Weniger ist mehr – Wider dem Konsumwahn

Warum der Trend zum Minimalismus ein unbeschwertes Leben verspricht

Textilfertigung in Indonesien | Foto: Rio Lecatompessy/unsplash.com

Die Schattenseiten der Konsumwirtschaft: Die Weltmeere werden zunehmend mit Plastikmüll verschmutzt. | Foto: Naja Bertolt Jensen/unsplash.com

Volle Kleiderschränke sind in den westlichen Industriegesellschaften keine Seltenheit. In Deutschland sammeln sich über fünf Milliarden Kleidungsstücke in den Schränken. | Foto: Priscilla du Preez/unsplash.com

„Weniger ist mehr“ – so kann man das Grundkonzept eines minimalistischen Lebensstils zusammenfassen. Minimalismus kann viele Facetten haben und unterschiedlich ausgeprägt sein. Im Wesentlichen geht es darum, sich bewusst zu entscheiden, auf bestimmte Dinge zu verzichten. Die Idee ist bei Weitem nicht neu. In den letzten Jahren hat das Konzept des Minimalismus zunehmend Anhänger gewonnen und sich zu einem wahren Trend entwickelt. Er schafft damit mehr Bewusstsein für den übermäßigen Konsum, den viele in der Gesellschaft längst gewohnt sind und nur bedingt hinterfragen.

Wie sieht ein minimalistisches Leben aus?

Wir können zumindest in den westlichen Industriegesellschaften alles billig und im Überfluss kaufen und tun es meistens auch. Der sogenannte Konsumwahn belastet nicht nur den Geldbeutel, sondern auch mit seinen Schattenseiten Verschwendung und Überproduktion. Der übermäßige Konsum und das damit einhergehende ständige Mantra des ökonomischen Wachstums entwickelt sich zunehmend auch zur großen Herausforderung für unsere Umwelt.

Wo Minimalismus beginnt und aufhört, ist nicht einfach zu beantworten. Für die einen sind es kleine Umstellungen im Alltag, andere verändern ihren Lebensstil und reduzieren ihre kompletten Besitztümer und ihren Konsum auf das absolute Minimum. Ein minimalistisches Leben soll Platz für das Wesentliche schaffen. Viele Minimalisten fangen daher zunächst damit an, zuhause auszusortieren. Nach der Bestandsaufnahme des eigenen Besitzes versucht man, diesen auf das Nötigste zu reduzieren. Der minimalistische Ansatz kann sich dabei auf diverse Bereiche des Lebens auswirken. Einige Minimalisten verkleinern auch ihren Wohnraum. Man sucht sich eine kleinere Wohnung. Der minimalistische Wohnraum hat darüber hinaus auch Einfluss auf weitere Trends. So finden viele Minimalisten auch in der sogenannten „Tiny House“-Bewegung die Erfüllung. Kleine Häuser, meist auf Rädern, sparen Platz und sind mobil. Sie sind energieeffizienter und man kann seinen Wohnort freier wählen. Einige Minimalisten wenden dies auch auf ihre Ernährung an. Die Nahrungsmittel sollen aus der Region kommen und nach der Saison sowie unverarbeitet konsumiert werden. 

Es stellt sich dabei die grundlegende Frage: Was braucht man wirklich zum Leben? Schon der Versuch des Ausmistens kann eine echte Herausforderung sein, wird jedoch häufig auch als sehr befreiend empfunden. Noch schwieriger wird es danach, darauf zu achten, dass sich nicht wieder unnütze Dinge ansammeln. Dafür gibt es jedoch Methoden. Zum Beispiel kann man für jedes gekaufte Kleidungsstück ein anderes aussortieren. Das lässt sich natürlich auch auf andere Bereiche anwenden. 

