Wie arm ist Rumänien eigentlich?

ADZ-Gespräch mit Victoria Stoiciu von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rumänien

Foto: Aida Ivan

Schon seit fast 10 Jahren arbeitet Victoria Stoiciu bei der Friederich-Ebert-Stiftung in Rumänien.
Veröffentlicht hat sie im Laufe der Zeit verschiedenen Studien über die Auswanderung der Rumänen nach Deutschland, Sparmaßnahmen in Rumänien, Inklusion der älteren Leute auf dem Arbeitsmarkt, die Auswirkung der Wirtschaftskrise auf die Migration der Rumänen u. a. Über das umfassende Thema der Armut hierzulande, ihre Auswirkungen und Ursachen sprach mit der Wissenschaftlerin Victoria Stoiciu die ADZ-Redakteurin Aida Ivan.

Frau Stoiciu, wie erklärt man sich Armut in Rumänien? Wird sie noch bekämpft?

Auch in der Vergangenheit war Rumänien ärmer als die anderen Länder im Westen Europas und wir haben eine Tradition für Unterentwicklung. Das heißt aber nicht, dass die Leute resigniert haben, Beweis dafür stehen die 3,3 Millionen Menschen landesweit, die arbeiten. Warum sind wir weiter arm? Ich glaube, das ist eine Mischung von Faktoren: Einerseits haben wir das historische Erbe – eine Diskrepanz, die wir zu reduzieren versuchen. Andererseits glaube ich, dass wir politische Maßnahmen haben, von denen behauptet wird, dass sie die Armut bekämpfen wollen, aber sie tun es nicht. Die Finanzierung für Sozialschutz ist als Anteil des BIP die kleinste in der EU. Armut kann aber durch Umverteilungsmaßnahmen reduziert werden, so wie im Westen. Unsere  Maßnahmen sind schlecht durchdacht und unterfinanziert. Es gibt noch einen Aspekt der Armut in Rumänien: Es gibt Leute, die arbeiten und immer noch arm sind. Wir haben den höchsten Anteil in der EU bei dem, was man „working poor“ nennt. Da geht es um 20 Prozent, zweimal so groß wie in Bulgarien.

Wird Armut stigmatisiert?

Ich habe eine Verschlimmerung der Situation in den letzten Jahren seit der Wirtschaftskrise feststellen können, was den öffentlichen Diskurs und die Einstellung der Meinungsbildner in Bezug auf Armut anbelangt. Die vorherrschende Denkweise ist, dass arme Leute für ihre eigene Armut verantwortlich sind. Sie sind arm, weil sie nicht arbeiten, weil sie trinken, weil sie die Sozialgelder verschwenden und nicht, weil das System ein Problem hat.

Auf der Webseite monitorul social.ro sieht man, dass es sehr viele Autos hierzulande gibt. Was heißt das?

Der Unterschied zwischen den Reichen und den Armen wird immer größer. Vom ganzen EU-Raum ist die Ungleichheit in Rumänien am größten. Sie hat sich sogar während des wirtschaftlichen Booms zwischen 2003 und 2005 vergrößert. Wir sind im Top 5 in der EU, was die Ungleichheit der Einkommen anbelangt. Wenn wir die Ungleichheit des Vermögens messen – Besitztümer, Häuser, Liegenschaften, Firmen – dann sieht die Situation viel schlimmer aus. Aus dem ganzen ehemaligen kommunistischen Raum hat Rumänien das höchste Niveau der Vermögensungleichheit. Es ist höher als in Ländern wie Turkmenistan oder Usbekistan. Es gibt die Tendenz, dass sich das Vermögen bei einer Minderheit konzentriert. Es gibt eine sehr kleine Minderheit, die sehr reich ist. Wir bauen keine Mittelschicht. Diese ist sehr klein und befindet sich im Allgemeinen in Städten wie Bukarest, Klausenburg oder Temeswar.

Welche Erklärung gibt es aber für die große Anzahl von Autos?

Die Grafik zeigt das sehr deutlich: Diejenigen, die Autos haben, sind nicht dieselben wie jene, die sehr arm sind. Dabei geht es um die Ungleichheit in der Gesellschaft und um Polarisierung: Bukarest hat eine gute Position, sogar im Vergleich zu anderen europäischen Städten oder Regionen. Dafür gibt es Gebiete in Rumänien, wo es sehr schlimm aussieht. Nicht nur in Bezug auf die Anzahl der Autos, sondern auch in Bezug auf den Lebensstandard. Es gab einen Zeitpunkt, an dem der Lebensstandard in Bukarest mit 110 Prozent über dem europäischen Durchschnitt war. Und der Rest des Landes war bei 50 Prozent. Wenn man sagt, dass es zwei Rumänien gibt, dann ist es auch so – es gibt eine Welt, wo der Lebensstandard näher an dem europäischen Durchschnitt ist, und es gibt eine arme, unterentwickelte Welt auf dem Land – und das ist die Mehrheit. Die Bevölkerung der Großstädte ist klein im Vergleich zu der ganzen Bevölkerung.

