Winzigst – und doch ganz groß!

Ein selbstgebautes Mini-Eigenheim half Erika, ihr Leben von Grund auf zu verändern

Der „Sunchaser“, umgeben von der malerischen Seenlandschaft der Finger Lakes in New York Fotos: www.thetinysunchaser.com

Erika Guli

Gut zwei Jahre baute Erika an ihrem Haus. 35.000 US-Dollar gab sie dafür aus, davon 9000 allein für den Trailer.

Küche und Bad: Als Duschwanne dient ein Zinkbottich.

Zwei Schlaf-Lofts unter dem Dach – da können auch mal Gäste über Nacht bleiben.

Ein Heim, so klein wie ein Schneckenhaus. Manchmal zum Mitnehmen, auf Rädern. Es bietet Raum zum Schlafen, Kochen, Relaxen – nicht mehr. Jeder Zentimeter ist minutiös geplant. Weil für Treppen, Badezimmer oder Stauräume kaum Platz bleibt, müssen raffinierte Lösungen gefunden werden. Wer einmal die Idee des Downsizing, des bewussten Konsumverzichts der Umwelt zuliebe, für sich entdeckt hat, kann nicht anders, als von der internationalen „Tiny-House“- Bewegung fasziniert zu sein! Ein Winzighaus bietet auf kleinstem Raum Schutz und Gemütlichkeit, der Rest spielt sich draußen in der Natur ab. Doch wer sich jetzt einen nüchternen, engen Wohncontainer vorstellt, liegt völlig daneben. Tiny-Häuser versprühen Individualität und künstlerischen Charme, unterstreichen Lebensphilosophien oder Ästhetikempfinden ihrer Besitzer. Wie der „Sunchaser“ der 34-jährigen Erika Guli aus New York.

Motive, sich ein Mini-Eigenheim zu bauen, gibt es viele. Für manche ist es Geldsparen oder gar finanzielle Not. Andere lockt die Möglichkeit, energetisch unabhängig mitten in der Wildnis zu leben. Wiederum andere müssen Prioritäten setzen: Tausche Größe gegen Extras oder Komfort. Eine australische Familie, vorgestellt auf YouTube, hat sich zu ihrem Winzighäuschen eine luxuriöse Pool-Landschaft geleistet , weil man bei der Hitze sowieso immer nur im Wasser sein will. Und: Steht das „Tiny House“ auf Rädern, braucht man in vielen Ländern keine Steuern dafür zahlen, verrät Erika, die seit vier Jahren in ihrem „Sunchaser“ lebt, einem charmanten Holzhaus auf einem Trailer, geparkt auf dem Grundstück ihrer Eltern in der zauberhaften Landschaft der Finger Lakes im Norden des US-Staats New York. Ringsum Natur pur. Freier Blick auf den See. Keine Miete, keine Steuern.

Nachdem die alleinstehende Erika sich für diese Lebensform entschieden hatte, konnte sie ihren Studienkredit rasch abzahlen und bald darauf ihren ungeliebten Job in der Retail-Branche kündigen. „Ich betrachtete mich immer als Outdoor-Person, aber mein Leben spiegelte das nicht wider“, beschreibt sie die letzten 15 Jahre ihrer Karriere. Heute kann sie sich erlauben, einem weniger „geldigen“ Job nachzugehen, der ihr wirklich Spaß macht. Erika ist begeisterte Bergsteigerin und managt mit Freunden ihren Kletterclub. Endlich hat sie auch Zeit zum Reiten und Reisen. Ihr glückliches Tiny-House-Leben betrachtet sie dennoch als Übergangsphase. Irgendwann will sie sich ein richtiges Haus kaufen, wo man auch mit  Familie wohnen kann, und ihr selbstgebautes Schneckenhäuschen auf Rädern mitnehmen und vermieten.

Freiheit und Kreativität

Den meisten Winzighaus-Besitzern geht es ähnlich wie Erika. Trotz bescheidener Mittel wollen sie unabhängig sein und in den eigenen vier Wänden leben, ohne jahrelang Kredite abzuzahlen. Die meisten haben ihr Tiny-House selbst gebaut, oft auf abenteuerliche Weise. Aus Lehm oder Holz, aus Recycling-Materialien, in einem alten Bus, Eisenbahnwaggon oder Schiffscontainer. Manchmal sogar mit Mauern aus Autoreifen, tief in die Erde versenkt: „Earthship“ (Erdschiff) nennt sich diese Variante.  Als „tiny“ gilt alles unter 37 Quadratmetern.

Minimalistisch sind allerdings die wenigsten Tiny-Häuser. Die Platznot erfordert raffinierte Lösungen, die dem Bastler einiges Können abverlangen: Hängebetten oder Schlaf-Lofts unter dem Dach, begehbar über ein treppenförmiges Regalsystem, unter dem auch der Kühlschrank Platz findet; die supergeräumige Bettlade, die den fehlenden Schrank ersetzt. Das Badezimmer mit Trockentoilette. Kaufen kann man so etwas nicht, auch Erika hat ihres selbst gebaut. Der Inhalt, zu dem auch Küchenabfälle hinzukommen, landet auf dem Kompost, damit werden die Blumen auf dem Anwesen gedüngt. Weil das Abwasserrohr einfach in den Boden führt, verwendet sie zum Spülen und Waschen nur Bio-Produkte.

