„Wir werden Hunderte junge Menschen brauchen!“

Historiker Csaba Szabó im Gespräch über Krise, Identität und Aufarbeitung

Csaba Szabó – Schnappschuss in Rom, der Ewigen Stadt der Sieben Hügel Fotos: privat

Vergangenheit mit offenem Geist und wachen Sinnen wahrnehmen und in der Gegenwart verankert sein: Csaba Szabó

Csaba Szabó wurde 1987 in Sathmar/Szatmárnémeti/Satu Mare geboren und hat Geschichte an der Babeș-Bolyai-Universität (UBB) Klausenburg/Kolozsvár/Cluj-Napoca studiert. Er unterrichtet an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt/Nagyszeben/Sibiu (ULBS) und forscht auf den Spezialgebieten Archäologie, Kulturerbe Rumäniens sowie römischer und dakischer Antike. Seine Ausbildung an der UBB hat er um Studienaufenthalte in Erfurt, Rom und dem ungarischen Pécs erweitert. Parallel zu seiner Tätigkeit an der ULBS seit Oktober 2018 betreibt er seit November 2018 Forschungen als Stipendiat des Departements für Religiöse Studien an der Universität Szeged.
Hält man sich verhärtete Bilder der ungarischen Minderheit vor Augen, fällt Csaba Szabó aus der Reihe. Die Zeitschrift „Magyar Szó Online“ (www.maszol.ro) hat schon bereits einmal verweigert, einen von ihm verfassten Artikel zu veröffentlichen. Am Tag nach dem Ungarischen National- und Weltfeiertag (15. März) hat Csaba Szabó von Klaus Philippi gestellte Fragen beantwortet.

 

Historiker werden um Rat gefragt, sooft aus den Reihen der breiten und fachlich nicht ausgebildeten Gesellschaft Fragen nach den Lehren der Vergangenheit aufkommen. Laien finden es sehr spannend zu erfahren, wie man Strömungen von Geschichte griffig auf die Spur kommen kann. Aber mindestens ebenso deutlich, ja gar brennend tönt zurzeit die Frage nach dem, was wir aus der Gegenwart mitnehmen müssen. Wie antwortet ein Historiker deines Jahrgangs, der auch meiner ist, auf so einen Hilferuf? Was können wir in Rumänien aus diesen Wochen und Monaten lernen, wo das Coronavirus unsere Komfortzone arg beschneidet?
Als Historiker sollte man die Rolle desjenigen spielen, der Abstand zur Gegenwart nimmt. Es ist zwar geboten, sie zu analysieren, dabei aber auf starke Beteiligung am Tagesgeschehen, politische Aktivität und Mitarbeit am Fluss der Gegenwart zu verzichten. Denn der Historiker interpretiert menschliche Ereignisse unter dem Gesichtspunkt gegenseitiger Abhängigkeiten und großer Umwälzungen in der Geschichte der Menschheit. Ebenso nötig ist es, die Geschichten einzelner Mikro-Gesellschaften aus der Perspektive von Zeit zu untersuchen. Zeit ist das wichtigste Werkzeug des Historikers.

Ein Historiker, der unsere vertrackte Gegenwart reflektiert, die augenblicklich deckungsgleich mit der COVID-19-Krise ist, muss zweierlei Aspekte bedenken: Zuallererst sollten wir diese Ereignisse nicht als etwas Einmaliges wahrnehmen. Obwohl die Epidemie tatsächlich besorgniserregend ist und es uns strikt abverlangt, medizinisch begründeten Anweisungen zu folgen. Oberste Autorität in Zeiten von Epidemie ist nicht die Politik, sondern die Medizin. Die Wissenschaft. Genau das sollten wir lernen, nämlich den Experten, Forschern, Laboranten und Fachkräften viel höhere Befugnisse einzuräumen, denn sie sind die einzigen Menschen, die alle wissenschaftlich relevanten Fähigkeiten mitbringen und letztlich in so einer Situation wie jetzt auch die Rolle der Autorität auszufüllen haben. Staat, politische Gesellschaft und alle, die einer menschlichen Gesellschaft angehören, verfolgen aktuell, was die Medizin sagt.

