Wir lebten in Klein-Amerika

Ein multikulturelles Bukarest in den 50er Jahren oder wie wir uns an unsere Nachbarn erinnern

Gruppenfoto von einer Abschlussfeier im privaten deutschen Kindergarten der Familie Lay, 1958 | Fotos: Privatarchiv der Textverfasserin

Symbolfoto aus dem Buch „București. Arhitectura și culoare 1989“ von Gheorghe Leahu, Verlag Sport-Turism, 1989

Die Hauptstadt Rumäniens trug in der Vergangenheit viele Spitznamen wie etwa „Stadt von Bucur“, der auf die Gründungslegende des Hirten Bucur hinweist, „Paris des Orients“ oder „Klein-Paris“ in der Vor- und Zwischenkriegszeit, der Blütezeit der architektonischen Entwicklung, und ist in der Gegenwart weltweit als weltbürgerliche, multikulturelle Stadt der Kontraste bekannt. Die Multikulturalität hat zwar eine längere Tradition in Bukarest. Wie sich diese auf Lokalebene in der Vergangenheit widerspiegelte, erkennen wir an den noch bestehenden jüdischen und armenischen Vierteln. Verschiedene Kulturen lebten jedoch nicht getrennt von der rumänischen in Ghettos, sondern in mosaikartigen Gemeinschaften zusammen. Und sie verständigten sich untereinander und halfen sich gegenseitig. Wie dies in den 1950er Jahren aussah, können wir aus ethnografischen Büchern oder von Zeitzeugen erfahren. 

Sonntags beim Mittagessen erzählt meine Mutter ab und zu von den längst vergangenen Zeiten, in denen sich alle Nachbarn kannten, Zeit füreinander hatten, zwei Eier, eine Tasse Mehl oder Öl voneinander borgten und die Kinder ruhig den ganzen Tag vor dem Haus spielen ließen, da kaum ein Auto pro Tag durch unsere Straße fuhr. Damals war meine Mutter nur ein Kindergartenkind. 

Wir stammen aus einer rumänischen Priester- und Philologenfamilie, die in den 1880ern aus der Salzbergwerksstadt Slănic, Kreis Prahova, berufsbedingt nach Bukarest umgesiedelt ist. Das heutige Elternhaus hat unsere Familie 1927 in einem ruhigen Viertel zwischen der Calea Griviței und dem Titulescu-Boulevard gekauft, welcher jeweils eine Station vom Victoria-Platz beziehungsweise vom Nordbahnhof entfernt ist. Die Züge hört man manchmal auch heute noch leise in der Entfernung ihre Pfiffe seufzen. 

Das Viertel ist trotz aller urbanistischer Änderungen des  kommunistischen Regimes, außer seinen Randteilen, bis heute ein Häuserviertel geblieben. Eine menschliche Tragödie entfaltete sich, als die Häuser, die an die Hauptstraßen grenzten, Ende der 50er Jahre zugunsten des Baus entsetzlicher stalinistischer Wohnblocks niedergerissen wurden und die Bewohner umziehen mussten. Dies soll nie in Vergessenheit geraten. Noch die Menschen, unsere Nachbarn, die dort lebten. 

In der Mitte der Straße, auf der wir wohnen, haben sich durch reinen Zufall allerhand multikulturelle Familien – unsere unmittelbaren Nachbarn – angehäuft. Meine Mutter erinnert sich, dass sie in den 1950ern  mit nur anderthalb Jahren einen privaten deutschen Kindergarten gegenüber von unserem Haus besuchte. Das Haus gehörte einem Siebenbürger Sachsen aus Hermannstadt/Sibiu namens Roth, der es an zwei Familien vermietete: Familie Hirra und Familie Lay. 

Familie Hirra lebte in der vorderen Wohnung und bestand aus einer deutsch-jüdischen Frau, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatte, ihrem Mann, einem ungarischen Klavierstimmer, der auch unser Klavier einmal gestimmt hat, und deren Tochter.  

In der hinteren Wohnung lebte die rumäniendeutsche Familie Lay. Der Ehemann, Hans,  und die Schwester von Anni Lay wurden in die UdSSR verschleppt, beide kehrten zurück und die Schwester wanderte sofort nach Hildesheim, Deutschland, aus. Hans und Anni Lay hatten zwei Töchter namens Hildegard ,„Mausi“, die später Biologie an der deutschen Schule, dem heutigen Goethe-Kolleg, unterrichtete, und Hedwiga „Hedi“, eine Germanistikabsolventin, die in den 70er Jahren als Übersetzerin gearbeitet hat.

