Zwischen nationalem Interesse und politischem Ehrgeiz

Das Kulturhaus  „Friedrich Schiller“ in Bukarest ist anlässlich des am 10. Mai begangenen Feiertages der rumänischen Monarchie Gastgeber für den Vortrag „Die Verfassung Großrumäniens – Perspektiven nach einem Jahrhundert seit ihrer Verabschiedung“ am 5. Mai gewesen und hat den Königstag auf diese Weise antizipiert. Mit der Geschichte der Verfassungsentwicklung in Rumänien, dem sozial-politischen Kontext ihrer Entstehung und Verabschiedung, dem damaligen Pressespiegel und dem rechtlichen Gesichtspunkt haben sich Dr. Florian Banu, leitender Berater im Departement für Forschung, Ausstellungen, Bildungsprogramme des Nationalrats für die Erforschung der Unterlagen der Securitate (CNSAS) und Dr. Iuliu Crăcană, leitender Berater im CNSAS, in ihren Vorträgen auseinandergesetzt.

Nach einer kurzen Einführung der Projektleiterin Aurora Fabritius ergriff Dr. Florian Banu als erster das Wort. Seinen Vortrag „Die Verfassung Großrumäniens – zwischen nationalem Interesse und politischem Ehrgeiz“ eröffnete er mit der Erläuterung der lateinischen Herkunft des rumänischen Begriffs „constitu]ie“ (Verfassung), der über die französische Sprache ins Rumänische eindrang. Dr. Banu erwähnte als nächstes die antike Definition der Verfassung, welche dem griechischen Philosophen Aristoteles entstammt. Aristoteles zufolge ist die Verfassung das ordnende Element des Staates in Bezug auf dessen Ziel, auf das Oberhaupt, die Regierungsämter und deren Verteilung.

Während in Europa das Wirken der staatlichen Gewalten schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch ein Grundgesetz geregelt war, sind laut Historiker A. D. Xenopol die ersten Entwürfe einer rumänischen Verfassung auf das Jahr 1822 zurückzuführen, als Vertreter des moldauischen Bürgertums ein entsprechendes Gesuch an den Herrscher Ioan Sandu Sturdza einreichten. Diese Verfassungsentwürfe wurden zwar zu der Zeit nicht angenommen, aber sie zeugen von einer neuen Mentalität der geistigen Elite, die sich noch während des späten Feudalismus in den Rumänischen Fürstentümern Gedanken über die Achtung des Eigentums, die persönliche Freiheit, die Arbeits- und Handelsfreiheit und die Gleichberechtigung vor dem Gesetz machte.

Erstes rumänisches Grundgesetz

Der Wendepunkt kam erst zehn Jahre später durch die unter Druck des Russischen Reichs erfolgte Annahme des Organischen Reglements (rum. Regulamentul Organic) in den Fürstentümern der Moldau und der Walachei. Der Literaturkritiker Eugen Lovinescu äußerte sich apologetisch dazu in seinem Buch „Geschichte der modernen rumänischen Kultur“ und betonte, das Organische Reglement „ruft die erste rumänische Verfassung ins Leben. (…) Dieses sollen wir nicht wegen seiner Unzulänglichkeit gegenüber den Forderungen der neuen revolutionären Generation beurteilen, sondern nach dem positiven Verdienst, dass es so weit wie möglich Legalität, Konstitutionalismus und das repräsentative Regime eingeführt und dem Absolutismus ein Ende gesetzt hat“. Später behaupteten rumänische Revolutionäre, das Organische Reglement basiere weiterhin auf Privilegien, es sei veraltet und ein Hindernis auf dem Weg der Modernisierung des Staates, daher verbrannten sie es symbolisch auf öffentlichen Plätzen bei der Märzrevolution 1848. 

Dr. Banu erwähnte das Übereinkommen von Paris 1858, welches die erstmals gemeinsame Organisation der Donaufürstentümer der Moldau und der Walachei regelte und bis zur Verabschiedung der Verfassung von 1866 unter der Herrschaft des Fürsten Karl I. von Hohenzollern Sigmaringen in Kraft war. 

Eine belgische Entlehnung

Diese neue Verfassung der Vereinigten Fürstentümer galt zu der Zeit als fortgeschritten, liberal und modern, da sie auf einer belgischen Vorlage basierte. Doch treffende zeitgenössische Persönlichkeiten wie etwa der Rechtsanwalt, Literaturkritiker und spätere Premierminister Titu Maiorescu, der Nationaldichter und Journalist Mihai Eminescu, der Soziologe, Ethnologe und spätere Bildungsminister und Präsident der Rumänischen Akademie Dimitrie Gusti, der Historiker Nicolae Iorga u. a. warfen den Gesetzgebern vor, das neue Grundgesetz dem belgischen ohne jegliche Änderungen entlehnt zu haben, und dass es im Fall der vom Westen völlig verschiedenen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lage hierzulande nicht einfach importiert werden konnte. Daher wird die Verfassung von 1866 anschließend zwei Revisionen unterzogen. 

Im Pressespiegel war noch immer die Rede von einem Missverhältnis zwischen dem Gesetz und der sozialen Wirklichkeit in den Rumänischen Fürstentümern. Der Bauernaufstand von 1907 bestätigte dies. 

Infolge dessen sprachen sich Persönlichkeiten wie der konservativ-demokratische Politiker und spätere Premierminister Nicoale Titulescu für eine Aktualisierung der ungeeigneten Verfassung aus, die sich ihm zufolge auf den europäischen Kontext zur Zeit der Französischen Revolution bezog.