Meist verbinden in Mini-Häusern unzählige Fenster den Wohnraum mit der Außenwelt, damit kein Engegefühl aufkommt. „Ich bin überall immer am Fenster, weiß immer, was draußen passiert, deshalb habe ich auch auf Vorhänge verzichtet“, schwärmt Erika. Bei Unwetter verankert sie den Trailer an einem riesigen Baum. „Wenn der Regen herunterprasselt, ringsum Blitze, und der Wind so richtig heftig bläst, fühlt man sich wie in einem Boot im Sturm. Es ist ein bisschen schaurig, aber meistens eher großartig!“

Bewohnbares Kunstwerk

Neben ihrer extremen Zweckmäßigkeit bestechen die meisten Tiny-Häuser durch ihr individuelles Design. Das Haus wird zum erweiterten Ich, es spiegelt die Persönlichkeit des Bewohners wider – des Naturliebhabers, des Tüftlers und Bastlers, des kreativen Künstlers. Tiny-Häuser gibt es als Miniaturausgaben von viktorianischen Luxusvillen, als hypermoderne Würfel aus Glas und Stahl, als Hexenhäuschen mit Grasdach. Bewohnbare Kunstwerke.

Auch dem außen schlicht-eleganten „Sunchaser“ sieht man an, dass seine Besitzerin Kunst studiert hat. Landkarten in Türkis und Orange bedecken den Himmel über dem Bett und verleiten zum Träumen von fernen Ländern, ein buntes rundes Fenster bricht das Licht in allen Farben. Ausgesuchte Lampen und Dekorelemente, Bettüberwürfe im Ethno-Stil und dicke Flickenteppiche aus Naturwolle vermitteln Behaglichkeit.
All dies täuscht über die viele Mühe und Aufregung während der Bauphase hinweg: zahllose Fahrten zum Baumarkt, Warten auf Handwerker, Messfehler und verschnittenes Holz verschmerzen, Fehler korrigieren, dann und wann mal Zoff mit dem Vater, der Erika in die Kunst des Handwerkens einwies und selbst kräftig mithalf, die Nerven lagen oft blank. Zusehen, wie schnell der Geldtopf zur Neige geht. „Ich hatte keinen Schimmer, wie teuer Baumaterial ist.“ Vieles hat sie aus geschenkten Materialresten zusammengestöpselt. Und dann zwischendurch immer wieder die unbändige Freude, wenn eine Etappe erfolgreich geschafft war!

Wohin mit dem Kram?

Wie beginnt man, ein Tiny-House zu planen: das Material, die Isolation, Abwasser und Heizung? Wo bewahrt man Schuhe, Bücher, Sportutensilien auf? Was musste sie an Habseligkeiten vorher alles aussortieren? Bittet sie Freunde und Verwandte, ihr keinen Kram zu schenken? Mit solchen Fragen bombardiere ich Erika. Sie wittert einen  gemeinsamen Erfahrungshintergrund: „Andere Journalisten stellen immer die gleichen Fragen.“ Tatsächlich hat sie ihr Haus nach einer Aktion des Sichtens und Ausmistens genau so konzipiert, dass alles wirklich nötige Platz findet. Kaum zu glauben, dass sie 40 Paar Schuhe besitzt! Bücher werden nur noch geliehen. Die Camping- und Sportausrüstung „wohnt“ im Auto. Obwohl das Bewirten von Gästen eine Herausforderung darstellt, tut sie es gerne, vor allem im Sommer auf der Terrasse. In den beiden Schlaf-Lofts können vier Personen übernachten. „Es macht mir Spaß, meinen Freunden zu zeigen, wie man auf engstem Raum leben kann.“ Mittlerweile hat Erika auch Gleichgesinnte kennengelernt und einen eigenen Blog begonnen.

Doch wie kommt man auf die Idee, ein Winzighaus zu bauen? Den Anstoß gab eine Fernsehserie über die Tiny-Bewegung zu einer Zeit, als Erika sich brüsk mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, ihr Leben zu überdenken. Ihre Zwillingsschwester, mit der sie bisher zusammengewohnt hatte, zog zu ihrem Freund. Und sie sah sich mit der Frage konfrontiert, entweder ihr ganzes Gehalt für Miete und das Rückzahlen des Studienkredits auszugeben und sich damit für Jahre an einen ungeliebten Beruf zu binden – oder eine andere Lebensform zu suchen. Ein Tiny-Haus schien eine Möglichkeit, finanziell  auf die Füße zu fallen, trotzdem unabhängig zu sein und auf Lebensqualität nicht zu verzichten. Erika wagte den Sprung ins kalte Wasser: ohne jegliche Erfahrung im Bauen, mit beschränktem Budget und dem Zwang, das einmal begonnene Projekt konsequent durchzuziehen. Genau zwei Jahre hielt sie durch im Management der Firma North Face, dann war sie ihre Schulden los. Endlich frei! Mit ihrem Winzighaus ist Erika über sich selbst hinausgewachsen.