Wie kann Rumänien autodidaktisch Demokratie lernen?

Doku von „Recorder“: besser als jeder Geschichtsunterricht

Die Gerechtigkeit, für die Hermannstadt an den Abenden der kalten Wintermonate vor den Europawahlen 2019 auf der Straße demonstriert hat, ist eingetreten. Aber Gerechtigkeit alleine macht noch keinen gesunden Staat aus. Die Suche nach Qualität geht weiter. Foto: Klaus Philippi

Erna Hennicot-Schoepges (Jahrgang 1941), Ex-Abgeordnete im Europaparlament in der Fraktion der Europäischen Volkspartei und Ehrendoktorin der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt/Sibiu, erklärt Journalistin Beatrice Ungar (Jahrgang 1963) im ersten von drei veröffentlichten Bänden der „Leseproben einer Seelenverwandtschaft“ (Honterus-Verlag) ihre Sichtweise auf die ersten Jahre Rumäniens nach der Revolution von Dezember 1989: „Nun war Iliescu, so wie alle, die unter dem Diktator Rang und Namen hatten, bei den neuen Oppositionellen verpönt. Ich habe ihn viele Male getroffen, privat und offiziell, war immer sehr beeindruckt von seiner Art, die Gesprächspartner zu umwerben. Ich denke, dass es ohne Iliescu zum Bürgerkrieg hätte kommen können. Macht ist eine zwiespältige Aufgabe, die Beurteilung ist selten ganz objektiv, solange die Geschichtsschreiber und Biographen nicht anhand von Fakten die Tatsachen beleuchtet haben. Ich bin überzeugt, dass die Rolle Iliescus dann anders beurteilt werden wird. Er hatte auf alle Fälle politisches Gespür“, so die luxemburgische Politikerin in einem 2017 in zweiter Auflage gedruckten Gespräch mit der Chefredakteurin der Hermannstädter Zeitung (HZ).

Ja, Ion Iliescu (Jahrgang 1930) hat seinerzeit tatsächlich politisches Gespür an den Tag gelegt. Politisches Gespür dafür, dass die trägen und leicht manipulierbaren Schichten der Bevölkerung Rumäniens in den Neuanfangsjahren nach Berlins Mauerfall und Moskaus Endpleite nicht genügend Grips haben würden, seiner Strategie von Gängelei durch Desinformation, mörderische Gewalt des rohen Pöbels und stur verzögertes Privatisieren oder Umstrukturieren der immens hoch verschuldeten Volkswirtschaft auf die Schliche zu kommen.

Tja, dumm gelaufen, sagen auch Bürgerinnen und Bürger, die im zweiten, dritten oder vierten Lebensjahrzehnt stehen und fragen, warum es Rumänien nicht beschieden sein konnte, mit weniger Schrammen und blauen Flecken davonzukommen? Aber es gibt auch eine Frage, die auf Statements wie jenes von Erna Hennicot-Schoepges folgt: „Ich bin überzeugt, dass die Rolle Iliescus dann anders beurteilt werden wird.“ – Wie bitte?

Iliescu, ein Nichtdemokrat

Ganze sechs Mineriaden hält die Ausgabe Nr. 62 (Herbst 2019) der Zeitschrift „Sinteza. Revista de cultură și gândire strategică“ fest. Der erste von Ion Iliescu instrumentalisierte Kampfmarsch der Bergarbeiter aus dem Schiltal/Valea Jiului verbreitete Ende Januar 1990 Angst und Terror in Bukarest. Der letzte Putschversuch der Mannen von Miron Cozma, die Rache für die Anfang Februar 1999 verhängte Verurteilung ihres Anführers geschworen hatten, wurde noch im selben Monat gestoppt. Miron Cozma, wegen seinem 1991 verübtem Angriff auf das Regierungsgebäude in Bukarest zu 18 Jahren Haft verurteilt, wurde im Dezember 2004 von Nichtdemokrat Ion Iliescu, dessen drittes und folglich verfassungswidrig geleistetes Staatspräsidenten-Mandat wenige Tage später auslief, begnadigt.

Amtsnachfolger Traian Băsescu zeigte sich kurz darauf überaus entzückt über die durch Zivilproteste erzwungene Rücknahme der Begnadigung. Zu Ion Iliescus drittem Mandat als Staatschef muss gesagt werden, dass Rumänien mit seiner verfassungswidrigen Wahl nur in allerhöchster Not einverstanden war, da sonst nach der Ende November 2000 durchgeführten Stichwahl der rechtsextreme Marktschreier Corneliu Vadim Tudor (1949-2015) das Land in seinen Würgegriff bekommen hätte. Zum Dank für das rettende Einlenken der Wählerschaft in letzter Minute hätte Ion Iliescu sich nicht die dreiste Unbotmäßigkeit erlauben dürfen, rasch vor Ablauf seiner Gnadenfrist den Anführer der blutigen Mineriaden zu befreien!