Der Präsident der Nationalliberalen Partei (PNL), Ion C. Brătianu, forderte eine  Verfassungsrevision, welche zahlreiche Reformen vorsah. Bald darauf gewannen die Liberalen die Parlamentswahlen 1914 und Brătianu sollte als neuer Premierminister den Vorgang der Verfassungsrevision aufmerksam beobachten. 

Eine umstrittene Verfassung

Die Arbeit an der neuen Verfassung wird für die Dauer des Ersten Weltkriegs unterbrochen. Trotz Kriegsumständen werden das allgemeine Wahlrecht sowie das Recht des Staates auf die partielle Enteignung der Großgrundbesitzer, inklusive der königlichen Familie, um bis zu insgesamt zwei Millionen Hektar Ackerland zur Zuweisung von Grundflächen insbesondere an Bauern ohne Grundbesitz, die im Krieg gekämpft hatten, von nach Jassy/Ia{i geflüchteten Parlamentariern abgestimmt und durch die Erklärung von König Ferdinand 1917 promulgiert. 

Viele Politiker, darunter Alexandru Marghiloman (Konservative Partei) und der spätere Premierminister Ion Gheorghe Duca (PNL), haben heftigen Widerstand gegen diese Maßnahme geleistet und weigerten sich, die Lage des Landes, über das sie regierten, zu verstehen.

Nach Kriegsende äußerten Politiker, Staatsleute und treffende Persönlichkeiten ihre Meinungen, sie formulierten Vorschläge und versuchten, zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung beizutragen, die dem Status Quo Großrumäniens möglichst angemessen war.

Zu den bedeutendsten Debatten zählen jene, die vom Rumänischen Sozialinstitut organisiert wurden. In diesem Rahmen hob Dimitrie Gusti hervor, die reformierte Verfassung solle „nichts neu schaffen und erfinden, sondern nur die Sozialpsychologie, den Wirtschaftszustand, die gewünschte soziale Gerechtigkeit und die ethischen Bestrebungen der Nation politisch und juristisch formulieren“.

Im gleichen Sinne wies Constantin Stere, Professor für Völkerrecht und Theoretiker der Bauernpartei (PNȚ), darauf hin, dass es keinen „idealen“ Verfassungstext geben könne, der „für alle Länder und alle Zeiten allgemein“ geeignet sei. Er bekräftigte noch, dass „die verabscheuungswürdigste Verfassung diejenige sei, die durch den Machtmissbrauch einer Partei auferlegt wird“.

Genau dies ließ sich jedoch nicht vermeiden und heute ist man sich fast einhellig darüber im Klaren, dass die Verfassung von 1923 die unauslöschliche Handschrift der Nationalliberalen Partei trägt.

Weder die Opposition noch die frisch angeschlossenen historischen rumänischen Provinzen Siebenbürgen, Bessarabien und Bukowina wurden bei den Verhandlungen um das neue Grundgesetz miteinbezogen und fühlten sich deswegen ausgegrenzt. Hans Otto Roth, der damalige Vorsitzende der deutschen Fraktion im Parlament Rumäniens, äußerte seine Befürchtungen bezüglich der Vertretung der Minderheitenrechte im rumänischen Grundgesetz im Vergleich zu anderen europäischen Verfassungen.

Nach einem langwierigen Vorgang, der auf Widerstand von der Opposition stieß und der nicht ohne Proteste und gewaltsame Zwischenfälle im Parlament verlief, wurde das umstrittene Grundgesetz, in der avantgardistischen Zeitschrift „Contimporanul“ („Der Zeitgenosse“) ironisch „lustige Verfassung“ genannt, 1923 endlich verabschiedet und von König Ferdinand promulgiert.  

Rechtliche Analyse

Dr. Iuliu Crăcană fuhr mit Erläuterungen aus einem rechtlichen Gesichtspunkt fort. „Die Verfassung von 1923 gilt als Höhepunkt einer über hundertjährigen Verfassungsentwicklung und stellt einen Meilenstein des rumänischen Konstitutionalismus dar“, eröffnete dieser seinen Vortrag. Er unterstrich dabei, dass die Erforschung ihrer rechtlichen Merkmale wichtig sei, um ihre Rolle bei der Vereinheitlichung des Rechtssystems nach der Vereinigung der rumänischen Fürstentümer und Provinzen zu verstehen.

Vom Aufbau her gründet auch die Verfassung von 1923 auf das ursprüngliche Muster des belgischen Grundgesetzes, weil dieses seine Verlässlichkeit im Laufe der Zeit erwiesen hatte.  Zu den Neuerungen zählen die Etablierung der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und die Gewaltenteilung im Staat. Darüber hinaus wurde auf Initiative von Nicolae Iorga der Begriff „einheitlicher Nationalstaat“ im Grundgesetz eingeführt und die Perspektive über Eigentum verändert, das eine soziale Funktion erhält. Dies ermöglichte die partielle Enteignung der Großgrundbesitzer zugunsten der Bauern. Außerdem gingen Bergbauvorkommen und Lagerstätten in Staatseigentum über.

Gleichzeitig eröffnete die Verfassung von 1923 die Perspektive politischer Rechte für Frauen, erweiterte aber auch die Grundrechte und Grundfreiheiten der „Rumänen“, wie sie in der Verfassung von 1866 vorgesehen waren, angesichts der Minderheitenrechte, auf „Rumänen, ungeachtet der ethnischen Herkunft, Sprache oder Religion“. 

Ein Jahrhundert nach ihrer Verabschiedung löst die Verfassung von 1923 noch immer gemischte Reaktionen aus, die von der Idealisierung bis zur Kritik reichen.