Besuch am Ort der Stille und der Trauer

In Auschwitz erzählt jeder Gegenstand eine Geschichte von Leid und Tod

Die Aufschrift „Arbeit macht frei“ am Eingang in das Stammlager

Die Endhaltestelle in Auschwitz-Birkenau. Für die meisten war es auch die Endstation ihres Lebens.

Die Auschwitz-Häftlinge waren unvorstellbar mager – aus diesem Grund starben viele. Dokumentationsfotos in Auschwitz I.
Fotos: Raluca Nelepcu

Ein rauher Wind streicht durch die Äste, die Kälte kriecht einem in die Knochen, aber da, wo man gerade steht, beklagt man sich über gar nichts. Aus Respekt tut man es einfach nicht. Es ist ein Ort der Stille, des Erinnern und Gedenkens, ein Ort, den man einmal im Leben gesehen haben muss. Nur dann kann man versuchen, zu verstehen, was damals geschehen ist. Man kann sich zwar ein Bild von den grausamen Ereignissen aus der Vergangenheit machen, aber begreifen kann man Auschwitz nicht. Der Ort, an dem 1,5 Millionen Menschenleben in Luft aufgelöst wurden, zieht jährlich Tausende Besucher aus der ganzen Welt an. Auf ihren Lippen schwebt nach dem Rundgang eine einzige Frage: Warum?

Was beginnend mit 1940 fünf Jahre lang den grausamsten Vernichtungsmechanismus der Welt beherbergte, ist heute eine Gedenkstätte. Eine Gedenkstätte, die mit keinen Mitteln für sich wirbt und trotzdem das meist besuchte Museum der Welt. 1,4 Millionen Touristen strömten letztes Jahr nach Auschwitz, um sich den Ort des Schreckens anzusehen. „Auschwitz ist ein symbolischer Ort. 75 Prozent der Besucher, die im vergangenen Jahr hierherkamen, waren junge Menschen. Vielleicht gibt uns das eine Hoffnung für die Zukunft“, sagt Piotr Cywinski, Direktor der Gedenkstätte „Auschwitz-Birkenau“. 40.000 Besucher aus Südkorea besichtigten die Gedenkstätte 2011, dazu gab es auch viele Touristen aus Indien, Japan und Kanada. Viele von ihnen stellten sich Fragen bezüglich der Konflikte in ihren eigenen Ländern und versuchten, im polnischen Auschwitz eine Antwort darauf zu finden.

„Auschwitz“ bedeutet drei Lager

Das Konzentrationslager Auschwitz, das sogenannte Stammlager, wurde 1940 erbaut. Gegründet wurde es ursprünglich für polnische politische Häftlinge. Der erste Transport mit 728 polnischen politischen Häftlingen aus dem Gefängnis in Tarnów erreichte Auschwitz am 14. Juni 1940. Später begannen die Nazis, Menschen aus ganz Europa hierher zu befördern – die meisten von ihnen waren Juden. Zu Beginn zählte das Lager 20 Gebäude, davon 14 eingeschossige und sechs zweigeschossige Bauten.

In den Jahren 1941-1942 wurden alle eingeschossigen Bauten um je ein Stockwerk erhöht und weitere acht dazu  gebaut. Durchschnittlich 13.000-16.000 Häftlinge kamen im Stammlager unter. Als die Häftlingszahl anstieg, vergrößerte sich auch das Lagergebiet. Das Lager im polnischen Oswiecim – als Auschwitz I bekannt – wurde zum Stammlager für das ganze Netz von neun Lagern.

1941 begann der Bau von Auschwitz II-Birkenau, ein Jahr später errichtete man das Lager Auschwitz III-Monowitz auf dem Fabriksgelände der IG-Farbenwerke. Wenn man heute von Auschwitz spricht, meint man also nicht nur ein Lager, sondern insgesamt drei Anlagen.

Ziegelsteinblocks erheben sich beiderseitig an der Lager-Hauptstraße. Darin wohnten vor mehr als 67 Jahren Tausende von Häftlingen unter den schwierigsten Bedingungen. In das Lager führt ein riesiges Metalltor mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“, durch das die Häftlinge jeden Tag zur Arbeit auszogen. Nicht alle kehrten zurück, denn die Arbeit war erschöpfend und die Körper geschwächt.

Die Toten wurden zurück ins Lager geschleppt, denn die Zahl der Häftlinge, die das Lager verließen und wieder betraten, musste stimmen. Heute steht über dem Tor nicht mehr das echte „Arbeit macht frei“-Schild. Das Original wurde 2009 gestohlen und wieder gefunden, doch aus Sicherheitsgründen nicht wieder über dem Tor angebracht. Neben der Lagerküche befand sich das Lagerorchester, das beim Durchgang der Häftlinge durch das riesige Tor hauptsächlich Märsche spielte. Im Rhythmus der Musik konnten die SS-Männer die Inhaftierten leichter zählen.

Gedenken an die Opfer

Die Nazis hatten versucht, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen und die Lager in die Luft zu sprengen, doch es gelang ihnen nur teilweise. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung der Lager begann eine Gruppe polnischer Häftlinge, die Idee des Gedenkens an die Opfer zu verbreiten.

