Zeichen, Bilder und geschichtliche Wahrheit

Zum Ableben des Mediävisten Harald Zimmermann

Prof. Dr. Harald Zimmermann auf einer Tagung über den Deutschen Orden im Burzenland im Jahr 2011 in Bad Kissingen Foto: Udo Buhn

Professor Harald Zimmermann ist am 19. März 2020 in der Universitätsstadt Tübingen sanft entschlafen. Er war eine der profilierten Persönlichkeiten des heutigen europäischen Kulturlebens mit einem die Zeiten überdauernden Werk. Er war zugleich eine Persönlichkeit, die sich „stets und so eng wie möglich der siebenbürgischen Heimat seiner Eltern verbunden gefühlt“ hat.

Am 26. September 1926 in Budapest geboren, entstammte Harald Zimmermann einer Familie, die in ganz Siebenbürgen verwurzelt war, gleichermaßen in Henndorf/Brădeni, in Schäßburg/Sighișoara, in Hermannstadt/Sibiu, in Kronstadt/Brașov und in Bistritz/Bistrița. Nach dem Schul- und Gymnasialbesuch in Wien studierte Harald Zimmermann an der dortigen Universität und promovierte zum Doktor der Theologie und der Philosophie (Fachbereich Geschichte). Er wirkte danach an den Universitäten Wien, Saarbrücken und jahrzehntelang an der renommierten Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Dank seiner Forschungen und Publikationen erwarb sich Harald Zimmermann hohes wissenschaftliches Ansehen und stieg, neben Jacques Le Goff, bis zur Spitze der europäischen Mediävistik der Nachkriegszeit auf.

Ich durfte Professor Harald Zimmermann unmittelbar und sehr persönlich kennenlernen. Er hat 1977 den ersten deutsch-rumänischen interuniversitären Kooperationsvertrag der Nachkriegszeit, jenen zwischen der Eberhard-Karls- und der Babeș-Bolyai-Universität angeregt und begleitet. Und er war auch der erste, dem meine Universität nach 1989 ein Ehrendoktorat verliehen hat, auf Vorschlag der Fakultät für Geschichte und Philosophie, deren Dekan ich damals war. Er war bei mir zu Gast in Klausenburg/Cluj und ich war sein Gast in Tübingen, zusammen mit mehreren Kollegen. Zugleich konnte ich während meiner Recherchen in den Bibliotheken Tübingens – wo jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, danach strebt, die Atmosphäre der Zeiten von Hegel und Schelling wiederzufinden –, feststellen, welch außerordentliches Gewicht Zimmermanns Werk hat.
Ein letztes Mal durfte ich mich mit Harald Zimmermann im Jahr 2018 im Vorfeld der Verleihung des Constantin-Brâncoveanu-Preises der Alexandrion-Stiftung in München telefonisch austauschen. Er freute sich darüber, dass ihn aus den Karpaten ein weiteres Zeichen der Wertschätzung erreichte, und dass seine Mittelalter-Monographie Chancen bekommen sollte, ins Rumänische übersetzt zu werden.

Ich bin kein gelernter Historiker, doch habe ich immer begierig seine durchwegs professionell verfassten Werke gelesen, die Grundsteine für das Schreiben der Geschichte Siebenbürgens, Rumäniens, Deutschlands und Europas gelegt haben. Harald Zimmermanns Werke stehen ganz vorne in meiner Bibliothek, als Illustration dessen, was Geschichtsschreibung ist, beziehungsweise sein sollte.

Dabei denke ich an Werke, welche die Darstellung und die Interpretation der europäischen Geschichte verändert haben. Auf „Ekklesia als Objekt der Historiographie“ (1960), ein Buch, das die Thematik der Geschichtsforschung überzeugend erweitert hat, folgte 1975 „Der Canossagang von 1077. Wirkungen und Wirklichkeit“, eine Untersuchung, die umgehend als „Grundlagenwerk“ der Mediävistik eingestuft worden ist.

Einer gewissermaßen journalistischen Fragestellung nachgehend, erarbeitete Harald Zimmermann eine fundierte Monographie über die Verhältnisse innerhalb eines Machtgefüges. Bekanntlich rief Kanzler Bismarck in einer denkwürdigen Sitzung des Reichstags aus: „Nach Canossa gehen wir nicht!“ Bald wurde der Satz zum geflügelten Wort und zum Ausdruck politischer Weisheit. Bismarck wollte den Standpunkt des Kanzlers gegenüber der päpstlichen Macht in einer praktischen Angelegenheit darlegen, nämlich der Ernennung des deutschen Gesandten im Vatikan, und bezog sich dabei auf die Exkommunikation Heinrichs IV. durch Papst Gregor VII. im Jahre 1077 und den anschließenden Bußgang des römisch-deutschen Königs zur Burg Canossa, wo der römische Oberhirte weilte. Der – Maler und Poeten jahrhundertelang inspirierende – Bußgang verschaffte Heinrich IV. eine Atempause, die ihm letztendlich im sogenannten Investiturstreit nur Vorteile einbrachte. Das Thema, nämlich das Verhältnis zwischen den Mächten dieser Welt, war nicht irgendeines.

