Von der Weisheit der Gelehrten

„Alle Menschen zerfallen (...) in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens, wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter”. „Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Muße, flieht der gewöhnliche Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiß.”„Wer nämlich zu beobachten weiß, bemerkt, dass der Gelehrte seinem Wesen nach unfruchtbar ist (...) und dass er einen gewissen natürlichen Hass gegen den fruchtbaren Menschen hat; weshalb sich zu allen Zeiten die Genies und die Gelehrten befehdet haben.” Friedrich Nietzsche, von dem diese drei Sentenzen stammen, konnte keine Ahnung davon haben, was in den heutigen Corona-Zeiten in der Zunft (oder Kaste?) der Gelehrten vor sich geht. Dass die Gelehrten Zeit und Muße brauchen (um zu einem Ergebnis, einer Schlussfolgerung zu kommen), ist eine Binsenweisheit. Denken wir nur an Brechts Zöllner, den neugierigen Beamten, der den weisen Laotse fragt, ob er was rausgekriegt habe, als er hört, Laotse habe gelehrt... Wie schrieb doch dieser Laotse? „Der Weise ist nicht gelehrt / der Gelehrte ist nicht weise”. Und bereits Mencius (370-290 v. Chr. – auch Mengzi, Meng-Tse, Meng-Ke/Meng-Ko) schrieb: „Ein Gelehrter mag zwar große Gelehrsamkeit besitzen / aber das Wichtigste ist, wie er sich verhält”. Mengzi war ein konfuzianistischer Philosoph, der auch als wandernder politischer Ratgeber / Berater unterwegs war.
Es gibt unzählige Volksweisheiten, die sich mit der menschlichen Seite und dem menschlichen Gebaren der durch Gescheitheit und Bildung Herausragenden beschäftigen, bis hin zum kernigen rumänischen „Wo viel Verstand ist, dort ist auch jede Menge Dummheit!”(„Unde-i multă minte, acolo-i și multă prostie!”).

Diese langatmige Einleitung sollte die Atmosphäre bereiten für ein kurzes Erinnern an einen der interessantesten Medizinprofessoren, Forscher und politischen Ratgeber unserer Zeit, an Prof. Dr. Adrian Streinu-Cercel, Mitglied der Rumänischen Akademie für Medizinische Wissenschaften, Direktor des Nationalen Instituts für Infektionskrankheiten und Hochschullehrer am „Carol Davila”-Institut Bukarest. Und an sein von den Medien (und ursprünglich wohl auch von ihm selber) „Vacan]a Mare”/”Die großen Ferien” getauftes Projekt der faktischen Wegsperrung in Hotels (auf drei bis fünf Monate) all jener, die älter sind als 65. Der Professor selber ist 63... Und ein guter Beleg für Laotses Weisheit der Gelehrten. Er war vor ein paar Jahren, als die Welt eine Sars-Pandemie fürchtete, Dauergast guter wie dummer Fernsehsendungen und schlug sich sehr gut.

Seit Innenminister Ion Marcel Vela und Staatschef Klaus Johannis die Bildschirme mit ihren Statements zum Sars-CoV-2-Virus und zur Covid-19-Epidemie beherrschen, seit auch Staatssekretär Dr. Raed Arafat die Bildschirme von innen klarwischt (der einzige vom Fach), war kaum noch Senderaum geblieben für den intelligenten Mann vom Lande Streinu-Cercel, dem viel von einem „Stubengelehrten” anzuhängen scheint, vor allem einiges an Weltfremdheit, gepaart mit der Arroganz des erfolgreich Aufgestiegenen. Nur mit dieser Dreierkonfiguration von Stubengelehrtheit, Weltfremdheit und Arroganz (aber auch noch mit einigem mehr) lässt sich wohl jenes ethikfremde und -ferne Projekt erklären, zynisch „Große Ferien” getauft, das eine Art Zwangsinternierung zwecks Zwangsquarantäne aller Senioren Rumäniens durch das Nationale Institut für Infektionskrankheiten durchspielte und das durch den Präsidenten gerügt und durch den Gesundheitsminister mit der Entlassung Prof. Dr. Streinu-Cercels als Leiter der Nationalen Anti-Corona-Kommission beendet wurde. Dass der Professor, der auch medizinischer Berater der Regierung war, nachträglich noch kräftig politisch eingedreckt wurde, ist zwar unfair, aber in solchen Höhen rumänischer Politik üblich.