Sie bewachten die Objekte und Ruinen auf dem Gelände des ehemaligen Lagers – das war die sogenannte „Dauernde Wache des Auschwitzer Lagers“. Sie kümmerten sich um die zahlreichen Angehörigen der ehemaligen Inhaftierten und halfen ihnen, Spuren ihrer Vermissten zu finden. Die erste Ausstellung auf dem Lagergelände wurde am 14. Juni 1947 eröffnet.

Nicht mal einen Monat später erließ das polnische Parlament ein Gesetz über die Bewahrung des Geländes und der Objekte der ehemaligen Lager für alle Zeiten und rief das staatliche Museum Oswiecim-Brzezinka ins Leben. 1999 wurde dieser Name in „Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau“ geändert. Das Museum, das das Stammlager und Auschwitz II-Birkenau umfasst, erstreckt sich auf 191 Hektar. 1979 wurde es auf polnische Initiative hin von der UNESCO auf die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.

Auschwitz ist kein Ort, den man schnell besuchen und mit einigen Eindrücken wieder verlassen kann. Man braucht Zeit, um das, was man gesehen hat, zu verarbeiten. Es sind vor allem die Einzelschicksale, die einen berühren, aber auch das kollektive Schicksal der vielen Menschen, die hier ums Leben gekommen sind. Das Museum besitzt umfangreiche Sammlungen von Gegenständen aus dem Lager sowie Besitztümer der Deportierten und Ermordeten, die auf dem Lagergelände gefunden wurden.

Hinter riesigen Schaufenstern liegen haufenweise Schuhe, Koffer, Töpfe, Prothesen, Kleidungsstücke und Brillen. Sieben Tonnen Haar, das den Häftlingen abgeschnitten wurde, können Reisende hinter einer Glaswand sehen. Aus diesem Haar wurden Teppiche gewoben. Jeder Gegenstand, der in Auschwitz zu sehen ist, erzählt eine andere Geschichte. Und wenn das Haar noch kein Gefühl von Entsetzen geweckt hat, dann sind es ganz bestimmt die leeren Dosen Zyklon B, das für die Massentötung in den Gaskammern eingesetzt wurde. Die Leichen wurden in Krematorien verbrannt – so viele, dass das Feuer in den Öfen rund um die Uhr brannte.

Erinnerung wach halten

Im Stammlager gibt es Häftlingsfotos, Dokumente, aber auch Kunstwerke, die von Überlebenden geschaffen wurden und das Lagerleben illustrieren. Auf den Bildern, die gleich nach der Befreiung des Lagers geschossen wurden, kann man die Menschen betrachten, die überlebt haben: Sie sind alle nur Haut und Knochen. Ein kalter Schauer läuft dem Besucher, der sich diese Fotos anschaut, über den Rücken.

Im ehemaligen Lagerarrest sind noch die Räume und Zellen zu sehen, in denen die Häftlinge untergebracht waren. Im sogenannten „Todesblock“ wurden Menschen inhaftiert, die zum Hungertod verurteilt waren. Hier starb auch Maximilian Maria Kolbe, ein polnischer Priester, der freiwillig den Platz eines zum Hungertod bestimmten Häftlings einnahm. Ebenfalls hier gibt es die Todeswand, vor der die Nazis mehrere Tausend Menschen erschossen haben.

Vom Stammlager gelangen Reisende mit dem Bus nach Auschwitz II - Birkenau, das Vernichtungslager drei Kilometer von Auschwitz I entfernt. Die Rampe, auf der die Häftlinge ankamen, ist bis heute erhalten geblieben. Kein Zug hält mehr in Auschwitz. Vor 70 Jahren wurde auf der Rampe die Selektion durch die SS-Ärzte durchgeführt und ein Teil der Häftlinge direkt zu den Gaskammern geschickt.

Das Gelände von Auschwitz-Birkenau betrug ungefähr 175 Hektar und war mit über 300 Baracken bebaut. Davon haben heute 45 gemauerte und 22 hölzerne Baracken überdauert. Die Mehrheit der Baracken hatte keinen Fußboden, sondern nur festgestampfte Erde, die sich oftmals in Morast verwandelte. Die Holzbaracken waren Pferdeställe für 52 Pferde, in denen aber bis zu 1000 Häftlinge untergebracht waren. Geschlafen wurde auf nackten Holzpritschen.

Am Ende der Ausladerampe befinden sich die Ruinen von zwei Krematorien und Gaskammern, die von den SS-Männern in die Luft gesprengt worden waren, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Dazwischen befindet sich das Internationale Mahnmal zur Ehre der Opfer von Faschismus und Vernichtung in Auschwitz, das im Jahr 1967 feierlich enthüllt wurde.

Kommt man anlässlich des Holocaust-Gedenktages, am 27. Januar, nach Auschwitz, so trifft man hier viele Überlebende des Massakers, das Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg anrichtete. Es ist ergreifend, zu sehen, wie die Leute, die in Auschwitz gelitten haben, an den Ort des Terrors zurückkehren und von dem Leben im Lager berichten. Das Museum Auschwitz-Birkenau ist kein Ort, den man gern besucht, aber einer, den man besuchen muss.

Denn Auschwitz muss in unserer Erinnerung bleiben, genauso wie das „Warum?“, worauf keiner jemals die richtige Antwort haben wird.