einen radikalen Umbruch, der vor allem in den Großstädten zu spüren ist. I-Phone trifft auf Pferdewagen, Facebook auf Subsistenzwirtschaft. Die Schulen bleiben aber träge, Rumäniens Jugendliche werden auf die Gesellschaft von morgen kaum vorbereitet. Stattdessen wird weiterhin über die Länge der Hausaufgaben debattiert, über die Rolle der Religion im Unterricht, alles Nebensache. Denn der Durchschnittsabiturient kann inzwischen keinen einfachen Text mehr resümieren, keiner hat ihm bisher beigebracht, wie man lernt. Die Folge ist, dass Informationen über Facebook und Wikipedia vermittelt werden und im postfaktischen Zeitalter keine Bäcker mehr zu finden sind. Keine Installateure, keine Schreiner, keine Mechaniker, keine Tischler. Und keine Ärzte. Die Bildungspolitik ist ein Fiasko sondergleichen. Dass der eine oder andere, aus rumänischen Schulen kommend, es bis in die Ivy League schafft, dürfte bloß die regelbestätigende Ausnahme sein. Im EU-Schnitt bleibt Rumänien Schlusslicht.

Institutioneller Aufbau steckt in Kinderschuhen

Vieles an der Misere hängt wohl mit der gravierenden Ineffizienz der Verwaltung zusammen. Ob es sich um Schulen handelt oder um Krankenhäuser, um Autobahnen, um die Landwirtschaft, die Energiepolitik, die Reindustrialisierung, die Außenpolitik. Ob links oder rechts, ob alleine oder innerhalb zerstrittener Koalitionen regierend: Rumäniens Politik bringt das Land nur im Schneckentempo nach vorne, die Trägheit, die mangelnde Voraussicht, die fehlende Planungsfähigkeit und die schwache Umsetzungskraft hiesiger Behörden bleiben sprichwörtlich. Zehn Jahre innerhalb der Europäischen Union haben eindeutig ihre Vorteile, aber eine totale Umwälzung des Staatsapparats haben sie nicht bewirkt. Weitere Jahrzehnte dürften vergehen. Und der Teufelskreis dreht sich fort: Ohne ordentliche Schulen keine vernünftige Verwaltung – ohne vernünftige Verwaltung keine ordentlichen Schulen. Viel kann da selbst die Europäische Union nicht bewirken; wenn es die Lösung überhaupt gibt, dann nur im Inland.

Eine gleiche und doch so andere Gesellschaft

Ansonsten bleibt alles beim Alten in der rumänischen Gesellschaft: Die Orthodoxie ist auf Vormarsch, in den Großstädten wächst das zarte Pflänzchen westlicher Lebensstile, einige träumen von den Dakern, andere wollen Bessarabien zurück und der große Rest bloß seine Ruhe. Die Bukarester überfluten im Sommer die Meeresküste und im Winter das Prahova-Tal, der Westen fährt nach Wien und an die Adria, eine Autobahn von Hermannstadt/Sibiu nach Piteşti bleibt ein Wunschtraum und die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft geht anscheinend unbeirrt ihrer Arbeit nach. Den Nobelpreis in Literatur hat noch kein Rumäne gewonnen, dafür aber eine Banater Schwäbin. Ehen zwischen Gleichgeschlechtlichen sind und bleiben tabu, gottesfürchtige Bürger unterschreiben fleißig gegen dieses sündige Ziel. Im Fernsehen wird gestritten, die Rhetorik ist die gleiche, genauso unprofessionell wie vor zehn Jahren. In manchen Kreisvororten gibt es keine Buchhandlung mehr, aber dafür liefert Amazon nun auch nach Rumänien. Und eifrig kritisiert der Rumäne weiterhin den Anderen: den Nachbarn, den Chef, den Politiker, den Ausländer, sich selbst aber nie. Im Karpaten-Garten herrscht gut versteckte Selbstzufriedenheit.

Aber eines kann nicht oft genug unterstrichen werden: Trotz des sogenannten rumänischen Exzeptionalismus, trotz der Fehler, der Verspätungen, trotz schwacher Institutionen und trotz jahrhundertealter Rückstände behält das Land innerhalb der Europäischen Union seine einzige Chance, die eigene Vergangenheit zu überwinden. Auch wenn es nur im besagten Schneckentempo vorwärts geht. Zehn Jahre nach dem Beitritt zur EU ist nicht Rumänien das Problem, sondern die EU selbst und die Konstruktionsfehler dieses zwischenstaatlichen Etwas, das sich Europäische Union nennt und ohne dessen Existenz Rumäniens Zukunftsperspektive einen zweifelsohne schaudern lässt.