Das muss Lektion bleiben: Spezialisten vielfach aufmerksamer zuhören! Jede und jeder von uns ist auf einem anderen Fachgebiet unterwegs, aber im Frühjahr 2020 sind Epidemiologen, Virologen und Mikrobiologen die Anführer der Gesellschaft und oberste Autorität in allen erdenklichen Gesellschaften, gefolgt vom Staatspräsidenten, vom Premierminister, von der Armee und den Institutionen öffentlicher Ordnung. Die nationalen und internationalen Gesundheitsinstitutionen sagen uns, was wir zu tun haben. Spezialisten viel ernster zu nehmen, das wäre einer von zwei Aspekten. Nicht nur, weil sie exakt verstehen, was gegenwärtig passiert, sondern auch, weil sie es vorausgesehen haben.

Es gibt einen wissenschaftlichen Artikel aus dem Jahr 2007, der es ganz klar aufzeigt – fünf Jahre nach der SARS-Epidemie in China 2002 wusste man bereits, dass eine Mutation des 1960 erstmals in China bekannten Coronavirus sich vom Tier auf den Menschen übertragen würde. Dieser Artikel aus dem Jahr 2007 gibt an, dass das mutierte Virus sich wahrscheinlich von wilden Märkten Chinas ausbreiten wird. Auf Englisch werden sie ´wet market´ genannt, nasse Märkte also. Es wäre vorab nützlich gewesen zu wissen, dass es eine große Fülle wissenschaftlicher Literatur zum Thema Coronavirus und Infektions-Ausbruch gibt. Ich bin überzeugt, dass Mediziner des Epidemie-Spezialfaches von dem, was jetzt geschieht, nicht überrascht sind. Für sie stand fest, dass es passieren würde.

In Zukunft werden wir unsere Haltung ändern und der Forschung stärkere Aufmerksamkeit widmen müssen. Da ist an vorderster Stelle jede Staatsführung gefordert. Drei, zwei oder gar nur ein Prozent der Haushaltskasse sind für Forschung und Wissenschaft viel zu wenig! Mindestens fünf oder sechs Prozent für Bildung, Forschung und Wissenschaft! Hier liegt eines der großen Defizite Rumäniens offen.
Der zweite Lern-Aspekt, den die Gegenwart nicht nur für uns Historiker bereithält, ist die Tatsache, dass die Menschheit Hunderte Male durch Epidemien gegangen ist. Die Infektionswelle von heute ist nicht die erste Epidemie und wird leider auch sicher nicht die letzte gewesen sein. In der Vergangenheit hat es viel, viel schlimmere Epidemien gegeben. Marcus Aurelius, der große Philosoph und Kaiser Roms, starb bei Wien an der Pest. Zur Zeit von Kaiser Justinian I. im 6. Jahrhundert n. Chr. grassierte ebenfalls eine Epidemie, an der Millionen Menschen starben. Nach dem Ersten Weltkrieg starben 50 Millionen Menschen an der Spanischen Grippe, und in den 60er Jahren brachte die „Grippe von Hongkong“ mindestens drei Millionen Menschen ums Leben. In den 80er Jahren brach die HIV-Welle aus, die in Rumänien mit seinen 18.000 Opfern – darunter viele Kinder – zur schwersten Epidemie der letzten hundert Jahre wurde, weil man damals in Rumänien nichts von HIV wusste.

Aus historischem Blickwinkel muss die aktuelle COVID-19-Krise relativiert werden. Ja, sie ist sehr, sehr hart und wird schlimme Folgen in der Wirtschaft lostreten, aber sie ist nicht die entsetzlichste Epidemie in der Geschichte der Menschheit und schon gar nicht der letzten hundert Jahre. Sie muss ein wenig relativiert werden, weil Presse und Menschen sich jetzt leicht in die Annahme verirren, man sei in der Apokalypse angelangt. In Europa sind wir nach wie vor privilegiert, denn viele von uns hier auf dem alten Kontinent haben weder Krieg, Krise noch Armut erlebt. Unsere Ausgangslage ist immer noch besser als die von Afrika, Asien oder Lateinamerika. Panik Einzelner ist verständlich. Aber was jetzt alleine zählt, sind Medizin und Wissenschaft.

