Wie sozial ist das rumänische Sozialsystem?

Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht Bericht über soziale Sicherheit

Statistik 1:Die Entwicklung der Struktur der Sozialausgaben Rumäniens, gemessen als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts, verglichen zu den 27 EU-Staaten Grafiken: Eurostat

Statistik 2: Die Entwicklung der Sozialausgaben Rumäniens, gemessen als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts, verglichen mit anderen ost- und mitteleuropäischen Ländern und dem EU-Durschnitt

Am Donnerstag, dem 12. November, präsentierte die Friedrich-Ebert-Stiftung den Bericht „Improving Social Protection“ / „Îmbunătățirea protecției sociale“ über den Status Quo des rumänischen Sozialsystems in Bezug auf die soziale Sicherheit. Dem online zuschalteten Publikum wurden erst die Analysen der Autorin und Autoren Cristina Raț, Dragoș Adăscăliței sowie Marcel Spătari präsentiert, anschließend wurde die Fragerunde eröffnet.

Schon in den einleitenden Worten wurde von Seiten des Instituts angemerkt, dass sich die Publikation des Berichts in gewisser Weise gut in die aktuellen gesellschaftlichen Debatten einfügt. Und tatsächlich, auf der Suche nach Lösungs- und Verbesserungsvorschlägen für Probleme der von der Pandemie gezeichneten rumänischen Gesellschaft ist es vielleicht mehr denn je nötig, soziale Maßnahmen und Sicherungssysteme auf ihren tatsächlichen Nutzen zu überprüfen. Besondere Aufmerksamkeit sollte hier denjenigen gelten, die im gesellschaftlichen Normalbetrieb schon an die Ränder gedrängt werden: Welche Maßnahmen greifen, wenn Menschen sich in besonders prekären Lebensumständen wiederfinden? Und wenn diese Maßnahmen nicht ihren erhofften Nutzen entfalten, warum?

Schließlich ist der rumänische Staat der Verbesserung der Lebensumstände seiner Bürgerinnen und Bürger verpflichtet. Dies stellt keineswegs eine politisch gefärbte Forderung dar, sondern ist im Artikel 47 in der rumänischen Verfassung festgeschrieben, welcher besagt: „Der Staat ist verpflichtet, Maßnahmen zu wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Schutz zu ergreifen, um Bürgerinnen und Bürgern einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten (..) Die Bürger haben das Recht auf soziale Unterstützung durch das Gesetz“ (Die rumänische Verfassung, Art. 47). Doch staatliche Maßnahmen zum sozialen Schutz der finanziell schwächeren Teile der rumänischen Gesellschaft, so lautet die Hauptaussage des Berichts, bleiben vor allem eines: ineffektiv.

Die Gründe als auch die Auswirkungen sind vielfältig: So beginnen die Autorin und Autoren des Bericht damit, auf die lokalen Besonderheiten des rumänischen Kontexts hinzuweisen: In einem Land, das von einem starkem Stadt/Land-Gefälle geprägt ist; eine hohe Rate Erwerbstätigkeitsarmut (16% im Vergleich zu 9% im europäischen Durchschnitt) aufweist; eine hohe Einkommensungleichheit bei gleichzeitiger exzessiver Besteuerung des Niedriglohnsektors aufweist; und nach wie vor Roma-Minderheiten einer hohen gesellschaftlichen Marginalisierung ausgesetzt sind, müssen soziale Maßnahmen diese Besonderheiten in ihrer Gestaltung berücksichtigen. Doch hinsichtlich des finanziellen Spielraums liegt der Vorwurf nah, die rumänischen Sozialprobleme teilweise als hausgemacht zu bezeichnen: So betrugen die Sozialausgaben Rumäniens 2019 15% des Bruttosozialprodukts, während der europäische Durchschnitt bei 29% liegt (siehe Statistik 1). Doch abseits der europäischen Messlatte stellt auch auf regionaler Ebene Rumänien das Schlusslicht dar und teilt sich unter den osteuropäischen Ländern Bulgarien, Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn durchschnittlich den letzten Platz mit Bulgarien – Statistik 2 zeigt Rumänien als rote Kurve.

Im Hinblick auf die Entwicklungen des rumänischen Sozialstaats in den letzten 20 Jahren bemängeln die Autorinnen und Autoren vor allem eines: Zwar wurden populäre Maßnahmen, die der breiten gesellschaftlichen Masse zu Gute kommen, wie etwa die Erhöhung des Kindergeldes, ergriffen. Demgegenüber werden jedoch Maßnahmen, die spezifisch auf die von Armut betroffenen Segmente der Gesellschaft abzielen – wie etwa die bedarfsorientierte Familienbeihilfe – seit Jahren nicht gefördert. Im zweiten Bereich existiert zwar formal eine beachtliche Menge an Programmen und Maßnahmen, doch haben sie gemeinsam, dass sie in ihrem Ziel scheitern: zielgerichtet und langfristig Armut zu reduzieren.