In den 1950ern gründete Familie Lay einen deutschen Kindergarten. Tante Anni und ihre Mutter, Frau Schuster, arbeiteten gewissenhaft mit den Kleinen. Alle ordnete sich ihren strengen Regeln unter. Dort erlernten die meisten Kinder allgemeine Disziplin und sich nicht von den Trieben, sondern vom Verstand leiten zu lassen. So folgte alles einem strengen Programm, vom Wasser Trinken bis zum Toilettengang. Während des Winters war zur Stärkung des Immunsystems der Verzehr von mit Schmalz bestrichenen und mit fein geschnittener Zwiebel und Knoblauch bestreuten Brötchen eher eine Pflicht als eine Wahl. 

Wie in jedem Kindergarten lernten die Kleinen selbstverständlich Gedichte und Lieder auswendig und für die Abschlussfeier inszenierten sie mithilfe ihrer Lehrerin ein Märchen. Alles konnte Teil einer Lektion werden, sogar die Besuche bei den Großeltern von Tante Lay („Omama“ und „Opapa“) oder von Onkel Franz, die in einer benachbarten Straße beziehungsweise am Ende unserer Straße wohnten.

Der Gottesdienst in der evangelischen Kirche am Weihnachtsabend und die Sommerferien in Rosenau/Râșnov bei einer Freundin der Familie Lay, Frau Rein, waren eine schöne Tradition, die auch meine Mutter halten durfte. 

Familie Rein war einst wohlhabend, sie betrieb zwei Universalläden in Rosenau, die von den Kommunisten konfisziert und verstaatlicht wurden. Ihr L-förmiges Haus mit Hochtor und -zaun durfte sie behalten. Dort gastierte  Anni Lay mit ihrer Familie während des Sommers und meine Mutter durfte mit. Sie bewunderte die schönen langen Blumenreihen im Garten des Hauses, wartete abends ungeduldig, dass der Sohn, Erich Rein, der bei der örtlichen Werkzeugfabrik arbeitete und nach Dienstschluss Forellen im Fluss Rosenau fischte, zurückkehrte und mit ihr spielte – und das allergrößte Vergnügen war, zusammen mit den Töchtern von Anni Lay abends den alleine heimkehrenden Kühen das entsprechende Haustor zu öffnen. Die Mädchen liefen die Straße entlang hinter dem Vieh. Zur ihrer großen Überraschung kannte jede Kuh ihre eigene Adresse und hielt nur vor ihrem Haus an!

Familie Lay wanderte anschließend 1978 nach Hildesheim aus, wo die Schwester von Anni Lay nach der Rückkehr aus Sibirien Wurzeln geschlagen hatte. Annis Mann, Hans, starb kurz danach.

Die beiden Häuser nebenan, rechts und links, gehören der Familie ungarischer Herkunft Bölöni. Diese stammt aus Sankt Martin/Târnăveni, Kreis Muresch, und hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst in Vălenii de Munte, Kreis Prahova, niedergelassen, wo Herr Bölöni als Drucker für den Historiker und ehemaligen Premierminister, Nicolae Iorga, arbeitete. Ihr Sohn, Ștefan, wurde im Haus des Historikers geboren und siedelte mit seinen Eltern, nachdem Nicolae Iorga von den Legionären 1940 ermordet worden war, nach Bukarest um, wo sie das erste Haus von einer jüdischen Familie, die gleich darauf nach Palästina auswanderte, kauften. Ștefan Bölöni heiratete 1966 seine gegenüber lebende Nachbarin, Elena, und gründete zusammen mit ihr eine Züchterei für exotische Fische und ein Tiergeschäft – ein echtes Novum in unserem Stadtteil, in einem zweiten gekauften Haus, rechts von jenem der Familie Lay. 

Die Leidenschaft für exotische Wassertiere und -pflanzen hat Ștefan Bölöni von seinem Mentor, einem rumänischen Pionier in der Zucht exotischer Fische, übernommen und kurz darauf begeisterte sich auch seine Frau Elena oder „Nușa“, wie sie genannt wird, dafür. Ihr Geschäft haben sie 50 Jahre lang betrieben und einhundert Fischarten, darunter 60 selbst gezüchtet, zum Kauf angeboten, zur Freude vieler Kinder. Ihr zum Geschäft entwickeltes Hobby setzte allerdings viel Arbeit und Selbststudium voraus. So wurden sie landesweit bekannt und beteiligten sich an zahlreichen thematischen Messen im Inland und in Sofia, Bulgarien. Auch heute kann die pensionierte geistreiche Elena Bölöni die Gattung und Arten all dieser Fisch- und Pflanzenvariätäten auf Rumänisch und Latein in einem Augenblick nennen! 