Was könnte junge Menschen überzeugen, sich für Universitätsausbildung und Berufsleben im Fach Geschichte zu entscheiden? Wir leben schließlich im digitalen Zeitalter des 21. Jahrhunderts, das Papier und Bücher langsam, aber sicher entwerten wird. Warum bleibt Geschichte trotzdem wichtig?
Es braucht Leidenschaft, wie in allen anderen Bereichen auch. Ohne Leidenschaft ist jedes Arbeiten vergeblich. Das ist die Wahrheit, und sie muss gesagt werden: Kommt bitte nicht an die Fakultät für Geschichte, wenn ihr die Aufnahme an eurem Wunschort nicht bestanden habt! Zum Studium von Geschichte muss man sich berufen fühlen.

Im digital und real-wissenschaftlich fortschreitenden Jahrhundert unserer Tage, das bis unlängst unglaublich mobil gewesen ist und voraussichtlich auf ruhigeren Rhythmus umschalten wird, kann man mit Geschichte sehr viel anfangen. Über das Relativieren der Gegenwart habe ich schon einiges gesagt. Der Mensch sieht im Augenblick nur ein Stückchen vom Puzzle, der Historiker aber versucht sich am vollständigen Bild. Darum treten Nuancen auf, weswegen der Historiker in etwa der eigentliche Hüter von Ereignissen ist.

Aber es gibt auch pragmatischere Berufsoptionen, wie beispiels-weise den Kulturtourismus. Rumänien bietet 18.000 archäologische Ausgrabungsstätten, über 700 Museen und mehr als 35.000 Baudenkmäler. Hierfür sind sehr, sehr viele ausgebildete Spezialisten nötig. Leider jedoch sind an vielen Gedenkstätten Personen tätig, die geschichtlich überhaupt nicht ausgebildet sind, und das ist gar nicht gut. Genauso auch die Mehrheit jener, die im Kulturtourismus arbeiten, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Uns steht sehr viel Arbeit im Digitalisieren von Archiven bevor. Rumänien ist eines der letzten europäischen Länder, die noch immer über keine nennenswerte digitale Bibliothek verfügen. Die Digitalisierung von Archiven, Museen und Bibliotheken wird nicht alleine durch Personaländerungen an der Spitze der Einrichtungen unternommen werden können, nein, denn wir werden Hunderte von nachrückenden jungen Menschen brauchen, um diesen Rückstand aufzuholen. Vor allem jetzt in der Krise zeigt sich, wie wichtig es ist, daheim Kultur zu genießen: Museumsbesuche und Theatervorstellungen im virtuellen Modus. Hermannstadt ist eine Ausnahme, wenn wir beispielsweise an das Brukenthalmuseum denken. Auf nationaler Ebene steht Rumänien diesbezüglich sehr schlecht da.

Wie gestaltest Du in Rumänien dein Verhalten als Mediennutzer?
Ich lese regelmäßig die Presse Rumäniens, auch diejenige Ungarns, und halte die Kenntnis der internationalen Presse für genauso wichtig. Heute im Moment der COVID-19-Krise ist es sogar noch heikler als üblich, den unmerklich sprühenden Fake-News zu entgehen. Ich will mich darauf verlassen können, dass alles, was ich dazu lese, von Spezialisten der Medizin verfasst wurde und bedenkenlos für authentisch gehalten werden darf. Mikrobiologie und Epidemiologie sind nicht das Tätigkeitsfeld von Politikern, Bloggern und Geistlichen.