Der ökologische Aspekt

Da sich Minimalismus gegen den übermäßigen Konsum richtet, ist es keine gute Idee, Aussortiertes einfach wegzuschmeißen. Man sollte es besser verschenken oder verkaufen. Dann sind die Dinge noch nützlich für jemand anderen und man hilft, unnötigen Müll einzusparen. Die prekäre Ökobilanz der Konsumgesellschaft lässt sich vor allem an der Textilwirtschaft veranschaulichen. Allein in deutschen Kleiderschränken befinden sich über fünf Milliarden Kleidungsstücke. Pro Kopf sind dies über 95 und nur jedes fünfte wird auch tatsächlich genutzt. Getragen werden diese aber durchschnittlich nur noch halb so lange wie vor 15 Jahren. Die Textilindustrie mit dem gesamten Wertschöpfungssystem ist für mehr CO2-Ausstoß verantwortlich als Flugverkehr und Kreuzfahrtschiffe zusammen. Die Herstellung der Kleidung, der Transport sowie der Vertrieb verbrauchen unzählige Ressourcen und belasten die Umwelt beträchtlich. „Fast Fashion“ – „Schnelle Mode“ ist das neue Motto der Industrie, das aber wenig Nachhaltigkeit verspricht und eher zur Wegwerfgesellschaft anregt. Man sollte daher seinen Konsum mit Bedacht wählen. Es gibt viele Dinge, die man sich nicht selbst neu kaufen muss. Nicht nur Second-Hand-Mode, sondern auch Möbel, Bücher und viele weitere Dinge kann man problemlos gebraucht kaufen. Weniger unnötiger Müll geht einher mit weniger Verschwendung. Viele Minimalisten folgen daher dem „Zero Waste Trend“. Man konsumiert bewusst Produkte, mit denen weniger Müll produziert wird. Eines der einfachsten Beispiele dafür ist der Einkauf mit Stoff- statt Plastiktüten. Neben dem bewussteren Einkaufen kann auch der Verzicht auf ein eigenes Auto und das Nutzen von umweltfreundlicheren öffentlichen Verkehrsmittel zu einem minimalistischen Leben gehören. 

Minimalismus als Heilmittel für Körper und Seele? 

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich unsere Gesellschaft zu einer Welt des Überflusses und exzessiven Konsums entwickelt. Auf den Einzelnen wirkt sich dieses Verhaltensmuster negativ aus. Es ist ein regelrechter und bisweilen krankhafter Teufelskreis, in den man sich mit der Anschaffung neuer Besitztümer begibt. Mehr Besitz fordert auch mehr Platz – und bei einem in Folge vergrößerten Wohnraum ergibt sich so wieder der Raum für neue Dinge. Ein Kreislauf, aus dem man nur mit einem drastischen Lebenswandel ausbrechen kann, wenn man den Willen dazu hat und das Problem als solches erkennt. Und den clevere Marketingkampagnen weiter anfeuern, indem sie uns tagtäglich mit ihren heutzutage individuell auf den Einzelnen abgestimmten Produkten und Anzeigen suggerieren, dass wir noch mehr Dinge benötigen, weil wir ohne sie nicht komplett und wertvoll sind. 

Auf Dauer wirkt sich dieser Teufelskreis und der daraus resultierende Konsum wie andere Suchtmittel auf unser Gehirn aus. Beim Kauf eines Gegenstands kommt es zu einer Reaktion in unserem Körper. Das Gehirn schüttet Dopamin aus, welches einen regelrechten Rausch verursacht. In jeder Situation von Stress, Langeweile oder der Suche nach etwas Trost sehnen wir uns künftig wieder nach diesem Gefühl und denken, dass wir mit neuen Anschaffungen umso glücklicher werden. Doch dieser Zustand ist nur von kurzer Dauer. Dies kann jeder bestätigen, der in Euphorie schon Kleider gekauft hat, die sich zuhause als absolut unpassend zum eigenen Stil und der Garderobe herausgestellt haben. Dennoch haben sich Besitztümer jeglicher Art auch zum Abbild unserer eigenen Identität entwickelt. Sie sind identitätsstiftend und können auch viel über unsere Persönlichkeit aussagen. Knüpft sich also unser Seelenheil fest an die Warenwelt? Obwohl viele Menschen davon überzeugt sind, dass Besitztümer sie vollends erfüllen, scheint oft das Gegenteil der Fall zu sein. Dies zeigen zumindest zahlreiche Studien. Forschungen demonstrierten, dass eine materialistische Grundhaltung eine schädliche Wirkung auf die menschliche Psyche haben kann. Materialisten sind demnach tendenziell ängstlicher, unzufriedener und neigen zum impulsiven Geldausgeben. Wenn Selbst- und Idealbild stark auseinanderklaffen, nutzen Menschen Ersatzobjekte, um die Lücke zu schließen. Psychologen konnten diesen Effekt an einer Stichprobe von Management-Studenten demonstrieren. Wer besonders unsicher bezüglich seiner beruflichen Zukunft war, erwarb häufiger klischeebehaftete Business-Artikel wie teure Füller, Anzugschuhe oder Aktenkoffer.