Harald Zimmerman hat das Momentum Canossa und seine darauf folgenden Verwicklungen, ganz besonders in Italien und Deutschland, meisterhaft rekon-struiert. Er liebäugelte dabei mit der Devise: „Nach Canossa gehen wir nicht, aber wir wollen auch nicht, dass Canossa zu uns kommt.“ Allgemeiner, wie beispielsweise in der italienischen Ausgabe („Canossa 1077. Storia e attualitá“, Reggio Emilia 2007) formuliert, „demonstriert (das Buch) die Aktualität von fernen Ereignissen der mittelalterlichen Geschichte“ (S. 245). Was aufzeigt, würde ich hinzufügen, dass Harald Zimmermann die Vergangenheit stets mit Blick auf die Gegenwart betrachtet hat. 

„Das Papsttum im Mittelalter“ (1981) enthält eine umfassende Chronik der Päpste aus dem 4. bis ins 15. Jahrhundert, die ihn jahrzehntelang beschäftigt hat. Sie gründete unter anderem auf der mustergültigen Edition der „Papsturkunden 896-1046“ in drei Bänden (1984-1989), die nicht zuletzt eine Privataudienz des überzeugten Lutheraners bei Papst Johannes Paul II. zur Folge hatte.

Ich denke aber vor allem an die monumentale Monographie „Das Mittelalter“ (2 Bände, 1986), die ich zunächst gelesen habe, um zu verstehen, was eine mittelalterliche Universität ist. Zimmermann ist es weitgehend zu verdanken, dass wir heute ein anderes Bild vom Mittelalter haben. Er führte kaum widerlegbare Argumente dafür an, dass das Mittelalter das moderne Europa nachhaltig geprägt hat: das Kodifizieren des christlichen Schrifttums und dessen Verbreitung im Namen der Apostel, die Klärung der Grundlagen des Kirchenwesens, die Erarbeitung des Kanonischen Rechts, den Humanismus und die Renaissance, das Bewusstsein von der Einheit unseres Kontinents, die Reformation und vieles mehr. Mit überzeugenden Argumenten plädiert der Autor für die Bedeutung, die das Mittelalter für das Verständnis unserer Gegenwart hat: „Das Mittelalter hat seine eigene Botschaft für die Menschen der Gegenwart.“ (Band 1. S. V). Für Zimmermann ist das „Mittelalter ein vermittelndes Zeitalter“ im Zuge der Formung der modernen Welt. In dieser Monographie, wie übrigens in vielen anderen Arbeiten auch, widersetzt sich Harald Zimmermann einer Interpretation der geschichtlichen Entwicklung, die meint, „dass ihre Darstellung eigentlich jeweils nur mehr oder weniger willkürlich abgebrochen werden kann.“ (Band 2, S. 246). Er fordert die Historiker auf, keine „Bilanz der Erfolge und Misserfolge zu ziehen, sondern die Veränderungen in der Geschichte wiederzugeben“, und zwar kenntnisreich und wahrheitsgetreu.

Ich denke an seine Mitarbeit an dem großartigen, vor bald zwei Jahrhunderten initiierten Quellenwerk „Monumenta Germaniae Historica“, zu dem er zwischen 1994 und 2010 in der Serie „Scriptores“ nicht weniger als sieben Bände und damit Tausende Seiten beigesteuert hat. Durch Transkription, Edition, Kommentare und Anmerkungen hat er die Werke Thomas Ebendorfers, des bedeutendsten Geschichtsschreibers Österreichs aus dem 15. Jahrhundert, für die wissenschaftliche und interessierte Öffentlichkeit erschlossen. Zimmermann trieb dabei auch die Neugierde, wie man im Spätmittelalter dachte und welche Betrachtungen damals über die Welt angestellt worden sind.

Harald Zimmermann ist desgleichen die gründlichste und genaueste Untersuchung eines zentralen Ereignisses der südosteuropäischen Geschichte zu verdanken. Für sein der Klausenburger Universität gewidmetes Buch „Der Deutsche Orden im Burzenland. Eine diplomatische Untersuchung“ (2000, 2. Auflage 2011) hat er alle verfügbaren Quellen zur Geschichte der siebenbürgischen Episode des Ritterordens (1211-1225) zusammengetragen, ediert, interpretiert und damit die Bedeutung der Regionalgeschichte für die gesamteuropäische Geschichte in glänzender Weise deutlich gemacht. Die Initiative einer Territorialbildung des Ordens am Alt/Olt, im Burzenland/}ara Bârsei, interpretiert Zimmermann als einen ersten Versuch des Papsttums, staatliche Strukturen einer ihm direkt unterstellten und doch selbstständig agierenden geistlichen Institution in Europa zu etablieren. Bekanntlich wurde dieser Initiative vom ungarischen König Andreas II. nach kurzer Zeit gewaltsam ein Ende bereitet. Die Ritter zogen weiter und gründeten, auf dieser Erfahrung aufbauend, den machtvollen Deutschordensstaat an der Ostsee. Zimmermann regte in einem Gespräch mit mir an, Rumänien möge diese gesamteuropäisch so wichtige Episode auch touristisch nutzen. Deshalb freute ich mich darüber, dass die Marienburg am Alt/Feldioara restauriert wurde, wenngleich ihn das nun sichtbare Ergebnis wohl kaum erbaut hätte. Doch besteht kein Zweifel: Man kann das Mittelalter nur verstehen, wenn man solche Untersuchungen gelesen hat, wie sie Zimmermann vorgelegt hat!