Auch wenn die Krise noch keine lauten Fragen nach Identität aufgeworfen hat, werden sie bald überall zu hören sein. Einige behaupten, Identität sei unveränderliches Erbgut, während andere wiederum befinden, dass Identität konstruiert werden kann und flexibel ist. Wo steht heute die Schnittmenge von Erbschaft und Offenheit, mit der man sich im 21. Jahrhundert zurechtfinden können wird, ohne die Sackgasse fürchten zu müssen?
Über das Thema persönlicher Identität habe ich vor nicht allzu langer Zeit einen Text geschrieben, der in der „Dilema Veche“ erschienen ist (Ausgabe Nr. 833, 6.-12. Februar, Artikel der Überschrift „Maghiar, român, european într-o ]ar˛ imaginar˛“ Anm. d. Red.). Ich bin zwar nicht Anthropologe, aber die Geschichte ist übervoll an Beweisen, dass Menschen viel zu komplexe Gestalten sind, als dass man ihnen singuläre Identitäten zuschreiben könnte. Der Mensch hat zig Identitäten. Morgens sind wir biologische und physiognomische Wesen, viele Menschen sprechen vor dem ersten Schluck Kaffee kein einziges Wort und begrenzen sich auf das unterste Niveau der Maslowschen Bedürfnishierarchie, das leider auch für den Krankenzustand gilt. Identität und Beruf sind meistens gleichgeschaltet: Professor, Journalist, Politiker, Wirtschaftsberater, Unternehmer, und vieles andere mehr. Die persönliche Identität kann Vater, Mutter, Tante, Onkel, Großmutter, Großvater bedeuten, und selbstverständlich gibt es auch religiöse, konfessionelle, kulturelle, muttersprachliche und staatsbürgerliche Identität. Sogar sexuelle Identität ist möglich. Es gibt zig bis Hunderte Identitäts-Optionen, die einander nicht ausschließen.

Die Vergangenheit bietet so viele Beispiele für das, was schiefgehen kann, wenn man einer bestimmten Identität den Vorzug gibt, dass wir uns im 21. Jahrhundert bei Benennung von Identität für das Zwiebelschalen-Prinzip entscheiden müssen. Unsere vielfachen Identitäten koexistieren und sollten davor schützen, Identität monopolisieren zu wollen. Es geht nicht an, Identitäten zu hie-rarchisieren. Niemand ist besser als die Nachbarn, es gibt Hunderte Identitäten, und alle sollen das Recht haben dürfen, bei sich selbst so viele Identitäten zu pflegen, wie sie wollen. Solange man niemanden herabwürdigt, ist alles, was man an sich selbst darstellt, in Ordnung.

Etliche Stimmen rufen heute ihre nostalgischen Sichtweisen verstärkt in den Diskurs Europas hinein. Eine kritikwürdige Taktik, weil Europa nicht sämtliche Auswüchse von Nostalgie simultan in sich aufnehmen kann. Um gemeinsam in die Zukunft gehen zu können, ist es nötig, im eigenen Zuhause reinen Tisch zu machen. Wie viel Entscheidung darf man Verfechtern von Tradition überlassen, ohne dass eventueller Generationsstreit zu ausweglosem Konflikt ausartet?
Bewegungen, die in der Vergangenheit statt in der Gegenwart und Zukunft verankert sind, fassen überall in Europa Fuß. Eine starke Tendenz, die Vergangenheit gerne zum Ideal erhebt. Aber Vergangenheit in kollektiver Erinnerung und Vergangenheit als Element im Gebrauchswortschatz der Fachwelt sind nicht identisch. In der akademischen Welt liegt Vergangenheit auf dem Operationstisch. Zwar operiert der Historiker mit Geschichte, beteiligt sich aber nicht an ihr. Er arbeitet als externer Beobachter, versucht Geschichte so zu verstehen, wie sie sich ereignet hat, und gibt Acht, weder Gefühlen noch persönlichen Interpretationen zu erliegen. Kollektives Bewusstsein macht Geschichte und Vergangenheit zu etwas Persönlichem und Emotionalem. Dann kommen plötzlich Sprüche wie „Ach, es war so schön vor dreißig Jahren“, bis hin zu „Vor hundert Jahren war alles noch in bester Ordnung“.