Dreh- und Angelpunkt der Debatte stellt der sogenannte ISR (Social Reference Indikator / Indicatorul Social de Referință) dar – ohne diesen lässt sich das rumänische Sozialsystem in seiner heutigen Form nicht verstehen: 2008 eingeführt, hatte der ISR zum Ziel, einen verbindlichen Referenzrahmen für verschiedene Zahlungen darzustellen, auf dieser Basis sollen Sozialleistungen prozentual errechnet werden. 2008 auf 500 RON festgelegt, war von Anfang an gesetzlich festgeschrieben, dass der ISR jedes Jahr an das jeweilige durchschnittliche Konsumpreisniveau in Rumänien angepasst werden soll. Das Problem hierbei: Dies war seit der Einführung des ISR 2008 nicht einmal der Fall. So kommt es, dass noch heutzutage, zwölf Jahre später, Sozialleistungen auf Basis dieses Wertes berechnet werden – der schon bei seiner Einführung willkürlich und ohne empirische Evidenz festgelegt wurde, wie die Koordinatorin der Studie, Victoria Stoiciu, betont. Die Folgen sind fatal, da diese Praxis das eigentliche Ziel der Armutsbekämpfung komplett unterminiert. Zur Veranschaulichung: Während 2005 die Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit, die mit dem ISR berechnet werden, noch 76 Prozent des damaligen Mindestlohns entsprachen, sind es heutzutage noch 24 Prozent. Oder ein anderes Beispiel: Während der Wert des Bedarfswarenkorbs einer in Rumänien lebenden Familie mit zwei Kindern und zwei Elternteilen im September 2019 ca. 7000 RON im Monat umfasst, so liegen zusammengenommen die Sozialleistungen der Familienbeihilfe, die ebenfalls durch den ISR berechnet werden, bei nur 732 RON im Monat.

Die sich daraus ergebende Hauptempfehlung des Berichts ist klar: Der ISR muss erhöht werden, um den realen Lebensverhältnissen gerecht zu werden und Armut effektiv entgegenzuwirken. Die Empfehlung im Bericht einer Erhöhung von 500 RON auf 1200 RON (momentan in der Abgeordnetenkammer verhandelt, dazu später im Artikel mehr), stellt zwar eine Erhöhung der Haushaltsausgaben in Höhe von 0,9 Prozent des rumänischen Bruttosozialprodukts dar. Entgegen der öffentlichen Debatte handelt es sich hier längerfristig jedoch keineswegs um ein reines Verlustgeschäft für den Staat: Vielmehr argumentiert der Bericht, basierend auf eigenen Analysen und Berechnungen zum Konsumverhalten der Rezipienten, dass genau dieses Geld auf längere Sicht in die rumänischen Kassen zurückkommt: Denn durch eine größere Kaufkraft der beziehenden Haushalte wird vermehrt konsumiert, und der Staat verdient an den Steuern. So kommt der Bericht zu dem Schluss, dass es letztlich zu einer Erhöhung des Bruttosozialprodukts kommt, und zwar von ca. 0,93 Prozent. Schaut man sich die Summe an, die der Staat für eine Erhöhung in die Hand nehmen müsste, dann übersetzt sich die Erhöhung des ISR längerfristig zu einer fast eins zu eins erhöhten Wirtschaftsleistung.

Im Einklang mit dem Vorschlag des Berichts verabschiedete das Parlament im Oktober 2020 ein Gesetz, das eine schrittweise Erhöhung der ISR von 500 auf 1200 RON in den nächsten 3 Jahren (2021-2023) vorsieht: Gemäß dem Gesetz würde der ISR ab Januar 2021 um 40%, im Januar 2022 um weitere 30% und schließlich im Januar 2023, um weitere 30% erhöht, bis er 1200 RON beträgt. Das Problem: Die Regierung war von Anfang an gegen das Gesetz, und nachdem es vom Parlament verabschiedet worden war, hat die PNL es beim Verfassungsgericht angefochten. Dieses wird voraussichtlich Ende November über die Beschwerde entscheiden. Ein weiterer Schwerpunkt wird im Bericht neben dem ISR auf Konditionen und Umsetzung von Sozialleistungen gelegt. Hier bemängelt der Bericht, dass viele Sozialleistungen strukturell nach einem „one size fits all“-Ansatz funktionieren, der nicht auf die Bedürfnisse von benachteiligten Gruppen zugeschnitten ist: So sind beispielsweise Sozialleistungen für Kinder daran gekoppelt, dass diese während des Schuljahres nicht mehr als 20 Fehltage vorweisen. Dies ignoriert jedoch die Schwierigkeiten, mit denen von Armut betroffene Familien in besonders ruralen Regionen Rumäniens konfrontiert sind, oftmals Angehörige von Roma-Gemeinden. Sind diese finanziell nicht in der Lage, einen durchgehenden Schulbesuch zu ermöglichen, versiegen auch die nötigen Hilfeleistungen. Weiterhin steigen gewisse Familienzuschüsse zwar pro Kind, doch diese Steigerungen hören bei vier Kindern auf. So entsteht eine institutionelle Schlechterstellung von Familien mit fünf oder mehr Kindern und stellt im Vergleich zu umgebenden Ländern wie Polen oder Ungarn eine Ausnahme dar.

So lautet das Fazit des Berichts, dass das rumänische Sozialsystem in vielerlei Aspekten sich das Prädikat ‚sozial‘ noch verdienen muss. Die Erhöhung von populären Leistungen, die den breiten Bevölkerungsteilen und insbesondere der Mittelschicht zu Gute kommen, verdeckt die Tatsache, dass soziale Sicherungssysteme bei besonders gefährdeten, marginalisierten und von Armut betroffenen Bevölkerungsteilen in den letzten Jahrzehnten konstant vernachlässigt wurden. In diesen Bereichen führt Rumänien oftmals traurigerweise die Statistiken an. Dies ist nicht nur im gesamteuropäischen Durchschnitt der Fall, sondern auch in regionalen Vergleichen. Abschließend betont die Koordinatorin Victoria Stoiciu, dass der politische Wille zur Verbesserung der weniger sichtbaren Bereiche des Sozialsystems bei keiner der bisherigen Regierungen vorhanden war. Die Erhöhung des IRS, welche am morgigen 25. November erneut verhandelt wird, kann hier bestenfalls nur einen ersten Schritt darstellen.