Harald Zimmermann war es auch sonst stets ein Anliegen, Siebenbürgen im Kontext der europäischen Geschichte darzustellen und ins europäische Bewusstsein zu rücken. Im Sammelband „Siebenbürgen und seine Hospites Theutonici“ (1996) wurden seine wichtigsten Studien zur siebenbürgischen Geschichte zusammengefasst. Der Aufsatz „Siebenbürgen in der europäischen Geschichte“ stellt aus meiner Sicht einen Meilenstein dar, denn mit seiner These, erst mit dem Kommen der Siebenbürger Sachsen „gewinne Siebenbürgen Profil im europäischen Rahmen und Anschluss an das Abendland“ (S. 5) muss sich seither jeder seriöse Historiker auseinandersetzen, ob er ihr nun zustimmt oder sie ablehnt. 
Professor Harald Zimmermann hat nicht nur die Wahrnehmung der Region im Karpatenbogen im gesamteuropäischen Kontext intensiviert, sondern auch überzeugend dargelegt, wie viele Persönlichkeiten, Ideen, Erfindungen und wissenschaftlich-technische Errungenschaften aus diesem Raum in die Welt gesetzt worden sind (beispielsweise in seinem Beitrag „Berühmte Siebenbürger Sachsen in Wien“, S. 294-299).

Das letzte Buch, das mir Harald Zimmermann zugesandt hat, nennt sich „Zeitbuch. Autobiographische Aufzeichnungen eines Hermannstädter Archivars 1875-1925“ (2013). Er edierte hier, mit gewohnter Akribie und wertvollen Anmerkungen, das Tagebuch seines Großonkels Franz Zimmermann, des ersten für diesen Beruf am renommierten Österrei-chischen Institut für Geschichtsforschung in Wien ausgebildeten siebenbürgischen Archivars. Franz Zimmermann legte Wert auf moderne, quellengestützte Geschichtsforschung und initiierte das wertvolle „Urkundenbuch zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen“ (1892-1991). Bereitwillig lieferte er rumänischen Historikern ein umfassendes Quellenmaterial und war enttäuscht, dass diese seine Hilfe in ihren Publikationen nicht erwähnten und auch nicht daran gedacht haben, die zeitintensiven Abschriften in irgendeiner Weise zu honorieren (S. 148).

Harald Zimmermann hat auf vielfältige Weise die Geschichte seiner Vorfahren rekonstruiert, im Bewusstsein, dass ihre Lebensformen, ihre Ansichten, Wertvorstellungen und Überzeugungen es wert sind, allgemein bekannt zu werden. Er sah sich als ein Teil von ihnen, als Wahrer und Weiterführer ihrer Traditionen, ihres Suchens, ihrer rationalen Selbstverwaltung, ihrer Redlichkeit. Harald Zimmermann verkörperte in gewisser Weise eine patrizische Ethik der Sorge um Wahrhaftigkeit, Ehre und persönliche Integrität, die man in der heutigen Welt leider allzu sehr vermisst.

Harald Zimmermann trat stets für eine ideologiefreie Geschichtsschreibung ein. Er wollte, wie es bereits Leopold von Ranke gefordert hatte, aufzeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“, korrekt und quellenbasiert darstellen, wie geschichtliche Ereignisse und Entwicklungen abgelaufen sind und miteinander zusammenhängen. Wie er mir einst anvertraute, hat er sich stets der Qualität verschrieben, wollte er Geschichte lebendig machen, das Neue und den zivilisatorischen Fortschritt in den jeweiligen Zeitläuften erkennen und vermitteln. 

Den kultivierten und selbstreflektierenden Historiker Harald Zimmermann störte es, dass die Menschen oft nur Zeichen oder Bilder sehen, statt Situationen und Zusammenhänge sorgfältig zu hinterfragen. Früher habe man besser zwischen Momentaufnahmen und nachwirkenden Entwicklungen unterschieden. Heutzutage aber werde viel zu oft ein Bild, ein Zeichen nur allein für sich betrachtet, was dessen Bedeutsamkeit schmälere und letztlich Geschichtsfälschung fördere.

Harald Zimmermann hat im-mer intensiv geforscht, Zeichen und Bilder hinterfragt, um der historischen Wahrheit zu dienen. Diese Anstrengung hat sich gelohnt, sein Gesamtwerk ist ein Denkmal der Professionalität.

(Übersetzung aus dem Rumänischen: Konrad Gündisch)

Der Philosophieprofessor Dr. Dr. h.c. Andrei Marga war in den Jahren 1993-2004 und 2008-2012 Rektor der Babe{-Bolyai-Universität Klausenburg, außerdem Bildungsminister (1997-2000) und Außenminister (2012) von Rumänien.