Fast alle europäischen Kulturen tragen diesen Ansatz in sich. Wir bringen nicht genügend Energie für die Reparatur aktueller Schwierigkeiten auf. Ich meine, die Lösung bestünde darin, uns auf Probleme des Tagesgeschehens zu konzentrieren, was aber auch Aufarbeitung von Traumata der Vergangenheit voraussetzt. Sie werden nicht von selbst verschwinden. Das Sprichwort von der Wunden heilenden Zeit halte ich für absolut falsch und kann mir nicht erklären, wie es Zugang in kollektive Mentalitäten gefunden hat. Hundert bis hundertfünfzig Jahre sind kurze Zeitspannen der Geschichtsschreibung. Als „Longue durée“ gelten Räume von drei- bis vierhundert Jahren, und in vierhundert Jahren wird man wohl auch nicht mehr von Trianon und den Traumata des Ersten und Zweiten Weltkrieges sprechen. Aber wir leben in den für uns greifbaren Grenzen von hundert Jahren und fühlen, dass Traumata sich vererben. Wenn wir Traumata nicht proaktiv aufarbeiten, werden wir jüngst auftretende Probleme nicht verstehen und nostalgische wie separatistische Tendenzen nicht ausbremsen können.

Lösung von Vergangenheit geschieht durch mehr geschichtliche Wiedergutmachung, noch mehr Zusammenarbeit, und Geschichtsprojekte von nationaler bis internationaler Initiative. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, die ihre behütende Pflicht viel stärker wahrnimmt und sich ihrer Traumata in direkter Ehrlichkeit annimmt. Nur so werden wir auch Herausforderungen der Gegenwart bewältigen können.

In Siebenbürgen wird auf Festakten und Vernissagen mit diplomatischer Beteiligung gerne artikuliert, dass alle hier lebenden ethnischen Gemeinschaften seit Jahrhunderten untereinander stets reibungslos kommunizieren. Inwieweit stimmt diese häufig vorgebrachte Information mit der tatsächlichen Realität Siebenbürgens überein? Kann man wirklich behaupten, dass gegenseitige Friedenshaltung alt gewachsen ist? Wäre sie es wirklich, würden sich doch viele Menschen wünschen, in die Vergangenheit zurückzukehren – aber genau das will heute niemand mehr…
Ja, wir hören heute einen Diskurs, der uns sagt, dass Rumänien geeint und europaweit eines von perfekten Beispielen für Minderheiten-Rechte und Multikulturalismus ist. Einerseits können wir da zustimmen. Die Verfassung Rumäniens ist relativ demokratisch und liberal, sie erlaubt Minderheiten genügend Flexibilität. Rumänien hat alle europäischen und internationalen Abkommen unterzeichnet, weil vor dem Beitritt zu NATO und EU keine andere Wahl blieb. Sobald die Umsetzung nationaler und internationaler Vorgaben ansteht, scheitert Rumänien an ihrer praktischen Erfüllung.

Es will nicht in die Köpfe der Leute hinein. Viele meinen, zweisprachige Ortsnamen auf den Schildern im Szeklergebiet seien illegal, obwohl das Verwaltungsgesetz ganz klar festlegt, dass Ortschaften, deren Bevölkerung mindestens zu einem Fünftel Menschen einer Minderheit einschließt, verpflichtet sind, auch die betreffende Sprache auf dem Ortsschild zu verwenden. In Städten, wo weniger als 20 Prozent Minderheiten-Anteile gegeben sind, darf der Lokalrat eigenmächtig darüber abstimmen. Aber die Leute wissen nichts davon, weil uns ein Lehrbuch über die Geschichte der Minderheiten fehlt. Intellektuelle und kulturelle Mischehen sind Ausnahmen innerhalb einer breiten Masse, die von Minderheiten keine Ahnung hat – und Informationslücken führen zu stereotyper Kritik an Klaus Johannis. Die jahrhundertelange Geschichte von Siebenbürger Sachsen, Bana-ter Schwaben und Szeklern ist zu wenig bekannt. So entstehen kleine ethnisch-kulturelle Konflikte, die jedoch von der politischen Klasse provoziert werden und sich von oben nach unten ausbreiten. Der elitäre Ursprung solcher Konflikte ist zumeist politischer Art, wird ganz selten aber auch akademisch in die Gesellschaft eingeflößt. Gegensteuerung erfordert Bildung und intensivere Kommunikation der Minderheiten zueinander. Schöne Worte sind nett, können aber das Ausdiskutieren tiefgründiger Spannungen nicht ersetzen.

