WORT ZUM SONNTAG: Straßenbauer der Liebe

Wir haben gute Straßen notwendig. Nur auf solchen Straßen ist der schnelle Austausch von Waren und die Begegnung von Menschen möglich. Aber wir haben nicht nur Straßen von Ort zu Ort notwendig, sondern auch Straßen von Herzen zu Herzen. Die beste Straße von Herz zu Herz ist die Straße der Liebe. Wer wollte auf die Liebe verzichten? Auf vieles können wir leichter verzichten als auf die Liebe. Verlieren wir Reichtum, Macht, Ehre und Ansehen, so ist das natürlich sehr schwer zu ertragen. Aber ungeliebt durchs ganze Leben zu gehen, ist der schwerste Kreuzweg. Eine Bedingung aber haben wir: Die Liebe muss echt sein!
Der Schriftsteller Albert Reinecke schildert in seinem Buch „Die wahre Liebe“ das tragische Schicksal des Malers Ambrosius. Er hatte schon alles Erdenkliche gemalt, nur eines wollte ihm nicht gelingen – was wahre Liebe ist. Er glaubte, die wahre Liebe in seiner Braut gefunden zu haben. So gab er dem Bild der Liebe den ersten Preis. Bald aber geschah es, dass er eine große Enttäuschung in seiner Liebe erleben musste. Seine Braut wurde ihm treulos. Da ging er eilends in die Kunstausstellung, in der sein Bild ausgestellt war, und zerriss es mit eigener Hand. Wie ein Wahnsinniger lief er durch die Straßen der Stadt und rief: „Ich suche die wahre Liebe!“

Lange hörte man nichts mehr von dem enttäuschten Maler. Er wurde alt und grau. Eines Tages fand man ihn in seinem Atelier vor einem großen Gemälde tot auf. Das Bild stellte in ergreifender Weise die Kreuzigung Christi dar. Das Ergreifendste waren die Augen Christi, die, von Todesschatten schon umflort, voll unendlicher Güte den flehenden Blick zum Himmel erhoben. Mit letzter Kraft hatte der Maler unter das Bild die Worte geschrieben: „Die wahre Liebe!“
Wenn wir die wahre Liebe suchen, die echt, beständig, treu in allen Lebenslagen uns umhegt, so kann das nur eine sein: Die Liebe Gottes! In Christus hat sie sich uns offenbart. Du kannst arm sein, dein Antlitz von Sorgen und Leid gezeichnet, der Zauber der Jugend, Kraft und Schönheit können entschwunden, du kannst von Menschen kaum beachtet sein und einsam durchs Leben gehen. Er weist dich nicht zurück. Er schaut nicht auf das Äußere. An Ihn kann sich jeder vertrauensvoll wenden, selbst dann, wenn er schwere Schuld auf sich geladen hat. Er will von uns nur eines: Gegenliebe! Wie aber können wir die Liebe Gottes erfahren? Er kommt doch nicht vom Himmel herab, um uns zu umarmen. Die Boten seiner Liebe sind Menschen, durch sie offenbart Er seine Liebe.

In Finnland machte es sich die vornehme junge Frau Mathilde Wrede zur Lebensaufgabe, den Gestrandeten in Gefängnissen die Liebe Gottes erfahren zu lassen. Man nannte sie „Engel der Gefangenen“. In Kakola, dem großen finnischen Zuchthaus, war ein Mann, der zu lebenslanger Haft verurteilt war. Sie hatte ihn wiederholt besucht. Einmal bat er sie, ihm auf kurze Zeit ihre Brosche zu geben. „Was wollen Sie damit?“, fragte Mathilde verwundert. „Fragen Sie nicht! Nach einer Stunde werden Sie Ihre Brosche unbeschädigt zurückbekommen“, war die Antwort. Sie gab ihm die Brosche.
Als sie nach einiger Zeit den Häftling wieder besuchte, überreichte er ihr eine Brosche, die der ihren gleich war, anscheinend aber aus Elfenbein. Überrascht fragte Mathilde: „Woher haben Sie das Elfenbein bekommen?“ „Das ist kein Elfenbein“, war die Antwort. „Vor vielen Monaten fand ich einen Suppenknochen und dachte sogleich: Daraus soll Mathilde eine Brosche haben.“ Mit Tränen in den Augen nahm Mathilde das Geschenk an. Dann sprach der Häftling: „Sie sagten, dass der große Gott auch einen solchen, wie ich bin, erlösen will. Gott hat in seinem Reich auch einen Platz für mich“. Wer von anderen Menschen selbstlose Hilfe erfährt, für den ist es leichter, an die Liebe Gottes zu glauben. Nur aus seiner Quelle fließt selbstlose Liebe ins Menschenherz. Die wertvollsten Straßenbauer der Welt sind die Menschen, die, von der Liebe Gottes erfüllt, diese anderen Menschen mitteilen.