Befreit es uns also, sich von Besitz zu trennen? Finden wir zu uns, wenn der ganze Krempel erst einmal weg ist? Einiges deutet darauf hin, dass es uns glücklicher macht, wenn wir unseren Fokus auf wenige, konkrete Dinge legen. In einem Experiment der Universität für Wissenschaft und Technologie in Hong Kong sollten etwa 300 Befragte Auskunft über ihren Kleiderschrank geben. Manche sollten nur ihr liebstes Kleidungsstück ausführlich beschreiben, andere sämtliche Kleidungsstücke auflisten. Das Ergebnis: Wer sich nur mit dem Lieblingsteil befasst hatte, war danach messbar zufriedener, zeigten die verantwortliche Forscherin Jingshi Liu und ihre Kollegen. Den gleichen Effekt konnten die Ökonomen in einer Umfrage kurz nach Heiligabend nachweisen. An das liebste Geschenk zu denken, stimmte die Teilnehmer fröhlicher als der Gedanke an alle erhaltenen Weihnachtsgeschenke. Ist weniger also doch mehr? Kritiker der Minimalismus-Bewegung weisen darauf hin, dass eine radikale Verzichtsethik die Probleme der Überflussgesellschaft bei Weitem nicht lösen kann. 

Minimalismus als Lifestyle feiern zu können, ist das Privileg einer kleinen urbanen Elite. Spaß macht das nur dann, wenn man es jederzeit auch anders haben könnte. Wenig Eigentum und knapper Wohnraum sind für die meisten Menschen keine reinigende Erfahrung, sondern schlichtweg bittere Realität. Postmaterialismus muss man sich erst einmal leisten können. Zudem ist Minima-lismus keine vollkommene Abkehr von der Konsumkultur. Es ist vielmehr ihre nächste Stufe. Findige Unternehmen haben längst zahlreiche Bücher, Apps und Rucksäcke speziell für den modernen Minimalisten auf den Markt gebracht. „Selbst wer freiwillige Einfachheit praktiziert, wird an seine Besitztümer gebunden sein – vielleicht sogar stärker als diejenigen, die mehr Dinge besitzen, diese aber eher oberflächlich betrachten“, schreibt der Marketingprofessor Russell Belk von der Universität York in Kanada. Weniger ist nicht immer mehr, manchmal ist es einfach nur weniger. Ein gut ausgestatteter Haushalt kann ein Segen sein. Dafür ist es schlichtweg nicht nötig, dass jedes Einzelteil Freude bereitet, wie die japanische Aufräumexpertin Marie Kondo es fordert. Wer beispielsweise gern kocht, wird eine gute Auswahl an Töpfen, Pfannen und Messern zu schätzen wissen. Ob es dazu wirklich auch noch die extravaganteste Küchenmaschine sein muss, ist eine andere Frage. 

In einem Punkt haben Minimalisten jedoch Recht. Wenn es um psychisches Wohlbefinden geht, sind Luxusartikel nicht die beste Geldanlage. Wie zahlreiche Untersuchungen zeigen, machen Erfahrungen im direkten Vergleich merklich zufriedener als materielle Anschaffungen. Bergwanderungen, Massagen, gemeinsames Kochen, Festival- und Konzertbesuche – all das scheint mehr zu unserem Wohlbefinden beizutragen als Schmuck, Markenkleidung oder ein teures Smartphone. Das zeigt sich auch beim Schenken. „Erfahrbare“ Geschenke, etwa Konzertgutscheine, schweißen Menschen einer kanadischen Studie zufolge stärker zusammen als materielle Gaben.