Blauer Fixstern im Band der Zeiten

Das Kloster Voronetz zwischen Weltgeschehen und Ewigkeit

Himmlische Bilderflut auch im Naos | Fotos: George Dumitriu

Polyglotte Nonne Elena

Votivbild von Stefan dem Großen und seiner Familie

Westfassade

Jüngstes Gericht, Detail: Aufnahme in den Himmel

Wir schreiben das Jahr 1488. Im dichten Wald der heutigen Bukowina wird an der Stelle, wo zuvor ein einfaches Holzkirchlein stand, an einer steinernen Kirche gebaut. So beschlossen vom Wojwoden der Moldau, Stefan dem Großen, ein Kloster sollte hier entstehen. Ringsum wird fleißig gerodet, werden Steine geklopft, gegraben, Mörtel angerührt. Was der stolze Herrscher und eifrige Kirchenstifter damals nicht wissen konnte: Sie sollte später als „sixtinische Kapelle des Ostens“ und Teil von Rumäniens UNESCO-Weltkulturerbe in die Geschichte eingehen. 

Und mit ihr weitere sieben Klöster und Kirchen der Moldau. Dies ist freilich nicht nur sein Verdienst, denn das geheimnisumwobene Voronetzblau der äußeren Bemalung, das die Klosterkirche unter anderem so berühmt machte, ist erst im 16. Jh. unter seinem Sohn Petru Rareș entstanden... 

Historischer Anker im Weltgefüge

Reisen wir zurück in das Jahr 1488: In nur drei Monaten und drei Wochen, vom 26. Mai bis zum 24. September, wurde das steinerne Monument in einem gigantischen Kraftakt errichtet. Was Stefan wahrscheinlich auch noch nicht wusste, denn die Nachrichten zirkulierten langsam in jener Zeit: Es war auch das Jahr, in dem der portugiesische Seefahrer Bartolomeu Diaz als erster die Südspitze Afrikas umsegelte, das Kap der Guten Hoffnung, auf einer 16 Monate dauernden geheimen Expedition. Es war das Jahr, in dem Jakob IV. König von Schottland wurde, ein 15-jähriger Knabe, dessen Regentschaft ein goldenes Zeitalter einläuten sollte: Unter Jakobs Herrschaft erholte sich das Land von den Kriegen vorangegangener Jahrhunderte. Es war das Jahr, in dem der Grundstein für die bis 1843 existierende grausame spanische Inquisition gelegt wurde, eine mit Genehmigung des Papstes eingerichtete Behörde zur Bekämpfung der Häresie. Als Folge wurden Abertausende Juden und später auch Muslime zwangskonvertiert oder vertrieben – der Beginn eines langen, leidvollen Herumirrens der sephardischen Juden, bis nach Osteuropa. Auch am Hof von Stefan dem Großen sollen zwei jüdische Ärzte und Diplomaten gewirkt haben. Von einem der beiden, Isac-Beg, der 1473 in Suceava ankam, sagte man, er sei „de natione hispanus, fidem antem haebreus“ gewesen. Er mag durchaus mitbekommen haben, was sich da am anderen Ende Europas 1488 zusammenbraute. Er mag es seinem Herrn erzählt haben...

Ob Stefan damals wusste, dass 1488 Anne, die spätere Königin von Frankreich, nach dem Tod ihres Vaters Franz II. Herzogin der Bretagne wurde? Berühmt aus dieser Zeit ist ihr Stundenbuch, aufwändig mit Miniaturen ausgestattet, als Vorlage für das Stundengebet, das nicht nur in römisch-katholischen Kirchen, sondern auch in orthodoxen Klöstern gebetet wurde. Sicher auch in Voronetz ... Es beginnt mit der Andacht zum Sonnenuntergang, dem ersten von acht Gebeten, dem die Meditation über Schlaf und Tod, das Mitternachtsgebet, das Sonnenaufgangsgebet, die Gebete um sechs und neun Uhr und zu Mittag und zuletzt das Drei-Uhr-Nachmittagsgebet folgten, zur Todesstunde Christi.

Vor diesem historischen Anker begannen die Arbeiten an der Klosterkirche von Voronetz in der späteren Bukowina. 

Leuchtkraft in Blau

Auch jetzt geht die Sonne über Voronetz gerade unter. Ob sich die Nonnen gleich zum Stundengebet versammeln? Sie taucht das Fresko des Jüngsten Gerichts in ein sanftes, warmes Licht. Kameras klicken. Maica Elena verweist auf das Jesusbild über dem Eingang. „Er heißt uns als fromme Pilger willkommen und mag uns fragen: Mensch, was hast du mit deinem Leben angefangen? Was hast du für deine Erlösung getan?“ So sieht die polyglotte Touristenführer-Nonne unser Grüppchen. In ihrer Führung konzentriert sie sich auf die spirituelle Botschaft jeder Szene.