Dein Artikel „Paradigme privind minoritățile“, der im Herbst 2019 in der „Dilema Veche“ Nr. 814 veröffentlicht wurde, schließt folgendermaßen: „Mittels solcher Maßnahmen würden wir einan-der tatsächlich kennenlernen und uns Toleranz aneignen können. Kennenlernen bedeutet Macht, aber Politik scheut das Kennenlernen, weil Politik nicht das Akzentuieren von Diversität und Komplexität, sondern eine vereinfachte, verallgemeinernde und auf Skandalen beruhende Gegensätzlichkeit bezweckt. Wir wollen keine solche Politik mehr, verweigern aber auch dem Verneinen der Realität unsere Unterstützung“ – welche Realität ist da gemeint?
Im kollektiven Bewusstsein ist Siebenbürgen noch immer ein Dilemma. Es ist vielen nicht bekannt, vor allem denen nicht, die im Süden und in ethnisch einheitlichen Gebieten Rumäniens leben und Siebenbürgen nicht besucht haben. Deswegen haben sie auch nicht mit den hier wohnenden Ungarn, Rumänen, Sachsen, Juden, Roma und Armeniern Gespräche geführt, und wenige unter ihnen haben jemals etwas von der Geschichte Siebenbürgens gelesen. Gemischte Wortschätze, ein ungewöhnlicher Sprachakzent von Rumänen aus der Maramuresch, Sathmar und der Gegend um Zillenmarkt/Zal˛u, kulturelle Interferenzen und gemeinsame Lebensgeschichte von Rumänen, Ungarn und Deutschen sind vielen Menschen unbekannt. Dass unsere Besucher wie auch wir selbst nicht genug davon wissen, ist ein Problem. Wir haben mehr gemeinsam als uns unterscheidet. Leider jedoch sind weder die Geschichtsschreibung, das allgemeine Narrativ in der Politik noch die Presse von Vorteil, da wir meist nur auf Unterschiede aufmerksam gemacht werden. Rumänische Geschichtsschreibung spricht von langem Leiden seit dem Mittelalter, das im 20. Jahrhundert endlich durch Ruhm und selbstverständliche Staatlichkeit abgelöst wurde. Ein Wechsel von Märtyrertum zu Legitimität, also eine sentimentale Geschichte von Extremen, die keine Nuancen erlauben. Dabei waren ungarische Leibeigene im Mittelalter nicht besser dran als ihre rumänischen Mitleidenden; Unterschiede sind erst aus dem 18. Jahrhundert bekannt. Oft werden Österreich-Ungarn und die Geschichte Siebenbürgens gleichgesetzt, obwohl wir uns darauf berufen, dass Österreich-Ungarn nur den kurzen Zeitraum 1867-1918 umfasst.

Kulturelle Vielfalt ist reicher als öffentlicher Diskurs. Wer Monografien sucht, kann welche auftreiben, dem breiten Publikum aber bleiben sie verborgen. Unsere Vision von Siebenbürgen sollte deutlich enger an die realen Quellen statt an das Narrativ des Leidens anschließen. Da haben wir noch viel zu tun, Rumänen wie Ungarn.