Rumänien und Demokratie – eine Kombination, die 30 Jahre lang eher Kopfzerbrechen denn passgenaues Wiederzusammenfügen zerbrochener Gelenke zwischen Menschen und Staat beschert hat. Warum nur haben die aus dem westlichen Exil heimkehrenden Intellektuellen Radu Câmpeanu und Ion Rațiu den Wahlkampf um die politische Führung Rumäniens im Frühjahr 1990 nicht für sich und die wiedergegründeten historischen Parteien des liberalen und bäuerlich-christlich-demokratischen Flügels entscheiden können, wo sie ihrem Geburtsland doch die edelste aller Hilfestellungen bieten wollten?

Unter allen lebenden rumänischen Politikern der Nachwendezeit, die eines oder mehrere Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Kerbholz haben, ist Ion Iliescu die Nummer Eins, mögen auch manche international Beobachtende zu moderater Kritik an ihm mahnen. Dass Rumäniens nachrückende Oppositionellen-Generation auf Statements, die einer Verhöhnung von Opfern vergangener nationaler Verbrechen gegen die Menschlichkeit nahe kommen, noch immer hellhörig reagieren, ist politisch nicht eben völlig ungesund.

Demokratische Fehlgeburt nach Revolution

„Die Essenz der Demokratie lässt sich in einem einzigen Satz ausdrücken: ‘Ich werde bis zu meinem letzten Tropfen Blut dafür kämpfen, dass Du das Recht hast, nicht mit mir einverstanden zu sein!’“, versicherte Ion Rațiu 1990 live in der Wahlkampfdebatte, die auf Rumäniens Fernsehbildschirme ausgestrahlt wurde. Leider hat Rumänien weder Ion Rațiu verstehen können noch Ion Iliescu durchschaut.

„Vor einem Volk, das in der allerletzten Misere lebt und durch eine Nacht der Geschichte gegangen ist, erscheinst Du nicht mit Fliege und in aristokratischer Eleganz, in der 90 Prozent der Menschen, die in Rumänien lebten, sich nicht wiedererkannten“, resümiert Philosoph und Verleger Gabriel Liiceanu in der 17. Minute des drei Stunden langen Dokumentarfilms „30 de ani de democrație“ der Medienredaktion „Recorder“, der seit dem 22. Dezember 2019 auf Youtube verfügbar ist und wahrscheinlich noch vor Jahresende 2020 die Marke von eineinhalb Millionen Aufrufen erreicht haben wird.

Ein Platz in der Reihe der Könner Rumäniens, die im spannenden Streifen 30 Jahre Zeitgeschichte Revue passieren lassen, gebührt auch Dauerbrenner Cristian Tudor Popescu: „Rumänien konnte 1990 nicht geführt werden, Rumänien war 1990 ein Land voll ehemaliger Mitglieder der Kommunistischen Partei, voll von Securitate-Mitarbeitern und voll unfähiger Menschen, die Last der Freiheit zu schultern! Da kam Rațiu mit solchen idealistischen Gedanken; das hätte auf keine einzige Art funktioniert!“, so das bittere Fazit von CTP. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Rumäniens hätte alles, was nicht mit ihrer kommunistischen Vergangenheit zu tun gehabt hätte, zurückgewiesen, wie der Sprecher des Dokumentarfilms beipflichtet.

Pöbel oder nicht Pöbel, das ist hier die Frage!

Von der überschäumenden Wut des urplötzlich sich ereifernden Pöbels, die Staatschef Iliescu ungestraft auszunutzen wusste, wäre sogar Corneliu Coposu beinahe gelyncht worden. Petre Roman, Premierminister von 1990 bis 1991, pocht vor der Interview-Kamera der retrospektiven Doku auf seine Version der Erinnerung an die Episode: „Corneliu Coposu rief mich an und sagte, dass die Vorsitzenden der Nationalen Christlich-Demokratischen Bauernpartei (PNȚCD) in der Gefahr physischer Gewaltnahme stehen. Ich ging gleich hin auf den Balkon und habe versucht, auf die Menge einzureden. Dann tauchte dieser Schlachtruf auf, dieses ‘sie haben keine Soja-Wurst essen müssen!’, aber da verlor ich die Beherrschung und sagte, gute Leute, dieser Mensch, den ihr hier neben mir stehen seht, er hat 17 Jahre in den kommunistischen Gefängnissen verbracht, wovon redet ihr denn? Gerade mal ein Stück Brot und Wasser hat er dort erhalten und von Soja-Wurst nur träumen können!“

Petre Roman dürfte viel Mitschuld angelastet werden, aber an die tückische Grobschlächtigkeit Ion Iliescus kommt der athletische Ex-Spitzenpolitiker nicht deckungsgleich heran. Die Videoaufnahme, worin er vom Balkon in Richtung Pöbel schreit, dass „wir nicht das Recht haben, sie zu malträtieren!“, ist nicht getürkt. „Brüder, versteht: In diesem Moment zielt der Blick einer ganzen Welt auf uns! Uns ist die Revolution gelungen. Ich bitte euch von ganzer Seele, dass uns auch die Demokratie gelingt!“ Gibt es Zeitzeugen, die sich daran erinnern können, dass auch Iliescu den Pöbel in aller Öffentlichkeit zur Besonnenheit gerufen hat? Hätte er es damals wirklich getan, würden ihn die Oppositionellen heute auch nicht aufs Schärfste kritisieren.