Was sagt die große Anzahl von Autos über die Gesellschaft, in der wir leben?

Wir dürfen das Bedürfnis, einen scheinbaren Reichtum zur Schau zu stellen, nicht unterschätzen. Die Tendenz ist viel größer als im Westen Europas, wo Reichtum diskret ist. Wenn man in Rumänien den eigenen Reichtum zeigt, dann wird man sozial aufgewertet. Alle Ausländer, die nach Bukarest kommen, sind erstaunt über die große Anzahl von Luxusautos. Sie ist viel höher als in Berlin, zum Beispiel. In Rumänien dominieren die materialistischen Werte die Gesellschaft. Ich glaube, das ist das Ergebnis des öffentlichen Diskurses nach 1989. Da gibt es einen Unterschied zu dem Rest Europas, wo es einen Übergang zu den postmaterialistischen Werten gab. Kompetenzen werden hierzulande viel weniger gefördert, im Unterschied zum finanziellen Erfolg. Als gewöhnlicher Bürger hat man die Tendenz, das Erfolgsrezept zu übernehmen, das man vor Augen hat und das in der Gesellschaft funktioniert.

Wann sind diese Vermögensunterschiede entstanden, in den letzten 25 Jahren?

Nach den 90er Jahren bemerken wir ein Wachstum der Ungleichheit. Dabei müssen wir die soziale Mobilität betrachten, also die Chancen eines Kindes, einen besseren sozialen und wirtschaftlichen Stand als seine Eltern zu haben. Die Mobilität war viel größer während des Kommunismus.

Welches war dann die Auswirkung des Übergangs zur Demokratie?

Die Auswirkungen waren auf jeden Fall negativ. Aber nicht der Übergang zur Demokratie war die Ursache, sondern der Übergang zum Kapitalismus, zur Marktwirtschaft und Demokratie. Ich will nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass Demokratie schlimm ist und die soziale Mobilität verschwindet. Demokratie ist ein Ziel, nach dem wir streben müssen. Um das Ziel zu erreichen, müssen wir aber einiges wieder gutmachen – auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene. Die Mobilität ist nicht wegen der Demokratie verschwunden, sondern wegen des Verfalls des früheren Wirtschaftssystems, der Deindustrialisierung. Die Chancen der meisten Menschen, Zugang zu Arbeitsstellen, Ressourcen zu haben, wurden kleiner. Das beeinflusst die soziale Mobilität.

Außerdem ist Bildung einer der Motoren des sozialen Aufstiegs. Der Anteil von Kindern aus ländlichem Umfeld, die Zugang zur Universität haben, ist sehr klein in Rumänien im Vergleich zur EU. Das hat mit Armut zu tun, mit der Qualität der Bildung auf dem Land usw. Es ist unvermeidbar: Wenn das Bildungssystem verfällt, wird die Anzahl von Schulen immer kleiner, besonders im ländlichen Gebiet. Das waren auch Maßnahmen der Politiker – wenn es keine  minimale Anzahl von Schülern gibt, dann wird die Schule aufgelöst und die Kinder werden zur Schule in die benachbarte Ortschaft geschickt.

Um wie viel ist die Anzahl der Schulen gesunken?

Dramatisch. Das hat auch mit dem Sinken der Geburtenrate zu tun. Die Geburtenrate ist nicht in demselben Rhythmus gesunken: Die Anzahl der Schulen ist fünf- bis sechsmal gesunken.

In welchen Bereichen kann man die Auswirkungen der Armut noch identifizieren?

Zum Beispiel im Gesundheitswesen: Die Anzahl der Ärzte im ländlichen Gebiet ist zwei-dreimal kleiner als im städtischen Gebiet. Als armer Mann in einem Dorf hat man einen sehr großen Nachteil: Im Dorf gibt es keinen Arzt und es gibt auch keine gute Infrastruktur, damit man in 30 Minuten ein Krankenhaus erreichen kann. Es gibt eine Statistik, die zeigt, wie die Anzahl der Zahnärzte sich nach 1989 entwickelt hat. Es ist ein Kollaps. Jetzt ist Zahnmedizin ein privater Bereich, sehr teuer im Vergleich zum Einkommen der Bevölkerung. Die Leute auf dem Land haben kein Geld, deshalb befinden sich die meisten Zahnärzte in Städten. Die Bevölkerung da ist also eine privilegierte Minderheit. Landesweit ist die Situation bedauerlich, der Zustand der Zahngesundheit ist jetzt katastrophal: Ein Rumäne von fünf hat Zahnlücken.  

In welcher Beziehung stehen Migration und Armut?

Migration spielt eine Rolle in der Reduzierung der Armut. Das Geld, das die Rumänen nach Hause schicken, rangierte auf dem zweiten Platz als Kapitaleinsatz nach ausländischen Direktinvestitionen. Nach der Krise ist die Situation umgekehrt, weil sich die ausländischen Investitionen verringert haben.