Oliver Jens Schmitt wagt in seinem Buch „Căpitan Codreanu. Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers“ (Paul Zsolnay Verlag Wien, 2016) einen mutigen Interpretationsansatz (Seiten 17 und 18): „Nach 1918 war das neue Groß-Rumänien von mehrfachen strukturellen tektonischen Linien durchzogen. Das zuvor ethnisch relativ homogene Altreich wies nun (…) beinahe dreißig Prozent ethnische Minderheiten auf (…), von denen viele aufgrund jahrhundertealter imperialer Traditionen politisch und gesellschaftlich über den Rumänen gestanden hatten und sich mit ihrer Rolle als Minderheit nur mühsam oder gar nicht abfanden, während Minderwertigkeitsgefühle und die Unsicherheit, ob Rumänien als Nachfolgestaat großer Imperien wirklich Bestand haben würde, den rumänischen Nationalismus befeuerten“. Historikerin Ruth Leiserowitz hat 2008 das Buch „Die unbekannten Nachbarn. Minderheiten in Ost-europa“ herausgegeben (Ch. Links Verlag, Berlin), worin sie im Vorwort vermerkt: „Hier haben sich kulturelle Hierarchien verschoben oder ihre Bedeutung eingebüßt. Dafür werden andere Räume wirksam“. Welches Reflektieren verhindert, dass Diversität zu Diversion oder letztlich Segregation mutiert?
Rumänien hatte wirklich ein echtes Problem nach der Großen Vereinigung. 1925 hat Iuliu Maniu in einem Pamphlet Bezug auf das sogenannte „Problem der Minderheiten“ genommen und darin den politischen Konsens resümiert, den die Verfassung Rumäniens zwei Jahre zuvor ausgerufen hatte, gleichzeitig aber spricht sein Text von dem schieren Gegenteil dessen, wofür Br˛tianu und die Bu-karester Politiker eintraten, die ein Siebenbürgen ohne Siebenbürger und quasi den totalen Einheitsstaat errichten wollten, der jedoch mit der Realität unvereinbar war. Herren vom Format eines Iuliu Maniu und Emanoil Gojdu strebten dem Ideal humaner Politik von Zusammenarbeit nach, die keine Revanche fördern sollte; Maniu wollte verhindern, dass den Minderheiten das widerfährt, was die Rumänen in der österreichisch-ungarischen Epoche erlitten hatten. Dass die Politik des beschützenden Staates fehlschlug, liegt nicht nur an Rumänien, sondern auch am antisemitisch-rassistischen Zeitgeist der damaligen 30er-Jahre. Leider wurde das Problem auch später nicht gelöst. Ceau{escu, dessen Nationalkommunismus gar noch stärker als die Legionärs-Bewegung war, akzentuierte alle Gegensätzlichkeit zusätzlich.

Rumänien hat es noch nicht fertig gebracht, die multikulturelle Vision zum „brand“ (englisch für „Marke“) zu erheben. Vielfalt könnte noch positiver genutzt und programmatisch verstärkt im Kulturtourismus verankert werden. Uns würde ein Land nützen, das seine Geschichte verantwortlich annimmt.

Welche Schritte, die von den Minderheiten Rumäniens noch nicht unternommen wurden, könnten Gesellschaft und Staat helfen, sich dem europäischen Geist der Gegenwart und Zukunft noch hilfreicher als bislang anzuschließen?
Rumänien und Europa brauchen eine Vision des Nicht-Hierarchisierens kultureller, politischer und persönlicher Identitäten. Der Rumäne steht nicht über dem Ungarn, der Ungar nicht über dem Rumänen, und der Deutsche nicht über allen anderen. Humaner Ansatz führt Diversität als Plus. Wir brauchen ihn nicht nur mündlich, sondern auch faktisch. Aufarbeitung von Traumata, Zusammenarbeit, unangenehme Diskussionen, die aber dringend nötig sind – ohne all dies werden wir keine Gesellschaft bauen, in der jeder den anderen vorbehaltlos akzeptiert. Es gibt bereits lobenswerte Tendenzen, die jungen Generationen bahnen sich gute Wege, aber wir haben noch viel zu tun.