Neben ihrem Geschäft hielt Familie Bölöni auch Haustiere: Hunde und Katzen sowie verwaiste oder verletzte Wald- und Meeresschildkröten, sprechende Papageis, Krähen, Möwen, sogar einen verwundeten Storch, der ihnen einmal alle für den Verkauf vorgesehenen Fische auffraß, Leguane, ein Chamäleon, Hamster, Igel bis hin zu einem Affen. 

Als der Makak Miky noch klein war, spielte und schlief er zusammen mit den beiden Kindern der Familie. Wenn jemand den Affen nachmachte, bekam er eine Ohrfeige von Miky. „Einmal schwamm der Affe sorglos hin und her durch das Piranha-Aquarium, als wäre er im Schimmbad gewesen!“ lacht Frau Bölöni Tränen. Der Affe kam unversehrt davon, als hätten ihn die Killerfische gar nicht bemerkt, und starb erst im hohen Alter von 24 Jahren. 

Als Kleinkind besuchte ich einmal die Bölönis mit meinen Eltern und sobald ich eintrat, wies mich eine Stimme raus. Zu meiner Verwirrung hatte mir ein schwarzer sprechender indischer Myna-Vogel in einem perfekt ausgesprochenen Rumänisch „Ieși afară!“ befohlen! 

Heute kümmert sich Elena Bölöni um ihren herrlichen Blumengarten, eine gut versteckte, nur Freunden zugängliche echte Naturoase mitten in der Stadt, um die alte Schildkröte Cleo und um ihren grauen afrikanischen Papagei namens Nicu, der oft seinen und ihren Namen ruft und wegen eines Traumas aus der Zeit bei seinem früheren Herrchen immer morgens flucht. 

Die beiden Kinder und der Enkel der Familie Bölöni sind alle Absolventen der ehemaligen deutschen Schule, des heutigen Goethe-Kollegs, und letzterer studiert – überraschenderweise oder auch nicht – Tiermedizin.

Links nebenan wohnt mit ihrem Mann auch heute die Enkelin der griechischen Familie Fotiadis. Die griechische Sprache ist leider verloren gegangen, nicht aber die freundschaftlichen Beziehungen. Daneben wohnten in einem dreigeschössigen Haus in den 50ern eine Russin im Untergeschoss, Italiener im ersten Stock und eine jüdische Familie, die allmählich nach Palästina auswanderte, im zweiten Stockwerk.

Gegenüber, an der linken Seite unseres Hauses, wohnten im hinteren Teil des Hofes Bulgaren mit dem Familiennamen Andrei. Im vorderen Teil des Hofes lebte Familie Roșianu, die bestand aus einem Mann, der aus dem Kreis Mehedinți stammte und ebenfalls eine Bulgarin heiratete, die von Beruf Forscherin war.  Heute wohnt ihre Nichte im selben, von einer roten Kletterrose und dichtem Efeu umzäunten kleinen Haus. 

Zwei Häuser von ihnen entfernt, wo heute ein zweistöckiges Haus steht, wohnten zwei polnisch-stämmige Schwestern mit dem Familiennamen Lewinski.

Gegenüber davon befindet sich das frisch sanierte Haus, in dem einst die Jansens, zwei Brüder norwegischer Herkunft, wohnten. Einer war Architekt, der andere Zeichner und beide heirateten Rumäninnen. Einer kehrte mit seiner Familie nach Norwegen zurück, der andere blieb in Rumänien.  
An der rechten Seite unseres Hauses befand sich die Wohnung und Werkstatt des Herrn Papp, eines ungarischen Tischlers aus Siebenbürgen, der mit einer Ungarin verheiratet war.

Man könnte die ethnisch vielfältige Gemeinschaft unserer Nachbarschaft aus den 50er Jahren teilweise mit dem Schmelztiegel aus Amerika vergleichen und schlussfolgern, dass die Leute damals friedlich in ihrem eigenen Klein-Amerika mitten in Bukarest lebten.