Welches ist die Motivation der Auswanderer und was für Auswirkungen hat dieses Phänomen auf Rumänien?

Ihre Motivation ist natürlich ein größeres Einkommen. Kurzfristig sind die Auswirkungen positiv, aber langfristig negativ. Es ist ein Kapitalverlust: Wenn diese Leute zu Hause blieben und sich auf dem rumänischen Arbeitsmarkt integrieren würden, dann würde das Land viel gewinnen.

Gibt es Maßnahmen für die Reduktion der Armut in Rumänien?

Es gibt eine Nationalstrategie gegen Armut, die im April dieses Jahres gebilligt wurde. Es mangelt aber nicht an Strategien, sondern an deren Umsetzung. Es gibt Strategien für die Jugend, für die Besetzung der Arbeitsstellen, für soziale Inklusion, für die Roma-Minderheit, aber von Strategien zur Verwirklichung ist ein sehr langer Weg. Das hat auch mit den Fähigkeiten der Institutionen zu tun.

Kommen wir zum Thema Schwarzarbeit: Welches sind ihre Dimensionen und Ursachen?

Sie ist sehr verbreitet, sie entspringt prinzipiell einem natürlichen Wunsch. Nicht in allen Ländern gibt es so ein verbreitetes Phänomen der informellen Wirtschaft.

Wieso ist die Schwarzarbeit bei uns größer als anderswo?

Es gibt mehrere Erklärungen – erstens die große Besteuerung der Arbeit. Die Gebühren, die die Angestellten bezahlen, sind prozentual im Top 5 in der EU. Dazu zählt auch die Schwäche des Staates, der nicht fähig ist, zu kontrollieren und zu bestrafen. Da es ein Staat ist, der eine chronische Unfähigkeit zu überprüfen und vorzubeugen hat, hat sich das Phänomen auch verschlimmert. Ich glaube, das hat auch mit der Mentalität zu tun, mit der Tatsache, dass der Staat so wenig öffentliche Güter oder Dienstleistungen anbietet, die von diesen Steuern finanziert werden, dass der Angestellte denkt, dass er nicht bezahlen soll, weil er sowieso nicht zu viel zurückbekommt.

Wenn der Staat seine Versprechungen nicht respektiert, dann befindet sich der Bürger in der „legitimen“ Position zu betrügen. Was die Schwarzarbeit anbelangt, gibt es sehr viele Einschätzungen, weil das von der Definition abhängig ist. Manche verstehen durch Schwarzarbeit nur die Art von Arbeit, bei der es keinen Arbeitsvertrag gibt. Es gibt noch die breitere Definition, die auch die Grauzone der formellen Arbeit mit einschließt, das sind alle atypischen Formen von Arbeit. Laut der breiteren Definition gibt es 3,3 Millionen Leute, die Schwarzarbeit und Grauarbeit machen, Arbeit ohne Vertrag, und diejenigen, die sich für selbstständig erklären, aber sie sind tatsächlich Angestellte.

In einer Ihrer Studien erwähnen Sie Armut als strukturelles Konzept in den sozialen Beziehungen. Was meinen Sie damit?

Die ungleiche Verteilung des Vermögens in der Gesellschaft ist ein Kriterium, das soziale Beziehungen und Strukturen definiert. Wir teilen uns zwischen Reichen und Armen, und das hat einen großen Einfluss auf all das, was unser Leben bedeutet – auf die Demokratie, auf das wirtschaftliche Wachstum, auf die Art von Gesellschaft, in der wir leben. Wenn es eine Gesellschaft ist mit sehr reichen und sehr armen Leuten, dann ist automatisch der Wettbewerb, die Frustration und die Unzufriedenheit sehr groß. Das ist ein Phänomen mit Auswirkungen in allen Bereichen des Lebens.

Von welchem Gesichtspunkt ist Rumänien ein armes Land?

Hinsichtlich des Einkommens pro Einwohner, der Armutsrate – der Anteil der Armen ist einer der größten in der EU. Rumänien ist arm aus der Perspektive der Gehälter und hier meine ich nicht nur die kleinsten. Das Gehalt erreicht 10 Prozent vom Durchschnitt der EU, die Kosten für den Lebensunterhalt hingegen 70 Prozent. Wir sind arm vom Standpunkt derjenigen, die arbeiten und immer noch arm sind, und das ist extrem selten. Wenn man in anderen europäischen Ländern arbeitet, dann ist das Armutsrisiko viel kleiner. In Rumänien kann man arbeiten und weiter arm bleiben – das sind die 19 Prozent, die arm sind. Es gibt viele, die in ihrem eigenen Haushalt arbeiten: Sie sind nicht aktiv oder arbeitslos, aber werden als beschäftigt betrachtet. Sie werden in die Gruppe der Beschäftigten in Rumänien mit eingeschlossen. Ohne sie wäre die Situation viel schwieriger. Wir sind aber nicht arm in Bezug auf Ressourcen und Arbeitskräfte.

Vielen Dank für Ihre Ausführungen!