Doch das Kloster von Voronetz kann man mit vielerlei Augen betrachten: Etwa mit denen der Restaurateurin Maria Dumbravician, die mit den widersprüchlichen Theorien über den Ursprung der Farben der Außenfresken der Moldauklöster aufräumte (siehe ADZ-Online, 14. November 2015: „Pigmente des Himmels“). So wurde die Kirche von Voronetz eben nicht mit Lapislazulistaub bemalt. „Das wäre viel zu teuer gewesen!“, protestiert sie. Stattdessen verwendete man Azurit, ein blaues Pigment auf Kupferbasis. Doch weil dieses unter Einfluss von Kalk und Feuchtigkeit grün wird – wie im Fall des Klosters von Moldovița offenbar unbeabsichtigt geschehen – hatte man vorher eine Schicht schwarzen Kohlenstaubs auf den frischen Kalkputz aufgebracht. Dies ist das Geheimnis des berühmten Voronetz-Blaus! Die Pigmente für die Fresken mussten auf den noch feuchten Putz aufgetragen werden, wobei der Zeitpunkt der Trocknung entscheidend war. Erwischte man ihn genau richtig, wie hier, schwitzte aus dem Hintergrund Kalziumkarbonat aus. Dieses legt sich wie eine schützende Kruste über die Farbpigmente und fixiert sie.

Am besten kommt das Voronetzblau bei kaltem, feuchtem Wetter zur Geltung. Die ideale Zeit zum Fotografieren ist daher der Winter, wenn vielleicht auch noch Schnee liegt, der die Pigmente durch reflektiertes Sonnenlicht erst recht zum Leuchten bringt. Bei Sonnenuntergang und Trockenheit verwandelt sich das berühmte Blau in wenig spektakuläres Blassgrün, wie hier die Bilder zeigen. 

Seelenreise durch himmlische Bilderflut

Maica Elena interessiert sich wenig für die Nöte des Fotografen. Selbst nach einem langen Tag referiert sie mit Pathos zu jedem einzelnen Detail des Jüngsten Gerichts. Das imWesten gelegene Fresko, das die gesamte Fassade einnimmt, symbolisiert den Eintritt der Seele ins Jenseits. West war schon in der Antike die Himmelsrichtung des Todes. Der Altar hingegen im Osten steht für Sonnenaufgang und Auferstehung. Der Gang durch die Kirche versinnbildlicht den Weg zwischen diesen beiden Ereignissen. Mit dem Eingang in den Pridvor, auch Waffenhaus genannt, weil man annimmt, dass dort die Männer ihre Waffen ablegten, bevor sie das Kirchenschiff betraten, beginnt die Reise durch das Jenseits...

Im Pridvor von Voronetz liegt auch das Grabmal des zweiten Kirchenstifters nach Stefan dem Großen: des Metropoliten der Moldau, Grigorie Roșca, einem großen Theologen des 16. Jahrhunderts. Er hatte 1547 veranlasst, dass die Vorhalle an die Klosterkirche von Voronetz angefügt und innen bunt bemalt wurde. Außerdem ließ er die Klosterkirche auch an den Außenfassaden mit der gesamten orthodoxen Ikonografie ausstatten. Eine künstlerisch überaus wertvolle Arbeit, betont Maica Elena. So darf sich der Besucher nicht wundern, dass Grigorie Roșca auch links neben dem Eingang verewigt ist, direkt neben dem Heiligen Georg und dem Seelsorger des Wojwoden,  Daniil Sihastru. 

Stefan der Große hat dies nicht mehr miterlebt. Doch sein Sohn, Petru Rareș, hörte auf den ungewöhnlichen Rat des Metropoliten, die Kirche außen bemalen zu lassen. Die heimische Freskenkunst hatte damals ihren Höhepunkt erreicht: So wird das einzigartige Voronetz-Blau später dem Rot des flämischen Malers Peter Paul Rubens (1577-1640) oder dem Grün von Paolo Veronese (1528-1588)  gleichgesetzt. 

Zur Zeit Roșcas wurde in Voronetz eine berühmte Kopistenschule gegründet, der die Codices-Manuskripte und die Voronetz-Psalter entstammen. Wegen Zerwürfnissen mit dem Nachfolger von Petru Rareșhatte sich dieser schon 1552 aus dem Amt zurückgezogen. Er starb im Februar 1570 im biblischen Alter von 90 Jahren. So vollzieht der große Kirchenmann schließlich selbst die von ihm bildhaft inszenierte Seelenreise: Unter dem Fresko des Jüngsten Gerichts wird sein Sarg ins Innere der Kirche getragen. 

...bis zum Ende der Zeit

Maica Elena verweist auf das Band mit den Tierkreiszeichen darüber: Mit dem Horoskop haben sie wenig zu tun, sie suggerieren die gigantische Himmelsuhr, die den Lauf der Zeit bestimmt.  An beiden Enden rollen Engel nun das Zeitband auf. Mit dem Tode endet die irdische Zeit. Dahinter liegt eine neue Welt mit ihrer eigenen Zeit... 

Die Sonne ist  fast untergegangen. Am Ausgang, unter dem Glockenturm, fliegen possierliche Meisen zutraulich auf ausgestreckte Hände, um Brotkrumen aufzupicken. Gleich wird Maica Elena das neue, erst im letzten September eröffnete Museum schließen und sich zum Abendgebet zurückziehen... 533 Jahre nach der Errichtung des Klosters, 30 Jahre nach der Wiederaufnahme des Klosterlebens nach dem Kommunismus. Dieselbe meditative Routine, tagein, tagaus. Wie zu Zeiten Stefans des Großen.