Auf Messers Schneide entging Corneliu Coposu dem Lynchmord. Erst 1995, in der endlosen Warteschlange an seinem öffentlich aufgebahrten Sarg dämmerte es Rumänien auf, dass der Reim „Iliescu președinte, nu Coposu fără minte!“ (Iliescu Präsident, nicht Coposu ganz dement!) niemals hätte skandiert werden dürfen.

Die Menschen, die im Frühjahr 1990 Demonstrationen auf dem Universitätsplatz Bukarest feierten, zählten nicht zum Pöbel. Iliescu hingegen hat sie trotzdem ‘Lümmel’ (rumänisch: „golani“) geschimpft. „Am Universitätsplatz hat niemand furchtbare Sachen gefordert“, wie Gabriel Liiceanu aufklärt. „Keine Gerichtsurteile, keine Verurteilungen zum Tode und anderes dieser Art. Gefordert wurde etwas Einfaches, etwas Selbstverständliches: Dass diejenigen, die den Kommunismus bewerkstelligt hatten, uns nicht beibringen, die Demokratie zu leben.“

Endstation Haftanstalt

Als Ex-PSD-Parteichef Liviu Dragnea am Tag nach der Europawahl 2019 gerichtlich verurteilt und ins Gefängnis überführt wurde, geschah genau das, was 30 Jahre zuvor täuschend echt inszeniert worden war – nationale Rehabilitation durch Inhaftierung statt Hinrichtung des Ober-Übeltäters. Auch diese Episode aus der jungen Geschichte Rumäniens, angefangen von den Massenprotesten gegen die zu Mitternacht korrupt beschlossene Eilverordnung Nummer 13 im Februar 2017 bis hin zur finalen Festnahme Dragneas kommt im Dokumentarfilm „30 de ani de democrație“ ungeschönt zur Sprache.

Im Stuhl vor der Interview-Kamera nimmt zudem kein Geringerer als Victor Ponta Platz. Er gibt zu, nach dem verheerenden Brand im Bukarester Clubkeller „Colectiv“ im Herbst 2015 Rücksprache mit den Mitgliedern des ihm unterstehenden Regierungskabinetts gehalten zu haben. Alle hätten zum Rücktritt, den er darauf bekanntgab, geraten. Nicht zu vergessen seine Reaktion auf die überraschende Wahl von Klaus Johannis zum Staatspräsidenten im Herbst 2014: „Die Wählerschaft hat uns gestern eine sehr starke Nachricht gegeben. Und ich glaube, dass wir alle die Bescheidenheit und Klugheit haben müssen, eine Zeitlang zu schweigen.“ Hat Victor Ponta darin eine 25 Jahre verspätete Antwort auf das Ende 1989 von Gabriel Liiceanu verfasste Manifest „Apel către lichele“ (Appell an die Schufte) geliefert?

Spezifisches Misstrauen abbauen

Rumäniens politische Selbstreparation stößt auf die Hürde der Angst. Psychologe Daniel David (Jahrgang 1972), Rektor der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg/Cluj-Napoca, befindet: „Jeder Wechsel bringt Angst mit sich. Vor allem für die Senioren, deren Angst Du ihnen nicht vorwerfen kannst. ´Wie wird es mit meiner Stabilität aussehen, mit meiner Rente, mit meinem Alltag?´ Sie sind nicht mehr aktive Menschen, die für Änderung und berufliches Umsteigen einstehen können. Wenn wir von Wechseln sprechen, müssen wir denjenigen, die davon nicht begeistert sind, eindringlich zureden, dass Platz für alle da ist und niemand zurückgelassen wird. Wenn Enkel ihren Großeltern sagen würden, ´schau mal, ich verstehe deine Angst, aber das moderne Rumänien bedeutet das hier, und wenn Du zu mir hältst, widersetze dich nicht!´, würde die generationsübergreifende Integration viel besser funktionieren.“

Nicht von ungefähr steht Rumäniens intrinsische Bereitschaft zu neuen Wegen auf demografisch und soziokulturell hustenden Motoren. Trotzdem haben die Lokalwahlen vom 27. September bewiesen, dass die zwölfte Stunde noch nicht geschlagen hat. Noch ist es möglich, den Rost von 45 Jahren Kommunismus und 30 Jahren Nachwendezeit auszubessern. Damit sich Demokratie tiefer in das soziale Material eingraben kann. „30 de ani de democrație“ von „Recorder“ zeigt, was man dafür nicht brauchen kann – und wer das weiß, weiß schon sehr viel.